Was für eine Gesellschaft wollen wir eigentlich sein? Eine mutige? Eine getriebene? Eine ängstliche? Eine solidarische? Oder gar eine gespaltene? Wobei letzteres niemand ernsthaft wollen kann. Trotzdem ist es uns in den vergangenen Jahren ganz gut gelungen, uns sehr oft auseinanderzudividieren. Und das war nicht nur das böse Internet. Der gesellschaftliche Zusammenhalt ist gerade während der Pandemie messbar zurückgegangen, wie eine Studie der Bertelsmann-Stiftung über Baden-Württemberg, veröffentlicht im vergangenen Sommer, gezeigt hat.
Zurückgegangen ist demnach auch das Vertrauen gegenüber Institutionen, Politikern, Gerichten und der Polizei. Und zwar um zehn Prozent. Nicht nur Wissenschaftler fragen sich schon länger, woher dieser Entwicklung rührt – und was mit dem unsichtbaren Klebstoff in der Gesellschaft passiert ist, der uns viele Krisen zusammen hat überstehen lassen. Womit wir bei der Fasnacht wären.
Man muss kein glühender Karnevalist sein, um zu erkennen, dass es auch dieses Brauchtum ist, das über Jahrzehnte und sogar Jahrhunderte in der Lage war, Menschen unabhängig von Herkunft, Geschlecht, gesellschaftlichem Rang und Alter zusammenzubringen. Das schaffte Verständnis und machte Konversation über Milieus hinweg möglich. Seit Corona hat es keine gewohnte Fasnacht mehr gegeben. Und jetzt, da so etwas wie Normalität einkehren könnte, machen höhere Anforderungen an Sicherheit kleinen Vereinen das Leben so schwer, dass sie vor der Existenzfrage stehen. Die Straßenfasnacht in Rheinland-Pfalz verhungert in diesen Wochen teilweise an einem ausgestreckten Arm, der Polizeiordnungsbehördengesetz (POG) heißt.
Dass Baden-Württemberg weniger strenge Auflagen macht, verwundert fast. Links des Rheins sorgt nun das POG dafür, dass Fasnachtszüge in kleinen Gemeinden und sogar größeren Städten ohne hohe Investitionen in Sicherheitskonzepte undenkbar werden. Wir reden über Summen, die mindestens im fünfstelligen Bereich liegen. Die Politik will sich absichern gegen die Gefahren, die aus Extremismus, Alkoholwahn oder Dummheit resultieren. Verständlich einerseits. Andererseits: Ist der Schaden, den die Gesellschaft nimmt, nicht letztlich größer, wenn alle nur noch von einer diffusen Angst gesteuert sind und der Klebstoff schwindet? Die Landespolitiker müssen da sensibler sein und im Stuttgarter Innenministerium sollte man bloß nicht dieselben Fehler begehen, wie sie in Mainz bereits gemacht wurden.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Straßenfasnacht ist Klebstoff für die Gesellschaft