Gleichberechtigung ist im Kinderbuch und -film noch nicht sehr weit gekommen, wie Studien zeigen: Die Medienwissenschaftlerin Maya Götz stellte mit ihrer internationalen Studie „Die Fernsehheld(innen) der Mädchen und Jungen“ fest, dass 97 Prozent der Helden in Kinderbüchern männlich sind. Auch eine Erhebung der Süddeutschen Zeitung deutet in eine ähnliche Richtung. Hier wurden Schlagworte von tausenden Kinderbüchern untersucht. Das erschreckende Ergebnis: Männliche Helden sind mutig und frei, steuern Piratenschiffe, finden Schätze und entdecken die Welt. Mädchen als Heldinnen sind dagegen lieb, nett, fürsorglich und wohlgekämmt – und meist endet ihr Abenteuer am Zaun vom Ponyhof.
Die Gastautorin
Jungs sind so – Mädchen sind so. Wie sollen wir Gleichberechtigung erreichen, wenn wir nach wie vor solche Klischees in die Köpfe unserer Kinder setzen? Wird ein Kind geboren, ist meist die erste Frage: „Was ist es denn? Ein Mädchen oder ein Junge?“ Schon steckt dieser kleine Mensch in einer Schublade. Er bekommt vorgesetzt, was er aufgrund des Geschlechts verdient und zu tun hat. Kinder lernen von ihrer Umgebung: Sie beobachten Machtverhältnisse, Rituale und Wege, wie sie am besten in der Gesellschaft zurechtkommen. Sie beobachten, was Mädchen tun und was Jungs tun, hören die Geschichten, die die Erwachsenen vorlesen und erzählen – und versuchen, sich einzugliedern. Sie tun das instinktiv. Und das bleibt ihre Wirklichkeit. Für Mädchen gilt dann etwa eine liebliche, kanten- und charakterlose Fee als Vorbild, die in einem märchenhaften Blütenschloss lebt. Tagsüber kümmert sich die Fee um die Tiere und Pflanzen, die dort leben. Abends kehrt sie erschöpft und zufrieden in ihr Schloss zurück, setzt sich auf ihren Blütenthron. Ein anderes Mal findet sie im riesigen Kleiderschrank kein passendes Kleid für den Ball im eigenen Schloss.
Lassen wir die Mädchen doch pink tragen – und die Jungs auch, wenn sie mögen – und befreien sie dafür von Kinderbüchern mit horrenden Geschlechterklischees und sinnentleerten Geschichten.
Das Universum dieser Fee ist natürlich pink. Was dazu beiträgt, dass viele reflektierte und moderne Eltern versuchen, ihren kleinen Mädchen die Farbe Pink auszureden. Ich halte das für eine Diskreditierung dieser wunderschönen, starken Farbe, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts sogar als Farbe für Jungs galt. Lassen wir die Mädchen doch pink tragen – und die Jungs auch, wenn sie mögen – und befreien sie dafür von Kinderbüchern mit horrenden Geschlechterklischees und sinnentleerten Geschichten.
Vielleicht kennen Sie auch folgende Zeilen aus „Emil und die Detektive“ von Erich Kästner: „Pony Hütchen radelte strahlend in den Hof (…), sprang aus dem Sattel, begrüßte Vetter Emil, den Professor und die übrigen und holte dann einen kleinen Korb, den sie an der Lenkstange festgebunden hatte. ‚Ich bring euch nämlich Kaffee mit’, krähte sie, ‚und ein paar Buttersemmeln!’“ Emils Bande besteht natürlich aus Jungs. Es darf aber auch ein Mädchen mitspielen: seine Cousine Pony Hütchen. Sie versorgt die mutigen Jungs mit Proviant.
„Das war ja im letzten Jahrhundert! Da hat sich doch so viel geändert!“, mögen Sie nun denken. Doch sind wir wirklich weiter gekommen? Im 21. Jahrhundert wird ein Märchen von einem großen amerikanischen Medienunternehmen verfilmt und zum Kassenschlager. Vor einer Kulisse aus Eis und Schnee prangte die Heldin von der Kinowand und seitdem auch auf Brotdosen, Armbändchen, Kuchenformen und T-Shirts. Sie sieht uns mit ihren großen Augen an, ihr blondes Haar weht um ihr makelloses Gesicht, ihre Taille könnte sie mit einer Hand umfassen. Der überschlanke Körper steckt in einem wallenden Kleid. Im Film wird ihr dieses schöne, aber dann doch unpraktische Kleidungsstück zum Verhängnis: Sie stolpert über seinen Saum, als sie am Steg entlanggehen möchte, und droht ins Wasser zu fallen. Doch ein Prinz rettet sie vorm Ertrinken.
Was ist bloß passiert seit Pippi Langstrumpf? Wo sind ihre Nachfolgerinnen? Weibliche Figuren, die mutig sind, manchmal sogar frech, die neugierig die Welt entdecken, Klischees einfach ignorieren?
Das Alarmierende: Eben dieser Film wird als feministisch gefeiert, auch aufgrund des berühmten Bechdel-Tests. Filme bestehen diesen Test, wenn folgende Kriterien zutreffen: Gibt es mindestens zwei Frauenrollen? Sprechen sie miteinander? Unterhalten sie sich über etwas anderes als einen Mann? In jüngeren Varianten des Tests wird zusätzlich gefragt, ob die beiden Frauen im Film einen Namen haben. Der Bechdel-Test wurde in den achtziger Jahren erfunden und nach wie vor herangezogen, um Stereotypisierungen weiblicher Figuren in Spielfilmen zu untersuchen. Der erwähnte Film mit unserer Prinzessin gilt also als feministisch. Gewiss, die Heldin im Film wird nicht wegen des Missgeschicks im Kleid gefeiert. Sie geht anschließend in der Geschichte ihren Weg, findet sich selbst, wehrt sich gegen einen der Jungen. Aber ist das wirklich etwas Besonderes, etwas wirklich Feministisches?
Wir zaubern auch noch im 21. Jahrhundert folgende Bilder in die Köpfe der Mädchen: Ihr werdet, wenn ihr endlich erwachsen seid, mit schlanker Taille – obwohl ihr eine solche Taille auf natürliche Art nie erreichen werdet – also, ihr werdet euch – dann eben mit mittelschlanker Taille, der wirklich schlanken Taille nachhinkend – mit großen, naiven Augen, mit wehendem blondem Haar auf den Weg machen ins Leben, einen Typen ohrfeigen und euch selbst finden.
Während männliche Figuren, auch männliche Fantasie-Figuren wie zum Beispiel Bart Simpson oder Spongebob, völlig absurd sein dürfen, alle Konventionen ignorieren, ausbrechen, anders denken – und auch mal hässlich sein dürfen.
Was ist bloß passiert seit Pippi Langstrumpf? Wo sind ihre Nachfolgerinnen? Weibliche Figuren, die mutig sind, manchmal sogar frech, die neugierig die Welt entdecken, Klischees einfach ignorieren?
Die Professorin Caroline Roeder, Leiterin des Zentrums für Literaturdidaktik Kinder Jugend Medien an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, fasste die Situation in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung treffend zusammen. Sie sagte, dass sich die Mädchenliteratur in den siebziger Jahren emanzipiert hat, dass mehr weibliche Figuren im Mittelpunkt standen und dass es in den achtziger Jahren noch mehr wurden.
„Aber die Galionsfiguren einer frauenbewegten Zeit reichten nicht, um einen Umsturz auf dem gesamten Buchmarkt anzuzetteln“, so Roeder weiter. „Vielleicht waren Ronja und Co. ihrer Zeit voraus – das Pendel scheint nach ihnen jedenfalls wieder in die andere Richtung ausgeschlagen zu haben.“
Es gab vor ein paar Jahren einen Versuch in einem Kindergarten in Aubervilliers, einer kleinen, relativ armen Arbeiterstadt am Rande von Paris. Die Männer in der Fabrik, die Frauen zu Hause oder – wenn sie einen Beruf ausüben – im klassischen Frauenberuf. In diesem Kindergarten wurden Puppenecke und Bau-Ecke aufgelöst, alle Spielsachen willkürlich im Raum aufgestellt. Und plötzlich war es ganz normal, dass Mädchen mit dem Spielzeugbagger imaginäre Löcher gruben, während sich die Jungs in der Puppenküche beschäftigten. Der Versuch ist in diesem Kindergarten Alltag geworden und wurde auch von einigen weiteren Institutionen in Frankreich übernommen.
Wir tragen eine Verantwortung, egal ob wir Kinderbücher schreiben oder vorlesen oder einfach selbst erfundene Gute-Nacht- Geschichten erzählen: Wir sind es, die die Bilder in die Köpfe unserer Kinder setzen.
Daran sieht man, dass Kinder Vorschläge und Ideen aufnehmen, die wir ihnen darbieten. Doch noch suggerieren wir ihnen meist einseitig mit Büchern und Filmen: Ein Mädchen ist eine Heldin und sehr mutig, wenn sie auch einmal ohne die Hand eines Prinzen ein kleines Flüsschen überquert – und ein Junge muss ein Piratenschiff steuern können. So enthalten wir unseren Kindern einiges vor, wie ich finde. Wir sollten ihnen stattdessen vielfältige Vorschläge machen, befreit von Geschlechterklischees. Kinder sind sehr wohl in der Lage, selbst zu wählen, was sie davon behalten möchten und was nicht. Wir tragen eine Verantwortung. Egal ob wir Kinderbücher schreiben oder vorlesen oder einfach selbst erfundene Gute-Nacht-Geschichten erzählen: Wir sind es, die die Bilder in die Köpfe unserer Kinder setzen.
Ich segle größere Boote und kann damit anlegen, ohne die Hilfe eines Prinzen. Ich fahre Beiwagenmotorrad, tauche ziemlich tief, bin Unterwasserfotografin, mache internationale Kampagnen und leite größere Teams. „Ungewöhnlich“, sagen einige. Ungewöhnlich müsste aber doch viel eher sein, dass Männer mich dabei regelmäßig ungefragt beraten wollen – eine für Frauen wohl universale Erfahrung. Ob sich Männer das auch herausnehmen würden, wenn sie mit den Büchern von Prinzessin Lillifee großgeworden wären?
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/meinung/debatte_artikel,-debatte-brauchen-kinderbuecher-neue-heldinnen-frau-stemmer-_arid,1830286.html