„Wir sind die erste Generation, die den Klimawandel vollauf versteht, und die letzte Generation, die in der Lage ist, etwas dagegen zu tun.“ Mit diesen Worten warnte Petteri Taalas, der Generalsekretär der Weltorganisation für Meteorologie, bei der Veröffentlichung des Klimaberichtes für das Jahr 2018 die Welt. Der Sommer hatte einmal mehr Wärmerekorde gebrochen. Unbemerkte Nebenwirkung: geschätzte 20 200 Hitzetote in Deutschland. Laut Lancet Countdown Report on Health and Climate Change aus dem Jahr 2020 liegt Deutschland bei den Schätzungen der Hitzetoten für das Jahr 2018 damit auf Platz drei. Nur China und Indien haben mehr Hitzeopfer.
Die Tendenz ist eindeutig: jährliche Rekordhitzewellen in Australien, dem Westen Kanadas und in den USA, Hitzeperioden in Sibirien. Im Death Valley wurde mit 56,7 Grad eine der höchsten Temperaturen gemessen, die es je auf der Erde gab. Und nun die unvergleichbaren Starkregenfälle mit über 150 Toten in Deutschland, deren Extreme Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen auch unzweifelhaft auf die Klimaerwärmung zurückführen.
Haben wir vollauf verstanden, wissen wir, was wir tun müssen? Und warum tun wir es dann nicht? Wer ist dieses „Wir“ eigentlich? Die Gesellschaft, die Politik, die Verbraucher, die Einzelnen, die großen Konzerne, die Industrie, andere Staaten…? Oft macht sich beim Einzelnen das Gefühl der Ohnmacht breit. Die Suche nach den „richtigen“ Schaltstellen wie nach den „Schuldigen“ bringt uns aber schon zu lange nicht weiter! Wir können uns nicht länger hinter einem kollektiven „Wir“ verstecken.
"Hinter der scheinbar gering steigenden Temperatur verbirgt sich Drama, auch für Deutschland: Sturm, Blitz, Feuer, Starkregen, Infektionen, Allergien, Hitzewellen, Überschwemmungen."
In unseren bislang gemäßigten Breiten klingt die Gradzahl der Erwärmung, die wir schon haben, nach nicht viel. Es geht aber nicht darum, dass das Thermostat des Erdballs ein wenig in die Höhe gedreht wird und die Temperatur – milde und kontrolliert – ein wenig ansteigt. Nein, hinter dem Mittelwert verbirgt sich Drama, auch für Deutschland: Sturm, Blitz, Feuer, Starkregen, Infektionen, Allergien, Hitzewellen, Überschwemmungen. Und Tote wie nun schmerzlich klarwurde.
Ohne Schutz ist Hitze für unseren Körper lebensgefährlich. Spätestens ab einer Körpertemperatur von 42 Grad Celsius denaturieren unsere Eiweiße, das heißt, ein ähnlicher Prozess kommt in Gang wie der beim Braten eines Spiegeleis. Der Prozess ist irreversibel – junge Menschen sind nicht ausgenommen: Vor einiger Zeit verstarb in Augsburg in der Notaufnahme ein Patient, Mitte 40, nachdem er trotz großer Hitze am Nachmittag Bauarbeiten auf einem heißen Hausdach durchgeführt hatte. Todesursache: Überhitzung. Die Anpassungsfähigkeit des menschlichen Körpers ist von Person zu Person sehr unterschiedlich, definitiv aber begrenzt.
Die Gastautorin
Claudia Traidl-Hoffmann ist Direktorin der Umweltmedizin am Universitätsklinikum Augsburg. Sie erforscht die Auswirkung des Klimawandels auf uns Menschen. Mit der Journalistin Katja Trippel schrieb sie das Buch „Überhitzt: Die Folgen des Klimawandels für unsere Gesundheit“. Es erschien im Mai 2021 im Dudenverlag.
Höhere Temperaturen haben gravierende Folgen. Kranke werden kränker und Gesunde groggy. Die Kühlung des Körpers fordert Herz und Lunge – bestehen in diesen Bereichen Vorerkrankungen, verschlimmern sich die Beschwerden. Herzinfarkte und Schlaganfälle nehmen zu. Auch auf den Stoffwechsel, die Reaktionen des Immunsystems, ja sogar die Genesungsprozesse nach Operationen haben höhere Temperaturen Auswirkungen. Der Zustand von Alzheimer- und Demenzpatienten verschlechtert sich. Nicht zuletzt beeinträchtigt Hitze die mentale Gesundheit, macht aggressiver und gewaltbereiter.
Bereits im Hitzesommer 2003 haben europäische Epidemiologen-Teams berechnet, dass 70 000 Menschen in Europa an Hitze gestorben sind. Frankreich hat daraufhin einen vorbildlichen Hitzeschutzplan erarbeitet, der genau vorschreibt, was beim Überschreiten bestimmter Temperaturen unternommen wird: Wetterdienste warnen Gesundheitsbehörden, Schulen und Krankenhäuser, die wiederum Maßnahmen ergreifen, um vulnerable Gruppen zu schützen. Menschen werden an kühle Orte gebracht, mit Wasser versorgt, Medikamentengaben angepasst. Sportveranstaltungen in Schulen bei voller Hitze, zu denen hierzulande regelmäßig Krankenwagen anrollen müssen, fallen aus.
Wir in Deutschland haben unsere Hausaufgaben noch nicht gemacht. Gesundheits-, Umwelt- und Wissenschaftsministerien spielen bei Klimaanpassungsmaßnahmen Verantwortungspingpong. Flächendeckende Hitzeschutzpläne liegen bestenfalls halbfertig in Schubladen. Dabei wären diese relativ kostengünstig. Weitere Maßnahmen werden erforderlich sein, teure Maßnahmen, um unsere Lebensumfelder so umzugestalten, dass sie sowohl uns als auch dem Klimaschutz gerecht werden.
Viele unserer Städte sind gegen Hitze nicht gut gerüstet. Bei langanhaltenden Hitzeperioden werden Städte mit ihrem wärmespeichernden baulichen Mix aus Stahl, Glas und Beton zu Hitzeinseln, in denen die Temperaturen um bis zu zehn Grad höher liegen können als auf dem Land. In der Nacht kühlen sie nicht mehr herunter, rauben den Menschen in sogenannten Tropennächten mit über 20 Grad den Schlaf.
Frischluftschneisen, Parks-, Dach- und Fassadenbegrünung, Bebauungskonzepte, die wie ein Schwamm Wasser speichern, könnten Abhilfe schaffen. Billig ist das nicht. Ebenso wenig wie die baulichen Anpassungen an Starkregenereignisse. Aber diesen Preis sollten wir bereit sein, zu zahlen.
Kostenargumente spielen bei Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels immer wieder eine Rolle. Eine Studie der Schweizerischen Rückversicherungs-Gesellschaft Swiss-Re hat aufgrund der dafür anfallenden Kosten ein Schrumpfen der Weltwirtschaft um vier Prozent prognostiziert. Falls wir jedoch nichts tun, werden die Folgen noch viel gravierender sein: Deutschland hätte Einbußen von elf Prozent, andere Länder sogar bis zu 40 Prozent Rückgang.
Was können wir, was müssen wir also tun? Ja, wir müssen an den großen Stellschrauben drehen, an denen nur die Politik drehen kann. Wir brauchen Hitzeschutzpläne zur Anpassung ebenso wie Regeln, die uns davon abhalten, weiterhin unsere Lebensgrundlagen zu vernichten, die den CO2-Ausstoß begrenzen und die uns verbindliche Korridore ausweisen.
Ja, wir brauchen eine Wirtschaft, die die Transformation von Gewinnmaximierung hin zu nachhaltigem Kreislauf-Wirtschaften schafft und die das Erfolgspotenzial, das darin liegt, ausschöpfen möchte. Ja, wir brauchen verändertes Verhalten von jedem Einzelnen: das Reduzieren der eigenen CO2-Fussabdrücke, weniger Fleisch, weniger Flüge, weniger und gezielteren Konsum. Wir müssen endlich bewusstere und auch klimagerechtere Entscheidungen treffen.
Nicht zuletzt brauchen wir ein Umdenken, das dafür sorgt, dass die Probleme, die unter anderem durch unsere ignorante Haltung gegenüber der Natur, unsere Vorstellungen von Fortschritt und Erfolg, von Wohlstand und Glück entstanden sind, nicht mit den Mitteln bekämpft werden, die diese Problematiken fortschreiben.
Wir sind nicht machtlos. Es gibt bereits viele Ansätze zum notwendigen Aufbruch. Ich sehe ihn bei meinen Kolleginnen und Kollegen, die Klimasprechstunden anbieten, sich mit dem Thema auseinandersetzen, Schulungen besuchen. Ich höre über den Aufbruch im Radio, wenn mir ein Bericht zeigt, wie unterschiedlichste Menschen im Rahmen des Bürgerklimarates in gemeinsamem Ringen durch Information und Diskussion zu dem Schluss kommen, dass wir noch mehr tun müssen für den Klimaschutz und unbequeme Empfehlungen geben – für die Zukunft ihrer Kinder und Enkel.
Wir können nicht mehr warten, bis geklärt ist, wer von allen Akteuren am effektivsten handeln könnte. Wir brauchen alle: Wir brauchen Vordenkerinnen und Innovatoren, wir brauchen Macherinnen und Macher, die Veränderung anstoßen und begleiten, wir brauchen Zivilcourage, wie sie die jungen Menschen von „Fridays for Future“ gezeigt haben. Wir brauchen Menschen, die sich mit auf den Weg machen. Wir brauchen Menschen, die ihre Mitmenschen sehen und bei Hitze mit einer Wasserflasche in der Hand bei der älteren Nachbarin vor der Tür stehen. Wir alle können Multiplikatoren sein, an genau der Stelle, wo wir jetzt stehen.
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