"MM"-Debatte

Wie können wir vor Ort die Welt verändern, Herr Wenzel?

Die Globalisierung wirkt bis in jeden Winkel der Erde. Umgekehrt können aber auch Initiativen vor Ort großen Wandel bewirken. Zukunftsforscher Eike Wenzel zeigt, wie das in Kopenhagen und Cleveland gelang – und was wir daraus lernen können. Ein Gastbeitrag.

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Eike Wenzel
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Den Wandel anstoßen. © Getty Images/iStockphoto

Vor Ort kündigen sich große, substanzielle Veränderungen zuerst an. Dort treffen sie – häufig ungebremst – auf die Bedürfnisse der Menschen: Wie soll man von A nach B kommen, wenn es nur noch Staus gibt? Wie sollen wir uns künftig in der Stadt bewegen, wenn Hitzewellen oder Starkregen immer häufiger zuschlagen? Wie können wir Menschen an unsere Gesellschaft binden, die von Geburt zu den Chancenlosen gehören oder aus (gefühlter) Ausweglosigkeit mit dem Gesetz in Konflikt geraten?

Umgekehrt ist von vor Ort aus auch weitreichende Veränderung möglich: Angloamerikanische Stadtentwickler sprechen von „Places matter“, wenn sie erklären wollen, dass vor allem vor Ort die Welt verändert werden kann.

Hierarchien verändern

Der Klimawandel zwingt uns dazu, Städte, Landkreise und Regionen den neuen Anforderungen anzupassen. Dafür braucht es die Kooperation zwischen unterschiedlichen Akteuren vor Ort: Unternehmen, Politik, Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Verwaltung. Vertikale Netzwerke wie in einem Unternehmen oder in einer Branche funktionieren von oben nach unten und schaffen Hierarchien: „Command and Control“ – Befehl und Kontrolle. Dagegen ist das Ziel horizontaler Netzwerke die Verbesserung der Lebensbedingungen für alle vor Ort – und nicht die schnelle Dividende oder der Gewinn der nächsten Wahl.

Der Gastautor

Eike Wenzel (55) ist Trend- und Zukunftsforscher. Er leitet das Institut für Trend- und Zukunftsforschung (ITZ) in Heidelberg und gehört dem Nachhaltigkeitsrat der Baden-Württembergischen Landesregierung an. Sein Buch „Das neue grüne Zeitalter“ erschien diesen August 2021 (Redline Verlag).

An Beispielen aus zwei Städten möchte ich zeigen, wie das Prinzip „Places matter“ in Großstädten – aber nicht nur dort – umgesetzt werden kann.

Das erste Beispiel spielt in Kopenhagen. Dort hat der Bau der Öresundbrücke im Jahr 2000 für Umsatzeinbrüche im städtischen Hafen gesorgt. Dieser finanzielle Engpass war der Zündfunke für den Aufbruch der dänischen Hauptstadt in die „nachhaltige Moderne“ – das Beispiel zeigt auch, dass der Anstoß für nachhaltige Transformationsprozesse vor Ort nicht selten von Zufällen geprägt ist. In Kopenhagen schlossen sich Stadtplaner und die Privatwirtschaft zusammen, um ein ziemlich unglamouröses Gebiet von drei Quadratkilometern Größe zwischen dem alten Kopenhagen und dem Flughafen zu erschließen. Ihr Plan: keine kurzfristigen Gewinne, sondern ein langfristiges Erneuerungsprojekt. Im Laufe des Prozesses gelang es Kopenhagen meisterhaft, vor allem über das finanzstrategische Vehikel der städtischen CPH City & Port Development, den Wert der eigenen Besitztümer geduldig zu veredeln und mit geschickten Investitionen in bürgernahe Dienstleistungen – 278 Millionen Euro flossen in Radwege, Freizeit und Natur – einen innerstädtischen Wachstumsboom auszulösen. Vorläufiger Höhepunkt der Stadtentwicklung ist die Neugestaltung des Nordhafens. Hier sollen einmal 40 000 Menschen leben und ebenso viele Arbeitsplätze angesiedelt werden.

Die öffentliche Hand musste dabei ihre Rolle entscheidend verändern: Sie durfte sich nicht mehr als generöser Gatekeeper und leicht zu öffnendes Finanzierungsventil der Privatwirtschaft andienen.
Eike Wenzel Zukunftsforscher

Die öffentliche Hand musste dabei ihre Rolle entscheidend verändern: Sie durfte sich nicht mehr als generöser Gatekeeper und leicht zu öffnendes Finanzierungsventil der Privatwirtschaft andienen. Der Anspruch war es, stets als Anwalt der Bedürfnisse der Bürger aufzutreten und im Sinne der langfristigen Ziele und Zwecke der Stadt zu handeln. Bei Kopenhagens Aufschwung, der übrigens in Zeiten finanzieller Engpässe zustande kam, waren am Ende zwei Dinge ausschlaggebend: der selbstbewusste Umgang mit den Ressourcen vor Ort und die Aktivierung der Managementqualitäten der örtlichen Unternehmen in hocheffizienten öffentlich-privaten Partnerschaften, also den eingangs erwähnten horizontalen Netzwerken. Die privaten Partner tragen dabei die Verantwortung, eine effiziente Leistung zu liefern, während die öffentliche Hand die gemeinwohlorientierten Ziele im Blick behält.

Voraussetzung war dabei nicht zuletzt das „geduldige Kapital“, das die Stadt als solventer Kunde bei Banken und beim Staat Dänemark beschaffen konnte. Auf dieser Basis ließen sich ideale Gestaltungsbedingungen für einen Ort der Zukunft schaffen: das Einschwören von Politik, Unternehmen und Zivilgesellschaft auf eine langfristige Innovationsperspektive, denn nur durch langfristiges Denken und Investieren lassen sich wirklich nachhaltige Veränderungen umsetzen.

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Ist eine solche „nachhaltige Modernisierung“ auch hierzulande möglich? Natürlich! Die Voraussetzungen dafür liegen auf der Hand: eine selbstbewusste Stadt oder Kommune, langfristige Projekte, bei denen der Egoismus einzelner Interessensgruppen gegenüber der gemeinsamen Vision von besseren Lebensverhältnissen für alle zurückzutreten hat.

Das andere Beispiel, das „Places matters“ veranschaulicht, stammt aus Cleveland im US-Bundesstaat Ohio. In der vom Strukturwandel seit Jahrzehnten gebeutelten Industriemetropole hat die öffentliche Hand das Projekt der „Cleveland Cooperatives“ angeschoben. Die Evergreen Cooperatives in Ohio („Transforming Lives and Neighborhoods“) sind eine Initiative, der es darum geht, die Regionalentwicklung in der krisengeplagten Stahlregion anzukurbeln. Die Aufgabe: Lokal verankerte Arbeitsplätze sollen langfristige Beschäftigung garantieren.

Mitarbeiter stärker beteiligt

Das Evergreen-Projekt wurde mit einer größtenteils öffentlichen Finanzierung in Höhe von 5,8 Millionen US-Dollar angeschoben. Zurzeit sind rund 250 Menschen bei den Evergreen Cooperatives beschäftigt. Die Hälfte der Mitarbeiter zählt mittlerweile zu den Miteigentümern der Genossenschaft. Dafür müssen einmalig 3000 US-Dollar eingezahlt werden. Das Unternehmen spart den Betrag für die Mitarbeiter an, indem 0,50 US-Dollar vom Stundenlohn zurückbehalten werden. Die „Genossen“ werden so an ihren lokalen Arbeitsplatz gebunden.

Das Unternehmen verdient sein Geld mit einem Wäschebetrieb, die Evergreen-Solargemeinschaft und die Green-City-Anbaugenossenschaft. Alle drei Betriebe sind in der Metropolregion Cleveland mit Partnern und Kunden eng vernetzt. Dazu gehören Krankenhäuser, Pflegeheime, Restaurants, Unternehmen und Universitäten. Clevelands Stadtregierung steht als Partner zur Seite und bezieht darüber hinaus Produkte und Dienstleistungen aus der Kooperative. Die Green-City-Anbaugenossenschaft hat im Jahr 2013 eine der USA-weit größten Anlagen für hydroponische Gewächshäuser errichtet und sich damit an die Spitze der Bewegung der Urbanen Landwirtschaft gesetzt.

Das Beispiel Cleveland zeigt, dass man Ungleichheit und Apathie bekämpfen kann, wenn man Menschen nicht nur an den Job, sondern auch an den Ort bindet.
Eike Wenzel Zukunftsforscher

Die Bindung der Mitarbeiter an den Ort Cleveland wird noch dadurch gestärkt, dass die Genossenschaft für ihre Mitarbeiter ein Finanzierungsprogramm für den Erwerb von Wohnbesitz in der Stadt aufgelegt hat. Wohnbesitz ist in vielen Stadtteilen in Cleveland günstiger als Mieten. Mithilfe das Finanzierungsprogramms werden die Mitarbeiter angeregt, Cleveland wieder zu einer bewohnbaren und lebenswerten Stadt zu machen.

Das Beispiel Cleveland zeigt, dass man Ungleichheit und Apathie bekämpfen kann, wenn man Menschen nicht nur an den Job, sondern auch den Ort bindet. Natürlich ist ein Modell wie die Cleveland Cooperatives auch hierzulande vorstellbar. Dafür müssten sich Städte und Kommunen nur stärker der Idee der öffentlich-privaten Partnerschaften verschreiben. Verantwortliche in Städten und Kommunen dürfen sich dabei nicht als Alimentierungsinstanzen sehen, sondern als „Ermöglicher“ von innovativen Geschäftsmodellen, die Wertschöpfung in der Region halten und damit nachhaltig wirken.

Bedingungen für Wandel

Die Beispiele aus Kopenhagen und Cleveland zeigen, dass die Weltverbesserung vor Ort von drei grundlegende Voraussetzungen abhängt:

1. Sie funktioniert dann besonders gut, wenn in den lokalen Projekten ein gemeinsames soziales Ziel definiert wird: die Verbesserung der Lebensqualität und Teilhabechancen für alle. So treten häufig die politischen Interessen einzelner Akteure automatisch in den Hintergrund und das Projekt kann sich „verinseln“. Das heißt, es wird nicht durch egoistische Interessen zerredet.

2. Wichtiger Begleitumstand ist in der Regel auch der „Long Termism“: langfristige Zielsetzungen und „geduldiges“ Geld.

3. Zu guter Letzt: Städte und Kommunen müssen für eine lebenswerte Zukunft die Souveränität über die eigenen Daten erlangen, so dass Veränderungen mit großer Präzision vor Ort und mit Blick auf die alltäglichen Bedürfnisse der Menschen geplant werden können. Einer Metropole wie Barcelona gelang es erst in zähen Verhandlungen, dem Technologiedienstleister Vodafone die Daten, die dieser in der Stadt erhoben hatte, zu entreißen. Doch ohne das Nutzungsrecht in den eigenen Händen ist die digital-ökologische Transformation von Städten und Kommunen schlechterdings unmöglich.

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