Wie bekommen wir wieder Lust auf die Zukunft?

Inflation, Klimawandel und Krieg zeichnen dystopische Bilder von der Zukunft. Dabei brauchen wir genau das Gegenteil. Doch es mangelt uns an Kompetenz im Umgang mit Zukünften, sagen Markus Iofcea und Marcel Aberle. Ein Gastbeitrag

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Marcel Aberle und Markus Iofcea
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Gemeinsam gegen die Krise: Die Zeit von Superman und großen Egos ist vorbei. In Zukunft steht das Kollektiv, die Avengers, im Vordergrund. © Disney / Marvel

Um sich persönlich weiterzuentwickeln und um aus seiner Komfortzone zu entkommen, sollte man jeden Tag etwas tun, das einem Angst bereitet – das sagen zumindest viele Ratgeber. Heutzutage ist das ganz einfach. Sie müssen lediglich das Weltgeschehen verfolgen, denn mehr Dystopie kann auch Hollywood nicht liefern. Ein potenzieller Atomkrieg mitten in Europa, da wirkt der Bungee-Sprung vom Fernsehturm doch wie ein Spaziergang. Blackout und Kollaps der Industrie in Deutschland – wenn wir über solche Bilder nachdenken, da nehmen wir die Spinne im Bad nicht einmal mehr wahr.

Der Möglichkeitssinn ist nicht an die Realität gebunden und erlaubt es einem, alles in Betracht zu ziehen

Was wir jedoch wahrnehmen und was nicht, und wie wir dies interpretieren – als gut oder schlecht, als Anfang oder Ende? – hat elementare Auswirkungen. Denn darauf basiert unser Handeln in der Gegenwart – und somit die Gestaltung der möglichen Zukünfte.

Denn sowas wie Zukunft oder mögliche Zukünfte existieren nicht, sie haben nie existiert und werden auch nie existieren. Das einzige, was existiert, sind Zukunftsbilder – und diese erzeugen wir in der Gegenwart. Mit unserer Vorstellungskraft erzeugen wir jeden Tag Zukünfte: Wir planen, hoffen, denken daran, was wir tun werden oder müssten, sorgen uns und antizipieren zukünftige, emotionale Zustände.

Während wir planen, hoffen und darüber nachdenken, was wir tun müssten, bewegen wir uns innerhalb von bekannten Tatsachen und vorgegebenen Rahmenbedingungen. Oft basierend auf dem Wissen, das wir aus der Literatur und den Medien erlangt haben oder aus Erfahrungen der Vergangenheit. Man könnte auch sagen, dass wir uns intuitiv unseres Wirklichkeitssinnes bedienen. Es erscheint uns logisch, es so zu tun – und genau deswegen ist oft das, was wir mit unserem Wirklichkeitssinn finden, eine logische Konsequenz aus unserem aktuellen Handeln. „Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muß es auch Möglichkeitssinn geben“, schrieb Robert Musil in seinem Buch „Der Mann ohne Eigenschaften“ .

Die Gastautoren

Marcel Aberle ist Trend- und Zukunftsforscher. Sein Werdegang ist geprägt von der Auseinandersetzung mit den unterschiedlichsten Dimensionen von Trends, Technologie und Innovation. Der mehrfach ausgezeichnete Innovations-Preisträger und Autor verbindet Trendforschung mit Hands-on-Qualität. Marcel Aberle führte dreieinhalb Jahre als Geschäftsführer das Zukunftsinstitut in Österreich, bevor er im Sommer 2022 in die Selbstständigkeit wechselte.

Markus Iofcea ist Zukunftsarchäologe. Er ist fasziniert, geprägt und inspiriert von Erfindern, Zukunftsvisionen und Science Fiction. Bei der Schweizerischen Grossbank UBS hat er 2014 den Y Think Tank gegründet, wo er Opportunitäten und Herausforderungen der kommenden Jahrzehnte erforscht. Markus Iofcea hat einen starken technologischen Hintergrund. Privat ist er ein leidenschaftlicher Gamer, Geek und Fotograf.

Im Sommer 2022 gründeten Aberle und Iofcea gemeinsam „futur3zone“, ein Edutainment Live-Format auf Youtube zur Förderung der Zukunftskompetenz von Wirtschaft und Gesellschaft. Dabei diskutieren sie mit Expertinnen und Zuschauern mögliche positive Zukünfte. „Zukunft mit ohne Scharf“, wie sie es schmunzelnd nennen.

Kann uns der Möglichkeitssinn vielleicht weiterhelfen und uns Alternativen aufzeigen, um den Dystopien und der Zukunftsangst zu entkommen? Der Möglichkeitssinn ist nicht notgedrungen an die Realität gebunden und erlaubt es einem, alles in Betracht zu ziehen – auch Dinge, die nicht der Realität, wie wir sie kennen und erleben, entspringen.

Musil schreibt weiter: „Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehen; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, dass es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“

Wir können uns also die Frage stellen, ob wir uns davon lösen sollen, dem, was ist, mehr Bedeutung beizumessen als dem, was nicht ist, und den Möglichkeitssinn in unserem Zukunftsdenken stärker verankern. Uns bei der Suche nach neuen Opportunitäten von beiden Sinnen bedienen. Etwas, was nicht ist oder sogar unmöglich erscheint, dennoch in Betracht ziehen. Entweder, um sich darauf vorzubereiten, falls diese Möglichkeit eines Tages eintrifft, oder vielleicht sogar zu versuchen, diese Unmöglichkeit möglich zu machen. Stichwort Pioniergeist. Viele großartige Ideen werden getötet, bevor sie eine Chance haben, die Welt zu verändern, weil sie oft als „unmöglich“ empfunden werden.

Der Fokus auf die Gegenwart und ihre begrenzte Technologie führt uns nicht in die Zukunft

Denken Sie an eine der ersten Fragen, die Sie sich stellen oder die Ihnen gestellt wird, wenn Sie eine Idee haben: „...aber wie können wir das machen?“. Obwohl diese Frage ein sehr valider und notwendiger Schritt im Tagesgeschäft ist, entspringt sie doch dem Wahrheitssinn. Dieses Denken in derzeit verfügbaren Technologien oder regulatorischen Gegebenheiten und dem „Wie“ hindert uns oft daran, wirklich innovative und zukunftsweisende Ideen zu entwickeln und zu verfolgen.

Der Fokus auf die Gegenwart und ihre begrenzte Technologie führt uns nicht in die Zukunft. Es wird unweigerlich neue Erfindungen und Entdeckungen geben, die das, was wir glauben, tun zu können, völlig verändern werden. Anstatt über das „Wie“ nachzudenken, müssen wir uns auf das „Was“ konzentrieren. Was wollen wir in Zukunft sehen? Was ist unser Bild einer enkeltauglichen Zukunft? Wenn wir uns auf das „Was“ konzentrieren, bewegen wir uns von der Unmöglichkeit zur Möglichkeit. „Was wäre wenn...“-Fragen erlauben uns, den Möglichkeitssinn zu nutzen. Es ist eine Mindset-Frage.

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Als Erstes müssen wir eine bewusste Entscheidung treffen, auf was wir uns fokussieren – denn Fokus ist gleich Gefühl, selbst wenn es nicht wahr ist, wie Tony Robbins so schön sagt. Fokussiere ich mich auf das, was ich habe, gibt es viele Dinge, die mir ein gutes Gefühl geben. Fokussiere ich mich auf das, was ich nicht habe, fühle ich mich schlecht – sollte ich auch noch so viel besitzen. Fokussiere ich mich auf Dinge, die ich kontrollieren kann, oder auf Dinge, die ich nicht kontrollieren kann? Weder Wirtschaft noch Politik können wir kontrollieren, unsere Fähigkeiten aber zum Beispiel schon. Konzentriere ich mich auf die Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft? Wir alle tun alles drei. Aber wenn wir unsere überwiegende Zeit verbringen und Spaß haben wollen, ist es die Gegenwart, wenn wir etwas Großartiges erschaffen wollen, die Zukunft – es sollte daher ein Gleichgewicht zwischen Gegenwart und Zukunft sein. Unser Gehirn verzerrt, löscht, verallgemeinert – und das ist auch gut so, sonst würden wir verrückt werden. Aber wir müssen bewusst damit umgehen.

Wir müssen uns mit dem Möglichkeitsraum Zukunft auseinandersetzen. Dafür braucht es Freiräume

Im zweiten Schritt stellt sich die Frage: Was bedeutet das? Die Bedeutung, die wir etwas oder jemandem zuschreiben, löst entsprechende Emotionen aus. Ist es das Ende oder der Anfang von etwas? Ist es eine Strafe oder ein Geschenk? Die Antwort ist die Grundlage für den dritten Schritt: Was tun wir? So gestalten wir Zukünfte – jeden Moment, jeden Tag, jeder von uns.

„Ein Team, das sich mit der Zukunft des Unternehmens auseinandersetzt?! Dafür haben wir keine Ressourcen“, heißt es gerne in der Wirtschaft. Wir sind bereits mit der Optimierung unserer aktuellen, operativen Prozesse überfordert, denn schließlich müssen die Quartalszahlen stimmen. Keine Frage, wir benötigen Menschen, die den operativen „Quartalskapitalismus“ bedienen und den Laden – sprichwörtlich – am Laufen halten.

Nur im Kollektiv und gemeinsam können wir Krisen und Herausforderungen meistern

Aber wir müssen uns mit dem Möglichkeitsraum Zukunft ausein-andersetzen. Dafür braucht es Freiräume: dedizierte Teams in Organisationen, Think Tanks in Politik und Gesellschaft. Räume, in denen Menschen frei und offen über mögliche Zukünfte nachdenken und an ihnen arbeiten können und dürfen. Anders: Wenn Sie keine „Ressourcen“ haben, um joggen zu gehen, dann wird Ihre Kondition ja auch nicht besser.

Unsere Gesellschaft wird immer diverser und unsere Welt komplexer – also auch unsere Herausforderungen. Um diese zu meistern, müssen wir viel enger und interdisziplinärer zusammenarbeiten, Silos im Kopf und in den Strukturen aufbrechen. Die Zeit von Superman und großen Egos ist vorbei, in Zukunft steht das Kollektiv, die Avengers, im Vordergrund. Das ist eben nicht nur in Hollywood so. Denn nur im Kollektiv und gemeinsam können wir Krisen und Herausforderungen meistern sowie enkelfähige Zukünfte gestalten.

Wie sagte Eleanor Roosevelt einst so treffend: „Small minds discuss other people. Average minds discuss events. Great minds discuss ideas.“ Diskutieren Sie Ideen und gestalten Sie Zukünfte, für die Sie jeden Morgen gerne aufstehen. So bekommen wir wieder Lust auf die Zukunft.

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