Debatte

Warum müssen wir offener über das Thema psychische Gewalt sprechen?

Häusliche Gewalt, das ist nicht nur körperliche Misshandlung. In vielen Fällen findet sie auf emotionaler Ebene statt: Demütigungen und Entwertungen gehören dann zum Alltag. Ein gesellschaftliches Problem, das in Deutschland meist bagatellisiert wird. Ein Gastbeitrag

Von 
Caroline Wenzel
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Betroffene von psychischer Gewalt isolieren sich meist von ihrem Umfeld, fühlen sich allein, werden krank – und suchen doch die Schuld bei sich selbst. © Istock/Privat

„Erst jetzt merke ich, in wie vielen Lebensbereichen diese Partnerschaft nachhaltige Zerstörung angerichtet hat. Wenn man mich fragen würde, wie einschneidend das ganze mein Leben verändert hat, auf einer Skala von Null bis Zehn, würde ich sagen: Zwölf.“

Diese Bilanz zieht Eva, die eigentlich anders heißt, nach ihrer Ehe, in der sie mehr als 15 Jahre lang psychische Gewalt erlebte. Von der lebenslustigen und erfolgreichen Frau, die sie früher war, ist am Ende kaum noch etwas übrig. Stattdessen: schwere Depressionen, Panikattacken, Selbstmordgedanken. Im Laufe der Beziehung schwächelt nicht nur ihre Seele, sondern auch der Körper. Immer wieder wird sie krank, von Migräneattacken bis hin zu Magengeschwüren.

Dabei hatte diese Partnerschaft so intensiv begonnen wie keine zuvor in ihrem Leben. Ein Blitzeinschlag, die ersten Monate ein emotionales Feuerwerk. Marco trägt sie auf Händen, überhäuft sie mit Aufmerksamkeiten, gibt den Beschützer. Doch kurz nachdem er bei ihr eingezogen ist, schleicht sich in den Honeymoon eine rätselhafte Kälte, eine latente Feindseligkeit ein.

„Ich war gefangen in einem Netz aus übertriebenen Aufmerksamkeiten auf der einen Seite und zunehmenden, unvorhersehbaren Demütigungen, Beleidigungen und Entwertungen auf der anderen“, beschreibt Eva die typische Systematik von Beziehungen, die von psychischer Gewalt geprägt sind. Die Betroffenen hoffen auf die schönen, intensiven Momente, doch die werden immer seltener. Sie suchen die Schuld dafür bei sich selbst, rutschen in eine emotionale Abhängigkeit. Die Beziehung zermürbt sie, versetzt sie in einem permanenten Stresszustand, isoliert sie von ihrem Umfeld. Dennoch bleiben sie oft viele Jahre darin gefangen.

Die psychische Gewalt sei schlimmer gewesen als die Schläge, sagen viele Betroffene, die beide Formen häuslicher Gewalt erlebt haben. Viele von ihnen leiden wie Eva hinterher unter schweren Depressionen oder posttraumatischen Belastungsstörungen. Dennoch werden die Folgen dieser subtilen Gewaltform fast immer unterschätzt oder bagatellisiert, nicht nur im persönlichen Umfeld der Betroffenen, sondern häufig auch in Arztpraxen, bei der Polizei, vor Gericht, bei Behörden.

Erst, wenn die psychische Gewalt in körperliche Gewalt umschlägt, oft nach vielen Jahren, meistens, wenn die Betroffenen versuchen, sich der Kontrolle ihres Partners zu entziehen oder sich zu trennen, ist die öffentliche Empörung groß. Die Schlagzeilen suggerieren: eine „Beziehungstat“, ein „Familiendrama“, vielleicht aus Eifersucht oder im Affekt, jedenfalls Privatsache.

Dabei ist aus der kriminologischen Forschung längst bekannt: Beziehungstaten aus dem Affekt heraus gibt es nicht. Es gehen in der Regel klare Anzeichen voraus, typische Muster psychischer Gewalt. Die Gewaltausübenden versuchen, Macht und Kontrolle über die Betroffenen zu gewinnen. Würde man hier früher und mit geschultem Blick hinschauen, dann ließen sich sicherlich so manche körperliche Übergriffe und Morde verhindern.

Dazu müsste jedoch die gesellschaftliche und politische Bereitschaft vorhanden sein, die schwerwiegenden Folgen psychischer Gewalt ernstzunehmen. Nur wenn Ärzte, Polizei und Mitarbeitende von Gerichten und Behörden geschult werden, wenn ihr Blick für die typischen Systematiken geschärft wird, kann dieser häufigsten Form häuslicher Gewalt wirkungsvoll begegnet werden.

Noch fehlt es in Deutschland dafür an der nötigen Entschlossenheit. Im Oktober 2022 appellierte eine unabhängige Expertengruppe des Europarates nachdrücklich an die deutschen Behörden, psychische Gewalttaten zu untersuchen, strafrechtlich zu verfolgen und wirksam zu bestrafen. Die Gruppe, die für die Überwachung der Umsetzung der sogenannten Istanbul-Konvention zuständig ist (Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt), ruft Deutschland dazu auf, einen eigenen Straftatbestand für psychische Gewalt zu schaffen, so wie er beispielsweise in Frankreich längst existiert.

Einige Länder haben in den letzten Jahren ihre Gesetze geändert, psychische Gewalt dabei über den Begriff der Coercive Control (Zwangskontrolle) konkreter fassbar gemacht – und unter Strafe gestellt.

Die deutsche Politik lässt das offenbar kalt. Psychische Gewalt in Partnerschaften sei durch die bestehende Gesetzgebung mit abgedeckt, erklärte das Bundesfamilienministerium Anfang des Jahres auf Anfrage. In der Praxis werden die Muster psychischer Gewalt allerdings weder durch die Straftatbestände der Nötigung, der Bedrohung oder der Körperverletzung noch durch den Stalking-Paragrafen oder das Gewaltschutzgesetz hinreichend erfasst. Und daran scheint sich erst einmal auch nichts zu ändern.

Bundesfamilienministerin Lisa Paus, SPD, hat stattdessen mehr Geld für Frauenhäuser angekündigt. Das ist sehr wichtig für Frauen, die bereits körperliche Gewalt erleiden. In Hinblick auf psychische Gewalt greift dieses Versprechen allerdings zu kurz, ist diese Gewaltform doch kein „Frauenthema“, sondern ein gesamtgesellschaftliches Problem.

Männer und Frauen üben etwa gleich häufig psychische Gewalt in Beziehungen aus, so Studien, also gibt es auf beiden Seiten Betroffene. Männer tun sich dabei in der Regel deutlich schwerer, darüber zu sprechen. Zu groß ist ihre Scham, ihre Angst, als Weichei dazustehen.

Und häufig ist diese Angst auch berechtigt, berichten betroffene Männer wie Anis. Nach jahrelanger psychischer Gewalt ging seine Ex-Frau mit einem Messer auf ihn los und er daraufhin zur Polizei, was ihn viel Überwindung kostete. „Ich fühlte mich nicht ernstgenommen von den Polizisten und fragte mich, ob sie jemals eine Schulung für dieses Thema bekommen hatten“, erzählt er. „Könnt Ihr euer Problem nicht selbst lösen, schienen sie zu denken.“ Hilfsangebote musste er sich selbst im Internet suchen. „Die Polizei hat mir nicht gesagt, wohin ich mich wenden konnte, um psychologische oder rechtliche Unterstützung zu bekommen.“

Mittlerweile gibt es einige Männerberatungsstellen, meist erst einmal auf eine gewisse Zeit finanziert, nicht dauerhaft. Der Zulauf ist groß, auch zum bundesweiten Hilfetelefon für Männer, das nur von wenigen Bundesländern gefördert wird. Ein flächendeckendes, verlässlich institutionell verankertes Hilfsangebot fehlt, sowohl für Frauen als auch für Männer.

Auch diesen Zustand kritisiert die Expertengruppe des Europarates: Es gebe viele Aktionspläne in Bundesländern, aber keine einheitliche Linie, keine nationale Strategie beim Thema häusliche und psychische Gewalt. Außerdem zu wenig Forschung und ein uneinheitliches Ausbildungsniveau der verschiedenen Fachkräfte, die mit Betroffenen zu tun haben. Es müsse sichergestellt werden, dass alle relevanten Berufsgruppen geschult werden.

Vor allem an den Familiengerichten scheinen die schwerwiegenden Auswirkungen langjähriger psychischer Gewalt weitgehend unbekannt zu sein. Nach der Trennung wird das Umgangsrecht in der Regel als wichtiger angesehen als die körperliche und seelische Unversehrtheit der Eltern. Ein Prozedere, das Betroffene noch weiter beschädigen kann.

Das hat Maria erlebt. „Die psychische Gewalt und die körperliche Gewalt, die stattgefunden hatten, interessierten die Richterin überhaupt nicht, sie wurden unter den Teppich gekehrt“, erzählt sie. „Auch in der Erziehungsberatungsstelle schien es niemanden zu interessieren, was in unserer Ehe alles vorgefallen war an Entwertungen, an Demütigungen, an Gewalt. Niemand dort schien diese Problematik zur Kenntnis nehmen zu wollen, niemand ging darauf ein.“

Dabei wäre es sehr wichtig, offen über das Thema zu sprechen, gerade wenn Kinder im Spiel sind. Denn psychische Gewalt hinterlässt nicht nur bei den Betroffenen selbst tiefe Spuren, sondern sie kann sich auch fortsetzen. „Die psychische Gewalt fängt in den Häusern und Wohnungen an“, befürchtet auch Anis, der betroffene Mann, der sich Gedanken um seine Tochter macht. „Die Kinder beobachten psychische oder körperliche Gewalt zwischen ihren Eltern, übernehmen sie womöglich und tragen sie nach draußen in die Gesellschaft. Oder sie werden später selbst zu Opfern.“

Es ist an der Zeit, wegzukommen vom Stückwerk, vom Flickenteppich in der Hilfslandschaft, von der Frau-Mann-Schiene. Nur, wenn wir alle, Privatpersonen, Institutionen und Politik, mit aufmerksamem, geschultem Blick hin- statt wegschauen, beim Thema psychische Gewalt, können wir wirkungsvoll gegen dieses gesamtgesellschaftliche Problem vorgehen.

Die Gastautorin

Caroline Wenzel ist Fernsehjournalistin. Seit 1997 arbeitet sie als Redakteurin und Filmautorin für den Südwestrundfunk, ARD und Arte aus dem In- und Ausland.

Sie ist Diplom-Psychologin mit den Schwerpunkten Klinische Psychologie und Kriminologie und lebt in Stuttgart und auf der griechischen Insel Chios.

Ihr Buch „Vom Traum zum Trauma. Psychische Gewalt in Partnerschaften“ ist im Hirzel Verlag erschienen.

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