"MM"-Debatte

Wie werden wir in Zukunft wohnen und leben, Frau Allmendinger und Herr Dorschel?

Vor allem die soziale Situation der Menschen bestimmt das Aussehen von städtischen Räumen, sagen Jutta Allmendinger und Robert Dorschel. Auch das ist etwas Gestaltbares. Ein Gastbeitrag.

Von 
Jutta Allmendinger, Robert Dorschel
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In ihrer Neujahrsansprache für 2018 hat Angela Merkel zu mehr sozialem Zusammenhalt aufgerufen. Die Bundeskanzlerin stellte fest, dass viele Menschen in Deutschland die Gesellschaft als zerrissen erleben: Zufriedenheit und Wohlstand auf der einen Seite stünden Ängste und ökonomische Sorgen auf der anderen Seite gegenüber.

Welche Entwicklungen im Bereich des Wohnens sprechen für diese Aussage? Und was kann man tun?

In Deutschland, wie auch weltweit, lässt sich ein Megatrend über die letzten 150 Jahre ausmachen: die Urbanisierung. Ursprünglich entfacht durch die Industrialisierung, hält die Entwicklung hin zum städtischen Zusammenleben nach wie vor an, trotz teilweiser Gegenbewegungen. In Städten bestehen Unterschiede nicht nur nebeneinander, sondern sie treffen direkt aufeinander und verschränken sich zuweilen. Denn: Städte sind soziale Räume.

Doch gerade dieses Miteinander an Unterschiedlichkeit ist mehrfach bedroht. Weltweit ist die räumliche Trennung verschiedener Bevölkerungsgruppen auf dem Vormarsch. Viele lateinamerikanische Großstädte wie etwa Mexico City zeugen davon: Oberschicht und Mittelschicht leben dort in sogenannten Gated Communities (zu deutsch etwa: gesicherte Wohnkomplexe).

Mitten in den Städten entstehen hohe Mauern und Stacheldrahtzäune, von privaten Sicherheitsdiensten bewacht. Oft beherbergen diese Viertel auch eigene private Schulen und diverse Versorgungseinrichtungen. Gated Communities sind nicht nur Ausdruck der räumlichen Zerklüftung einer Stadt, sie sind vor allem Ausdruck einer Fragmentierung des sozialen Raumes.

Auch in Deutschland entmischen sich die verschiedenen Bevölkerungsgruppen in den Städten. Durch die Gentrifizierung (bestimmte Form der Veränderung in Städten) erhöht sich die kulturelle Attraktivität bestimmter Wohnviertel, Mietwohnungen werden in Eigentum umgewandelt, die Mietpreise steigen. Es vollzieht sich ein Austausch von sozial schlechter gestellten Bevölkerungsgruppen durch zahlungskräftigere Mieter und Eigentümer. Der Wohnungsmarkt ist längst zu einer interessanten Anlageoption für diverse Fonds geworden. Wem gehört die Stadt? Diese Frage wird hier vom ökonomisch Stärkeren entschieden.

Doch das Miteinander wird nicht nur durch den Geldbeutel bedroht. Die Entmischung des städtischen Zusammenlebens erstreckt sich auf weitere Bereiche. So verändert sich das Zusammenleben zwischen Alt und Jung. Das Mehrgenerationen-Haus von früher wird zum Auslaufmodell. Altersgerechtes Wohnen, mitsamt der notwendigen Infrastruktur, wird nun in abgeschotteten Vierteln angeboten oder findet in Pflegeheimen statt.

Auch die Digitalisierung ordnet das menschliche Zusammenleben neu. Arbeit kann in vielen Wirtschaftszweigen immer öfter von zu Hause aus erledigt werden – mit der Folge, dass die Anzahl und Dichte der direkten Kontakte mit Kollegen und anderen Menschen abnimmt. Das Büro als Ort der Begegnung verliert an gesellschaftlicher Bedeutung. Internetunternehmen verändern auch den Alltag in der Stadt. Mit Amazon und anderen großen Anbietern werden viele Gänge in lokale Geschäfte überflüssig, angefangen beim Buchladen bis hin zum Kino. Supermärkte und Restaurants braucht es nicht mehr, die Ware kommt nach Hause, auch das fertige Essen.

Selbst die Wege durch den öffentlichen Raum werden für die meisten Menschen zum Zeitfenster für die Nutzung ihrer Smartphones. Der Blick für die Anderen, geschweige denn die kurze Unterhaltung mit Fremden, entfällt. Ein einvernehmliches Desinteresse von Menschen unterschiedlichen Alters, verschiedener Milieus und Schichten aneinander breitet sich aus.

Die Digitalisierung verändert auch den Tourismussektor gänzlich, und damit unsere Wohnviertel. So ermöglicht das Internetportal Airbnb eine alternative Unterkunft zu Hotels, indem man bei Privatpersonen unterkommen kann. Viele Menschen können sich so ab und zu etwas dazuverdienen. In Anbetracht steigender Mieten eine nachvollziehbare Praxis, die allerdings privaten Wohnraum kommerzialisiert. Nicht selten werden Wohnobjekte gänzlich zu privat-betriebenen Hotels umfunktioniert.

Solange die Touristenzahlen weiter steigen, wird das Problem des ohnehin knappen Angebots an preiswertem Wohnraum in Großstädten durch solche Geschäftsmodelle weiter verschärft. Zudem stellt sich die ernste Frage, welches sinnliche Verhältnis Menschen noch zu ihrem Lebensraum haben können, wenn sie ihren Wohnraum vermarkten müssen. Vor allem wenn aufgrund des temporär vermieteten Wohnraums auch die steten Nachbarn fehlen.

Wie werden die Menschen in Zukunft wohnen? Die Konturen sind umrissen: Die städtische Räume werden scharf entlang der sozialen und kulturellen Lage der Menschen geschnitten sein. Es entstehen Mauern gegen Arme, Fremde, Feinde. In städtischen Räumen werden wir auch Altersgrenzen sehen, als Antwort auf den unterschiedlichen Bedarf in der Jugend und im Alter. Gleichermaßen werden die eigenen Wohnungen wichtiger werden, da wir immer mehr Tätigkeiten nach Hause verlagern.

Dennoch gewinnen wir keine Privatheit, im Gegenteil. Die smarten urbanen Räume – sogenannte Liquid Cities – wissen viel von jedem Einzelnen. Und sie vermögen uns heute zu lenken, ohne dass wir protestieren. Das war 1987 noch anders, als die Volkszählung mit vergleichsweise harmlosen Fragen viele empörte.

Zurück zum sozialen Zusammenhalt. Wird er durch die Entmischung bedroht? Von den Sozialwissenschaften kommt ein klares „Ja“. Stereotype und Vorurteile können so lange leben und sich vermehren, wie wir ihnen keine Chance geben, dass sie widerlegt werden. Je mehr wir unter uns in den eigenen sozialen Kreisen bleiben, analog oder digital in unseren sozialen Netzwerken, so lange werden wir die eigene Meinung laufend verstärken. Wir treffen und reden eben meist mit Menschen, die uns ähnlich sind, uns nicht widersprechen und uns dadurch auch nichts lehren.

In der Stadt können wir eine Verdichtung vieler gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen und Konflikte sehen. In dieser Perspektive wäre 2030 eine Gesellschaft, aus der keine Gemeinschaft mehr erwachsen kann, die kein Entweichen aus vorgegeben Lagen ermöglicht, die sich selbst reproduziert. Die Wohlhabenden sehen die Armut nicht, die Zufriedenen nicht die Ängste vieler. Wie soll man sich da einigen auf ein gemeinsames demokratisches Dach?

Die gute Botschaft ist, dass diese Projektion kein Selbstläufer ist. Wie die Zukunft des Wohnens aussehen wird, bestimmen wir alle heute. Denn es liegt in unserer Hand, und in den Händen der von uns bestimmten Politik, die Gentrifizierung zu stoppen, wirksame Mietpreisbremsen einzuziehen, kommunalen und sozialen Wohnungsbau anzubieten, auch dort, wo die Reichen wohnen. Wir können Auswüchse von Airbnb bremsen mit effektiver Regulierung und entsprechend hohen Steuern. Wir können Mehrgenerationenwohnen ermöglichen und die Pflege von Älteren in unsere Mitte nehmen. Die nötige Architektur kennen wir. Wir müssen stärker auf die Schulausbildung unserer Kinder achten. Wir brauchen Schulklassen, die die Vielfalt der Gesellschaft widerspiegeln. Und wir sollten darüber nachdenken, ein verpflichtendes soziales Jahr einzuführen. Ein soziales Pflichtjahr nach der Schule beispielsweise würde jungen Leuten in intensiven Kontakt mit Menschen bringen, denen sie sonst nicht begegnen würden.

Zusätzlich sollten wir darüber nachdenken, wie wir öffentlichen Verkehrsmittel in fließende Stätten der Begegnung verwandeln können. Die verschiedensten Leute sitzen dort ja bereits zusammen.

Schließlich ist auch die Digitalisierung kein unkontrollierbarer Prozess, sondern etwas Gestaltbares, eine Technik mit viel Potenzial, die wir sozial austarieren können.

Wir leben in Zeiten der Veränderungen. Macht-und Herrschaftsverhältnisse bleiben davon nicht unberührt. Das bedeutet Chancen und Risiken zugleich. Wer über die Relevanz des Zusammenhalts unserer Gesellschaft redet, darf über soziale Ungleichheit in unseren Wohnvierteln nicht schweigen.

Die Gastautoren

  • Jutta Allmendinger ist Präsidentin des Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und Professorin für Bildungssoziologie und Arbeitsmarktforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin.
  • Sie wurde 1956 in Mannheim geboren, wo sie auch studierte.
  • Robert Dorschel ist studentischer Mitarbeiter am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.
  • Er studiert Sozialwissenschaften im Master an der Humboldt-Universität zu Berlin.

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