Was hören wir nicht alles über und was sagen wir nicht alles über die Zeit? Zum Beispiel: dass wir keine Zeit haben – oder dass die Zeit einfach nicht vergeht. Dass wir uns Zeit nehmen, dass wir Zeit gewinnen – oder Zeit verlieren. Dass wir jemandem Zeit schenken oder Zeit totschlagen. „Ich hab mei Zeit ned gschdoule“, sagt man im badischen Odenwald.
Wir verwenden die Zeit, um effizient, rentabel und produktiv zu arbeiten oder – noch lieber – arbeiten zu lassen. Das geflügelte Wort „Zeit ist Geld“ gibt davon beredtes Zeugnis. Dass Dagobert Duck, Fantastilliardär aus Entenhausen, dies noch in die Sprüche „Fasse Dich kurz“ und „Geld regiert die Welt“ kleidete, unterstreicht die Ökonomiefixierung, in der Zeit in diesem einschlägigen Sinne zu nutzen ist.
Was uns Horaz hier zu bedenken gibt, ist, dass während wir gerade reden, uns bereits die missgünstige Zeit entflohen ist: Genieße den Tag, empfiehlt er. Und er fügt hinzu, möglichst wenig auf den folgenden Tag zu vertrauen.
Der Gedanke, nicht zu viel Augenmerk auf die Vergangenheit und die Zukunft zu legen
Reden wir trotzdem über die Zeit und darüber, wie wir sie in anderem als ökonomischem Sinne nutzen können, um ein gutes, gelingendes Leben zu führen. Dies war (neben der Frage nach dem Wesen der Natur) die Hauptfrage der ursprünglichen Philosophie: Wie gelingt mein Leben? Eigentlich ist mit der Metapher „carpe diem“ gemeint, ein Bild des Blumen- oder Früchtepflückens hervorzurufen, ein Bild des im sinnlichen Erleben der Natur wurzelnden Augenblicks. Heute nennt man dies den ausschlaggebenden Moment, das Momentum. Diesen Gedanken, die Gegenwart zu leben und nicht zu viel Augenmerk auf die Vergangenheit und die Zukunft zu legen, hört man oft, und Bibliotheken von Ratgebern greifen diese Idee auf. So schrieb auch Andreas Gryphius in Ehrfurcht vor Gott: „Mein sind die Jahre nicht, die mir die Zeit genommen; mein sind die Jahre nicht, die etwa möchten kommen; der Augenblick ist mein, und den nehm ich in Acht. So ist der mein, der Jahr und Ewigkeit gemacht.“ Ich bejahe diese These der Gegenwartsnutzung, werde sie aber erweitern und anreichern.
Doch der Reihe nach. Ehe wir der Frage nachgehen, wie man Zeit nutzen kann, ist es des Philosophen Pflicht, den Begriff zu klären und das Phänomen mit Leben zu füllen. Doch dies ist leichter gesagt als getan. Schon Augustinus Aurelius, Kirchenvater und Philosoph, stieß dabei an seine Grenzen, stellte er doch fest: „Was ist also die Zeit? Wenn mich niemand darüber fragt, so weiß ich es; wenn ich es aber jemandem auf seine Frage erklären möchte, so weiß ich es nicht.“ Gibt man das Wort „Zeit“ in eine einschlägige Suchmaschine ein, so erhält man ungefähr 1 600 000 000 Treffer. Dabei ist physikalisch doch ganz präzise definiert, was eine Sekunde ist: die Zeitspanne, in der die elektromagnetische Schwingung in der Elektronenhülle des Cäsium-Atoms 9 192 631 770-mal abläuft. Gut zu wissen.
Eine trivial wirkende Erkenntnis: Den Raum kann man mehrmals benutzen, die Zeit jedoch nicht
Für den Philosophen Immanuel Kant ist die Zeit (ebenso wie der Raum) eine „reine Anschauungsform“, und zwar die des inneren Sinnes. Sie sei unser Zugang zur Welt, vereinfacht gesagt ist sie eine Art Brille, damit der Mensch sich in der Welt orientieren kann. Da für diesen Artikel zwar nicht die Zeit, jedoch der Raum begrenzt ist, soll es das von den alten Philosophen gewesen sein, natürlich nicht ohne den Hinweis, dass Heraklit sagte: „Pantha rhei“, das heißt „Alles fließt“. Psychologisch gesehen geht es um Wahrnehmung – und die ist relativ. Triviales Beispiel: Der eigene Fußballclub führt 1:0, der Gegner stürmt und stürmt – da scheint die Zeit nahezu stillzustehen. Die Fans des Gegners verspüren das pure Gegenteil, denn die Zeit vergeht wie im Flug oder zerrinnt wie Sand zwischen den Fingern. Dabei ist jede Sekunde… Sie wissen schon, die Sache mit dem Cäsium-Atom.
Die Erinnerung an herausragende Erlebnisse kann die Gegenwart mit einem Gegenwert bereichern
Auch literarisch ist Zeit ein großes Thema. In Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“, in dem Hans Castorps Aufenthalt in einem Sanatorium beschrieben wird, verwendet der Autor drei Kapitel, um die ersten beiden Aufenthaltstage zu schildern, in denen es eine neue Welt zu entdecken gilt. Die nächsten sieben Monate werden ebenso in nur zwei Kapiteln abgehandelt wie die restlichen sechs, von Routine und Langeweile geprägten Jahre. Samuel Becketts „Warten auf Godot“ kultiviert die Langeweile, bei Michael Ende bekommt das Mädchen Momo es mit den grauen Herren, welche sich als „Agenten der Zeitsparkasse“ verstehen, zu tun und Marcel Prousts Werk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ zeigt auf, wie ein in Lindenblütentee getunktes Gebäckstück namens „Petite Madeleine“ dem Erzähler ein unglaubliches Glücksgefühl in Form einer Erinnerung schenkt.
Der Gastautor
Jochen König wurde 1962 in Buchen im Odenwald geboren, wuchs in Bödigheim auf, lebte fast 30 Jahre in Mannheim und ist nun in Heidelberg zu Hause.
Nach dem Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Universität Mannheim war er 25 Jahre lang in leitenden Marketing-Positionen tätig. Daneben studierte er Philosophie an der Fern-Universität Hagen, promovierte an der Universität Koblenz und ließ sich zum Philosophischen Praktiker ausbilden.
Heute ist er als Dozent in der Erwachsenen-bildung tätig, so etwa an der Abendakademie Mannheim, arbeitet an Büchern über Mut und Marketing-Philosophie und betreibt seit 2012 die Philosophische Praxis „Institut für Weisheitsliebe“.
Die Zeit, und dies ist nun mein Verständnis des Wortes, beschreibt letztendlich die Abfolge von Ereignissen, und damit hat sie eine eindeutige, nicht umkehrbare Richtung, auch wenn man dies in der Science-Fiction-Literatur gerne überwinden möchte. Den Raum kann man also mehrmals benutzen, die Zeit jedoch nicht. Diese trivial wirkende Erkenntnis spricht für die These, in seinem Lebensentwurf einzig und allein die Gegenwart zu genießen und zu gestalten. Ich sehe dies etwas anders und möchte hier den Gedanken der „Gegenwartserweiterung“ vorstellen: Wie in Prousts Werk angesprochen, kann die Erinnerung an herausragende Erlebnisse die Gegenwart mit einem Gegenwert bereichern. Der Warm-Glow-Effekt vermittelt beim Akt des Gebens ein positives Gefühl seitens eines altruistischen Spenders. Ähnlich steht es mit der Rückschau auf schöne Ereignisse. Dies soll allerdings nicht heißen, ausschließlich und vor allem den „guten alten Zeiten“ nachzutrauern.
Ähnliches gilt spiegelbildlich für die Zukunft. Natürlich können wir diese nicht vorhersehen und selbstverständlich können wir uns nicht darauf verlassen, dass sie sich in unserem Sinne entwickelt. Doch ohne Planung auf Basis einer Hoffnung des Als-ob entstehen keine Visionen, welche zu Realitäten werden können. Auch hier gilt: Wer nur für die Zukunft plant, verpasst das eigentliche Leben, das bekanntermaßen unabhängig von Planungen geschieht. In Anlehnung an den amerikanischen Pragmatisten William James sehe ich die Gegenwart nicht als Messerschneide, sondern als Sattelrücken. Einen Sattelrücken mit einer gewissen Breite, auf dem wir sicher und stabil sitzen und von dem aus wir nach zwei Seiten in die Zeit blicken können. Insofern ist dem üblichen „Entweder oder“ ein überzeugtes „Sowohl als auch“ entgegensetzen. Nämlich sowohl die Gegenwart als auch die Vergangenheit und die Zukunft.
Die Unendlichkeit können wir als endliche Wesen höchstens abstrakt erahne
Genau besehen gibt es „die Gegenwart“ überhaupt nicht, zumindest dann, wenn wir davon ausgehen, dass es die Unendlichkeit gibt. Die können wir als endliche Wesen höchstens abstrakt erahnen und keineswegs konkret erleben – flüchtige Augenblicke eben.
Die griechische Mythologie kennt drei Gestalten für die Zeit: Chronos steht für den Ablauf der Zeit und auch die Lebenszeit. Kairos steht für die Gelegenheit, welche man sprichwörtlich beim Schopfe packen muss. Was gar nicht so leicht ist, hat er doch zahlreiche Haare an der Stirn, jedoch einen kahlen Hinterkopf. Er rennt also auf geflügelten Füßen an uns vorbei und erinnert uns daran, die Gelegenheiten für ein gutes Leben entschlossen zu ergreifen. Äon steht für die Ewigkeit. Äon ist Kind und Greis zugleich. Er ist großzügig und zufrieden, denn es fehlt ihm an nichts.
Am schönsten ist es doch, wenn man die Zeit los ist, wenn man sie vergisst, weil man ganz bei sich ist
Ob es neben „der Zeit“ auch „die Zeiten“ (gerne als „gute alte Zeiten“ erinnert) gibt, ob eine Zeitenwende überhaupt möglich ist und ob man die Zeit umstellt, wenn man zweimal im Jahr die Uhr umstellt, all das sind Fragen, welche gewissermaßen zeitlos sind. Überhaupt zeitlos. Am schönsten ist es doch, wenn man die Zeit los ist, wenn man sie vergisst, weil man ganz bei sich ist.
Alles in allem ist Zeit weder zu gewinnen und somit auch nicht zu verlieren. Sie ist einfach zu „leben“. Sie ist da, sie zeigt uns die Abfolge von Lebensereignissen als Bild unserer jeweils einzigartigen Biografie auf. Zu gewinnen und zu verlieren sind nur Sinn und Wert und dies in der Zeit, so sie es denn gibt. Zeit stammt vom Gedanken der Teilung etwa des Jahres in Tage oder des Tages in Stunden. Ich für meinen Teil teile die Zeit in anderem Sinne, mit den von mir geliebten Menschen, mit meinen Freunden. Den einzigen Rat, den man sich als Philosoph herausnehmen kann, seinen Mitmenschen zu geben, lautet: „Lebe Dir gemäß!“
Ich weiß nicht, wie viel Zeit Sie brauchten, um diesen kleinen Aufsatz zu lesen. Ich weiß, wie lange ich benötigte, ihn zu schreiben. Und es war eine schöne Zeit.
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