Debatte

Warum braucht die neue Regierung unser Vertrauen, Herr Christ?

Die noch junge Bundesregierung braucht nun unbedingt unseren Vertrauensvorschuss, sagt Harald Christ. Ein Gastbeitrag.

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Harald Christ
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Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) spricht bei seiner Regierungserklärung am 14. Mai im Plenum des Bundestags. © Kay Nietfeld/dpa

Man könnte sich die Sache ziemlich einfach machen mit Blick auf die fehlende Disziplin der Regierungsfraktionen ausgerechnet zur Kanzlerwahl: Diese neue Regierung startet mit einem Vertrauensdefizit in die neue Legislatur. Und das ausgerechnet jetzt, wo die Mitte unseres Landes zunehmend zu erodieren droht.

So treffend diese Analyse im Detail auch sein mag, sie übersieht eine einfache Wahrheit: Diese Regierung muss – allen Einwänden zum Trotz – Erfolg haben. Und deshalb braucht sie, braucht dieses Kabinett einen Vertrauensvorschuss.

Merz, Klingbeil und die Koalition aus CDU, CSU und SPD brauchen jetzt eine faire Chance, das ins Werk zu setzen, was sie sich vorgenommen haben.

Denn erstens hat jede neue Regierung ihre Chance verdient. Und zweitens steht die Frage im Raum, wer denn sonst die Verantwortung übernehmen soll, sofern wir unser Land nicht Alice Weidel, Björn Höcke und dem Rest der rechtsextremen Krawalltruppe ausliefern wollen.

Die nüchterne Erkenntnis lautet: Man kann nur zu der Musik tanzen, die auf der Party gespielt wird.

Merz, Klingbeil und die Koalition aus CDU, CSU und SPD brauchen jetzt eine faire Chance, das ins Werk zu setzen, was sie sich vorgenommen haben. Und sie haben es verdient, dass wir ihnen unterstellen, das Beste für dieses Land zu wollen.

Wichtiges Infrastrukturprojekt Riedbahn

Überdies stehen die Chancen gar nicht so schlecht, dass die neue Truppe tatsächlich einiges voranbringt. Blickt man einmal auf die Metropolregionen im Südwesten des Landes, dann könnten beispielsweise mit den bereits beschlossenen Mitteln aus dem Sondervermögen Infrastruktur wichtige Impulse gesetzt werden. Mit dem Abschluss der Sanierung der Riedbahn Ende 2024 konnte die Ampel-Regierung noch ein wichtiges Infrastrukturprojekt für die Rhein-Region umsetzen. Darauf lässt sich aufbauen.

Denn dieses zentrale (und, ja, auch längst überfällige) Projekt hat den Blick auf die Bedeutung des Raumes Mannheim/Ludwigshafen als Verkehrs- und Logistikknoten von internationaler Bedeutung gelenkt. Wenn der neuen Regierung jetzt noch die angekündigte Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren gelingt, wenn bereitgestellte Mittel zügig abgerufen und investiert werden, dann könnten die kommenden vier Jahre die notwendige Sanierung der Infrastruktur ein gutes Stück voranbringen.

Sicher, Gewissheiten gibt es – wie auch sonst im Leben – nicht. Aber die Chancen sind da. Und erste Weichen gestellt.

IPAI: Größter KI-Cluster in Europa

Gleiches gilt für die Bereiche der Digitalisierung und Innovation. Gerade das Land Baden-Württemberg hat bereits in den vergangenen Jahren eine Vorreiterrolle bei Entwicklung und Einsatz digitaler Systeme in Verwaltung und Administration übernommen. Und gleichzeitig ergeben sich etwa mit dem in Heilbronn entstehenden IPAI, dem größten KI-Cluster in Europa, neue Möglichkeiten für das Land und die Region. Dass sich hier in Baden-Württemberg so viel bewegt, hat auch eine geopolitische Relevanz für Deutschland: Denn wenn wir daten-souveräner und unabhängiger von US-Konzernen werden wollen, brauchen wir sowohl eine lebendige Digitalwirtschaft als auch eine mutige und zielgerichtete Politik.

Wenn es die neue Bundesregierung also ernst meint, wofür die Schaffung des neuen Ministeriums für Digitales und Staatsmodernisierung ebenso spricht wie dessen Besetzung mit einem parteilosen Wirtschaftsprofi ersten Ranges, dann kann auch die neue Regierung bei diesem zentralen Zukunftsthema starke Impulse setzen.

Dass die bisherige praktische Regierungserfahrung der neuen Mannschaft in Summe ungewöhnlich überschaubar ist, muss kein strategisches Defizit sein.

Wer die ersten Amtstage nach dem Schockmoment des vergangenen Dienstags vergangener Woche beobachtet hat, der konnte nicht übersehen, dass die handelnden Personen mit der gebotenen Ernsthaftigkeit, mit Vernunft und im Bewusstsein der Verantwortung, die auf ihnen lastet, ans Werk gehen. Merz´ erste Auslandsreisen nach Warschau und Paris und sein zügiges Telefonat mit Trump lassen hoffen, dass Deutschland seine Rolle in Europa und der Welt neu definiert. Ich bin mir sicher: Beteiligten ist klar, welche Konsequenzen ein Scheitern dieser Regierung für den Fortbestand der Demokratie, für die politische Identität Deutschlands und das liberale Europa als Ganzes hätte.

Dass die bisherige praktische Regierungserfahrung der neuen Mannschaft in Summe ungewöhnlich überschaubar ist, muss kein strategisches Defizit sein. Wir brauchen jetzt frische Ideen für die großen Themen. Denn was der Ampel oftmals fehlte, war die frische Idee, der Plan abseits der ausgetretenen politischen Trampelpfade.

Aber wohin das starre Festhalten an überkommenen Gewissheiten führt, ist nun allabendlich in der Tagesschau zu verfolgen: Wirtschaftlich steckt Deutschland – vor allem auch im Vergleich zu den Nachbarn in der EU – gefühlt in einer Dauerdepression, ist bei wichtigen internationalen Indizes (Bildungssystem, Investitionen in Infrastruktur, Digitalisierung) allenfalls Mittelmaß. Gleichwohl wird niemand von der neuen Regierung erwarten, mit einem Schlag alle gordischen Knoten zu lösen. Aber gleich in den ersten Monaten die richtigen Impulse zu setzen, die Richtung erkennbar werden lassen – das kann, ja, das muss man erwarten.

Strategien gegen die chronische Unterfinanzierung

Dazu zählt zum Beispiel auch, den Kommunen glaubhaft zu signalisieren, nach gemeinsamen Strategien gegen die chronische Unterfinanzierung zu suchen. Jahrzehnte lang war es eine Unsitte in Berlin (und davor auch schon in Bonn), unter dem falschen Etikett der Subsidiarität Kosten auf die Länder und am Ende der Nahrungskette auf die Städte und Gemeinden abzuwälzen. Städte wie Ludwigshafen können hiervon nicht nur ein Lied singen. Es war die viel gescholtene Ampelkoalition, die mit der Sonderförderung für Schulen mit besonderem Bedarf den ersten Schritt getan hat, dieses Problem anzugehen – ein Weg, den beherzt weiter zu beschreiten, nun Aufgabe der neuen Regierung sein wird.

Das kann und wird aber nur funktionieren, wenn auch die Länder bereit sind, eigene Interessen im Zweifel hintanzustellen. Insbesondere die neue Bildungsministerin wird hier dicke Bretter zu bohren haben. Dass mit Karin Prien eine erfahrene Landesministerin das Amt übernimmt, gibt berechtigten Anlass zur Hoffnung für dieses auch in Zukunft wichtige Schlüsselressort.

Zum Gastautor



Harald Christ wurde am 3. Februar 1972 in Worms geboren. Er ist Unternehmer und Geschäftsführender Gesellschafter der durch ihn gegründeten Beratungsfirma Christ & Company.

Politisch war er bis 2019 in der SPD aktiv. Er war unter anderem im Schattenkabinett des SPD-Kanzlerkandidaten Frank Walter Steinmeier Kandidat als Bundeswirtschaftsminister. Zudem war er Mitbegründer des Wirtschaftsforums der SPD sowie Mittelstandsbeauftragter des Parteivorstandes der SPD.

Er wechselte 2020 zur FDP und war von September 2020 bis April 2022 Bundesschatzmeister der Liberalen. Im Dezember 2024 trat er im Zuge der D-Day-Affäre aus der FDP aus.

Christ spendete 2023 mehrere Hunderttausend Euro an SPD, FDP, CDU und Grüne – zur „Stärkung der Parteiendemokratie“.

Über die Dimension der Herausforderungen, die auf die Chefs der klassischen Ressorts zukommen, ist bereits viel geschrieben und gesendet worden. Über Erfolg und Misserfolg entscheiden jedoch nicht nur die Ressorts Finanzen, Wirtschaft und Verteidigung. Um in den Augen der Bürgerinnen und Bürger Kredit zu erhalten, um verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen, sind Initiativen im ganz praktischen Lebensumfeld der Menschen mindestens genauso wichtig: Wie entwickelt sich die Wohnsituation in den Ballungsräumen? Wird Wohneigentum wieder erschwinglich? Bekomme ich zeitnah einen Termin beim Bürgeramt? Oder beim Facharzt?

Nun wäre es unfair, eine Bundesregierung für all diese Probleme direkt verantwortlich zu machen. Notwendig ist allerdings zweierlei: Vorhandene Defizite müssen ohne Beschönigen benannt und Verantwortlichkeiten identifiziert werden. Und: Es müssen die politischen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die eine Lösung des Problemstaus ermöglichen, erleichtern und beschleunigen.

Immunisierung gegen die Flötentöne der Rechtsextremen und Populisten

Damit ist im Übrigen auch die Antwort auf die Frage nach einem wirksamen Mittel gegen das Abschmelzen der demokratischen Mitte in der Wählergunst gegeben. Wenn die Menschen den Eindruck haben, dass ihre ganz individuellen Bedürfnisse wahrgenommen und die Umstände sich (zumindest subjektiv) verbessern, dann ist das die beste und vielleicht einzig wirksame Immunisierung gegen die Flötentöne der Rechtsextremen und Populisten.

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Keine Frage – die neue Regierung und die sie tragenden Parteien stehen vor einer wahren Herkules-Aufgabe. Und ihre Startbedingungen sind so heikel wie kaum je in der fast 80-jährigen Geschichte der Bundesrepublik. Aber genau in dieser Herausforderung liegt auch die Chance: Es mit neuen Köpfen und neuen Ideen besser zu machen als von den Bürgerinnen und Bürgern befürchtet oder erwartet.

Denn Politik beruht ähnlich wie das Geschehen an der Börse zu einem guten Teil auf Psychologie: Entscheidend ist weniger die tatsächliche Performance eines Unternehmens – sondern die Frage, ob die Erwartungen enttäuscht, erfüllt oder gar übertroffen werden.

So gesehen lohnt sich ein Vertrauens-Investment in den neuen Kanzler und seine Regierung. Es geht schließlich um die Zukunftsfähigkeit unseres Landes.

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