Es ist schwül und stickig draußen, und wie fast jeden Morgen will der kleine Milo heute auf keinen Fall in die Kita. Er weigert sich strikt, Kleidung anzuziehen und schreit und weint unentwegt. Er versteht nicht, was seine Mama von ihm will und wird immer wütender. Eine solche Situation kennen viele Eltern, und doch ist es hier anders. Mutter Jessi schaut aus dem Fenster und beobachtet ihre Nachbarin, die mit ihren beiden Kindern mit dem Fahrrad zur Schule fährt. Für einen kurzen Augenblick wünscht Jessi sich, dass sie auch mit Milo zur Schule radeln könnte. Aber ihr Sohn wird nicht so schnell mit dem Fahrrad fahren können. Ein Bein ist bei ihm fehlgebildet und muss wahrscheinlich irgendwann amputiert werden. Er wird vermutlich nie in seinem Leben mit den anderen Kindern um die Häuser toben. Milo hat schon viele Operationen hinter sich und begreift mit 3,5 Jahren so langsam, was es bedeutet, nicht mit anderen Kindern gleichgestellt zu sein. Das tut Jessi weh. Schnell schiebt sie den Gedanken beiseite und konzentriert sich auf das Hier und Jetzt.
Es gibt immer wieder Hürden, die überwunden werden müssen, um das Leben ihres Kindes zu erleichtern
Eltern von Kindern, die durch Behinderungen oder schwere Erkrankungen pflegebedürftig sind, erleben täglich Situationen, die sie an ihre Grenzen bringen. Für sie ist es extrem belastend, dass ihr Kind mit so vielen Herausforderungen konfrontiert wird und nicht wie andere Kinder leben kann. Zu dieser emotionalen Belastung kommt fast immer hinzu, dass die Eltern für Unterstützung und Hilfe hart kämpfen müssen. Nichts wird ihnen leicht gemacht. Jessi fühlt fast täglich, dass ihr Kind nicht als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft anerkannt wird, und sie oft am Rande dieser stehen. Es gibt immer wieder Hürden, die überwunden werden müssen, um das Leben ihres Kindes zu erleichtern und es bei der Entwicklung zu unterstützen.
Und Jessi ist nicht die Einzige, die sich von der Gesellschaft im Stich gelassen fühlt. Obwohl die Zahl der pflegebedürftigen Kinder und Jugendlichen in Deutschland unaufhaltsam ansteigt – von 187 000 im Jahr 2019 zu 272 000 im Jahr 2021, gibt es nach wie vor wenig Informationen oder passende Entlastungsangebote. Als größte Belastung wird von den Eltern die meist umständliche und wenig unterstützende Bürokratie empfunden. Das fand eine aktuelle Studie des Online-Portals pflege.de heraus, für die 510 Angehörige von Kindern und Jugendlichen mit Pflegebedarf befragt wurden.
Die Gastautorin
Martina Rosenberg ist „Spiegel“-Bestsellerautorin, Journalistin und arbeitet als Chefredakteurin bei dem Ratgeberportal pflege.de. Sie lebt mit ihrer Familie südlich von München und hat rund neun Jahre ihre Eltern gepflegt.
Mit ihrem Buch „Mutter, wann stirbst du endlich“ hat sie große mediale und gesellschaftliche Aufmerksamkeit erzeugt. Ihr Anliegen ist es seit mehr als zehn Jahren, auf die Probleme und oft unbeobachteten Sorgen und Nöte der pflegenden Angehörigen aufmerksam zu machen.
Info: Mehr Infos und die Studie gibt es unter www.pflege.de
Nun fragt man sich, warum trotz steigender Tendenz sich die meisten pflegenden Eltern im Stich gelassen fühlen. Haben wir nicht genug Angebote und Inklusionsprojekte? Ist es nicht so, dass durch die Einführung von Pflegegraden und vielfältiger Pflegeleistungen auch die Kinder mit Pflegebedarf gut versorgt sind? Was fehlt denn noch?
„Eigentlich fehlt es an allem“, meint Jessi. Sie vermisste nach der Geburt von Milo eine umfangreiche Beratung und Information. Niemand hat sie auf diese Situation vorbereitet oder sie bei den vielen folgenden Operationen, die Milo durchmachen musste, fachlich und psychologisch begleitet. Ihr Sohn kam mit acht erheblichen Fehlbildungen zur Welt. Jessi nennt es eine Laune der Natur, denn es gab keine andere medizinische Erklärung dafür. „Das Schlimmste für uns sind immer die Arztbesuche. Milo musste schon viele Operationen über sich ergehen lassen und ist nahezu panisch, wenn wir eine Arztpraxis betreten.“ Und nicht alle medizinischen Pflegefachkräfte haben dafür Verständnis und die dafür nötige Zeit, um behutsam mit der Situation umzugehen.
Eltern werden im Krankenhaus und bei Hausärzten bei der Pflege ihrer Kinder wenig beachtet
Die erschreckende Wahrheit: Eltern werden im Krankenhaus und bei Hausärzten bei der Pflege ihrer Kinder wenig beachtet. Die Studie von pflege.de zeigt, dass die meisten Eltern sich völlig uninformiert fühlen. Es ist offensichtlich, dass die Pflege von Kindern und die Pflege von alten Menschen komplett unterschiedliche Themen sind, aber das scheint Ärzten und Krankenhäusern nicht klar zu sein.
Und als wäre das nicht schon schlimm genug, wissen viele Familien nicht einmal, dass sie möglicherweise Anspruch auf Pflegegeld haben. Offensichtlich wissen viele Ärzte nicht, dass sie eine Informationspflicht haben, die im SGB XI § 7 geregelt ist. Während der Schwangerschaft, bei der Geburt oder einer ärztlichen Untersuchung sollte doch die Pflegebedürftigkeit von Kindern auffallen – aber es scheint so, als würde das oftmals ignoriert werden. Werden Eltern einfach im Stich gelassen?
Geholfen hat Jessi der Austausch mit anderen Müttern. Das ist für sie viel wertvoller als ein Gespräch mit einem Facharzt. Sie betont auch, dass sie ohne ihr starkes familiäres Umfeld nicht die Kraft hätte, die man braucht, um ein pflegebedürftiges Kind optimal zu begleiten. Denn sämtliche Informationen zu Leistungen, die ihr zustehen, hat sie sich Stück für Stück selbst im Internet oder in den sozialen Medien zusammengetragen. Genau wie zwei Drittel der Befragten der pflege.de-Studie. Doch ist das der richtige Weg, den wir in der Gesellschaft gehen wollen? Dabei stellt sich auch die Frage, ob dies der beste Weg ist, um solche Informationen zu erhalten. Es bleibt unklar, wer sicherstellt, dass die gefundenen Informationen tatsächlich korrekt sind und die betroffenen Familien dadurch nicht weiter verunsichert werden.
Zweifelsohne ist es wichtig, die Eltern von Anfang an gut zu begleiten. Alexandra Müller-Helm, eine Pädiatrische Pflegefachkraft, weist in dem Studienbericht darauf hin, dass die meisten Eltern nach der Geburt eines behinderten Kindes zunächst in einen Schockzustand geraten. Während dieser Zeit müssen sie sich an die neue und oft sehr herausfordernde Situation anpassen und fühlen sich häufig überfordert von medizinischen Fachbegriffen und der Diagnose.
Hinzu kommt noch die fehlende fachliche Unterstützung bei der Pflege des Kindes. Es mangelt an Angeboten und einer angemessenen Ausbildung für Pflegefachkräfte. Jessi selbst hat die Erfahrung gemacht, dass keine geeignete Pflegekraft nach einer schweren Operation ihres Kindes verfügbar war. Dabei hätte sie sich eine fachliche Unterstützung für die Zeit nach der OP sehr gewünscht.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass nur acht Prozent der Studienbefragten Entlastungsangebote nutzen, während 45 Prozent sich überfordert fühlen und sich vor Ort mehr unterstützende Angebote wünschen. Viele Familien haben auch eine Mehrfachbelastung, da sie auch berufstätig sind.
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Was oft übersehen wird: Die Pflege eines Kindes hört in den meisten Fällen nicht mit der Volljährigkeit auf. Viele Eltern pflegen ihr Kind ein Leben lang. Umso wichtiger ist eine umfangreiche Unterstützung.
Man fragt sich, warum es den betroffenen Familien so schwer gemacht wird. Nach Auswertung der gesamten Studie, die pflege.de im Jahr 2022 durchgeführt hat, zeigt sich der Gründer und Geschäftsführer von pflege.de sehr betroffen von der aktuellen Situation in den Familien.
Lars Kilchert, der Gründer von pflege.de und Initiator der Studie, fühlt sich bestätigt in seiner Annahme, dass der Fokus ausschließlich auf alte Menschen in der Pflege liegt. „Wir brauchen viel mehr Aufklärungsarbeit in alle Richtungen. Bei pflege.de versuchen wir unseren Teil dazu beizutragen, transparent zu machen, dass Pflege sehr heterogen ist und Pflege jedes Alter treffen kann.
Viele Eltern pflegen ihr Kind ein Leben lang. Umso wichtiger ist eine umfangreiche Unterstützung
Um Familien mit einem pflegebedürftigen Kind effektiver zu unterstützen, ihnen eine Perspektive zu geben und sie vor Verzweiflung zu bewahren, bedarf es einer politischen Neuausrichtung. Die bürokratischen Hürden müssen dringend reduziert werden, die Fachkräftequote in der Kinderpflege erhöht und die Unterstützungsangebote sowie die Begleitung vor Ort gestärkt werden. Hierfür sind ein gesetzlicher Rahmen und verstärkte Initiativen der Kommunen erforderlich.
Es ist von entscheidender Bedeutung, dass wir in unserer Gesellschaft all diejenigen bestmöglich unterstützen, die am meisten Hilfe benötigen. Die Politik, die Kommunen und Städte vor Ort müssen sich verstärkt mit dem Thema der Pflege junger Menschen auseinandersetzen. Denn das zeugt von Mitgefühl, Empathie und Solidarität, welche grundlegende Werte sind, auf denen eine zivilisierte Gesellschaft aufbauen sollte.
Wer den Austausch sucht, kann sich gerne auch an Jessi wenden, sie hat ein Instagram Profil @milotastisch
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