Kommentar Kommunalwahl in NRW: Kein Grund zur Erleichterung, Ausreden helfen nur der AfD

Es war die erste Wahl, seit die neue Bundesregierung im Amt ist. Die Kommunalwahlen in NRW galten als Stimmungstest. Warum dieser auch für den Südwesten entscheidend ist, sagt Miriam Scharlibbe.

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Miriam Scharlibbe
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„Min deern, so ist das Leben. Manchmal gewinnt man, manchmal verliert man.“ Ich schätze, genau das würde mein Großvater sagen, der längst verstorbene Bergmann aus dem Ruhrgebiet, hätte er gestern Abend vor seinem alten Röhrenfernseher die Hochrechnungen zu den Ergebnissen der Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen verfolgen können. „Mein Mädchen“, lass den Kopf nicht hängen. „So schlimm ist es doch gar nicht gekommen.“

Nicht auf Plattdeutsch und mit anderen Worten, aber doch ganz ähnlich ist die Botschaft vieler Kommunal-, Landes- und Bundespolitiker, die in diesen Stunden republikweit verkündet wird.

Relativierungen, Beschwichtigungen und Phrasen sind es, die die politischen Nachrichten zu Wochenbeginn prägen.

Die CDU konnte ihr Ergebnis behaupten und steht besser da als im Bund. Die SPD hat nicht so viel verloren, wie man es mal erwartet hat. Die Grünen sind doch noch in vielen großen Städten in die Stichwahlen gekommen. Und die AfD hat nicht so viele Stimmen geholt, wie bei der Bundestagswahl.

Relativierungen, Beschwichtigungen und Phrasen sind es, die die politischen Nachrichten zu Wochenbeginn prägen. Eine diffuse Stimmung von „es ist irgendwie gerade nichts richtig gut in diesem Land, aber es könnte auch alles noch viel schlimmer sein“ macht sich breit. Und sie wandert über die Westachse vom Norden in den Süden.

Ich identifiziere mich als Norddeutsche, aber aufgewachsen bin ich in Nordrhein-Westfalen. Meine Wurzeln liegen im Ruhrgebiet. Mein Großvater verließ vor langer Zeit seine geliebte Ostsee, um im Westen das Glück zu finden. Gesucht hat er es lange unter Tage. Als Bergmann hat er eine der schwersten Arbeiten gemacht, die sich ein Mensch nur vorstellen kann, um seine Frau und seine vier Kinder zu ernähren. Bis ihn eines Tages eine Lore überfuhr und er sich drei Beine brach: „Das linke Bein, das rechte Bein und das Nasenbein.“

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Unzählige Male hat er mir als Kind diese Geschichte erzählt und dabei seinen Optimismus nicht verloren. Bei meinem Opa war nämlich mit „alles halb so wild“ gemeint, dass man immer wieder aufstehen muss, um für das zu kämpfen, was man liebt.

Ich liebe die Demokratie, die mir eine Kindheit in Frieden, die Pressefreiheit und damit meinen Beruf und schließlich auch die große Liebe geschenkt hat.

Darum beunruhigen mich die Ergebnisse der Wahlen in Nordrhein-Westfalen sehr. Und noch mehr, dass so viele Politiker im Westen nicht ausreichend beunruhigt sind.

Denn ja, diese Kommunalwahlen, die gefühlt weit weg in Düsseldorf, Essen und Bielefeld stattgefunden haben, haben eine Menge zu tun mit dem Leben der Menschen in Mannheim, Schwetzingen oder Bensheim. Auch wenn wir das nicht wahrhaben wollen.

Sie könnten ein Blick in die Glaskugel sein, eine Vorschau auf das, was auch Baden-Württemberg erwarten könnte: Vertrauensverluste in die etablierten Parteien, eine Verdreifachung der Stimmen für die AfD, lange und hoffnungslose Gesichter bei den Demokraten.

Da, wo viele Menschen leben, gibt es auch viel Konfliktpotential und viele Gefühle.

Denn es gibt sie durchaus, die Gemeinsamkeiten im Westen. Zwar liegt Nordrhein-Westfalen mit großem Abstand unangefochten auf Platz 1 der bevölkerungsreichsten Bundesländer, aber nach den Bayern schließt Baden-Württemberg direkt auf Platz 3 an. Und da, wo viele Menschen leben, gibt es auch viel Konfliktpotential und viele Gefühle.

Da ist zum einen das Gefühl, in der Lotterie des Lebens zu verlieren, immer und immer wieder. Das trifft besonders auf Regionen zu, die es einst durch harte Arbeit geschafft haben, sich selbst zu neuem Glanz zu verhelfen. Das Ruhrgebiet, gebaut aus Stahl und Schweiß, geprägt durch Arbeiterfamilien, Herzlichkeit und einen Sinn für ein Miteinander. Die so oft gerühmte Herzkammer der Sozialdemokratie ist schon seit Jahren angeschlagen. Jetzt einmal mehr: Während in Ludwigshafen der AfD-Kandidat gar nicht erst zur Bürgermeisterwahl zugelassen wurde, haben es die AfD-Männer in Gelsenkirchen, Duisburg und Hagen in die Stichwahlen um den Chefsessel im Rathaus geschafft.

Und auch, wenn alle Prognosen es für unwahrscheinlich halten, dass die AfD eines dieser Duelle in zwei Wochen gewinnen könnte, verstärkt diese Ausgangslage ein anderes sich ausbreitendes Gefühl, dass wir auch im Südwesten kennen: Angst.

Lokalpolitik fehlt es an Sichtbarkeit.

Angst um die eigene Zukunft, Angst um die Sicherheit unserer Kinder, Angst davor, dass alles noch schwerer würden könnte - es ist dieses Gefühl, mit dem die AfD spielt und auf dem sie Wahlerfolge aufbaut. Und während CDU, SPD und Grüne noch von Protestwählern reden, freut sich die AfD-Spitze aus NRW über eine sich „vermeintlich zementierende Wählerschaft“.

Warum sollte es uns in Mannheim oder Stuttgart in wenigen Jahren anders ergehen? Wir haben ähnliche strukturelle Herausforderungen: Starke Industriezweige, die unter wirtschaftlichem Druck stehen, zu wenig bezahlbaren Wohnraum, sich verhärtende politische und religiöse Fronten, immer weniger Mit- und mehr Gegeneinander. Zu viele Politiker, die beschwichtigen, auf Statistiken verweisen („Wir leben in einem sehr sicheren Bundesland.“) und die Sorgen der Bürger entweder nicht ernst nehmen oder es nicht schaffen glaubhaft zu vermitteln, dass sie an Lösungen arbeiten.

Aber wie könnten solche Lösungen aussehen? Sie müssen vor allem eines sein: Konkret. Und sie starten mit Begegnungen. Denn Lokalpolitik fehlt es an Sichtbarkeit. Wir Bürger wissen eigentlich genau, dass das, was in den Rathäusern entschieden wird, meistens mehr direkte Auswirkungen auf unser Leben hat als die Nachrichten, um die sich die Tagesschau dreht. Aber seien Sie mal ehrlich: Haben Sie schon einmal eine Bürgersprechstunde besucht? Oder gar dem öffentlichen Teil einer Ratssitzung gelauscht? Wissen Sie, wer in Ihrer Stadt in welchen Ausschüssen Gelder freigibt oder Investitionen ablehnt?

Die Menschen brauchen jetzt ein besseres Leben.

Wie denn auch? Politiker und Politikerinnen lächeln uns eigentlich nur dann von Plakatwänden entgegen, wenn es für sie darum geht, Wahlen zu gewinnen. In Mannheim hängen derzeit keine Plakate an den Laternen – mit einer Ausnahme: Stadtrat Julien Ferrat lädt zur Bürgersprechstunde, der Mann, der seit Wochen mit FKK-Ideen für Aufsehen sorgt. Muss man nicht mögen. Aber immerhin schenkt er den Bürgern Gehör.

Davon brauchen wir dringend mehr – also nicht von den Konzepten zur Freikörperkultur, sehr wohl aber mutige Politiker und Politikerinnen, die zu den Wählern gehen. Auf die Marktplätze, in die Benz-Barracken (ohne Kamera), an die Werkbänke.

Die nächste Wahl im Südwesten ist die Landtagswahl im kommenden März. Das wird unser Stimmungstest. Denn die Kommunalwahlen, also die Entscheidungen über Kreistage, Gemeinderäte und Regionalversammlung fallen in Baden-Württemberg auf das Frühjahr 2029. Dann wird aber auch schon wieder im Bund gewählt.

Wir haben keine Zeit mehr für Ausreden. Die helfen nur der AfD. Die Menschen brauchen jetzt ein besseres Leben. Und überhaupt: Mannheim hat bereits mit Flächenversiegelung zu kämpfen. Eine zementierte rechte Wählerschaft können wir wirklich nicht gebrauchen.

Chefredaktion Chefredakteurin des "Mannheimer Morgen"

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