Debatte

Wie können Eltern ihren Kindern ein Anker sein, Herr Omer?

Eltern sehen sich heutzutage mit vielen Herausforderungen konfrontiert. Wie es ihnen trotzdem gelingt, ihr Kind auf dem Weg zum Erwachsenwerden gut zu begleiten, zeigt Haim Omer. Und auch, was das mit Selbstfürsorge zu tun hat. Ein Gastbeitrag

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Haim Omer
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Für das eigene Kind da sein, es auf dem Weg zum Erwachsenwerden gut begleiten: Das ist gar nicht immer so einfach. Eltern schaffen das nur, wenn sie trotz aller Herausforderungen auch ihr eigenes Wohl im Blick haben. © Istock

Eltern brauchen Mut. Sie brauchen Mut, um ihre Kinder zu erziehen. Sie brauchen Mut, um klar und entschieden „Nein“ zu sagen. Sie brauchen Mut, um ihre Kinder vor einer ganzen Flut von schädlichen Einflüssen zu schützen. Sie brauchen Mut, um sich Unterstützung und Hilfe zu holen. Sie brauchen Mut, um ihren eigenen Werten treu zu bleiben. Und sie brauchen auch Mut, um ihren eigenen Bedürfnissen nachzukommen.

Kinder brauchen einen starken Anker – von Geburt an und bis sie als Erwachsene das elterliche Haus verlassen (oder auch nicht). Und manchmal auch darüber hinaus.

Nie zuvor waren Kinder mit einem Übermaß an Reizen so konfrontiert wie heute. Stellen Sie sich vor: In allen Entwicklungsphasen gibt es Wellen, die drohen, das heranwachsende Kind wegzutreiben. Kinder sind einem stetigem Strom von Gefahren, Emotionen, Einflüssen und Versuchungen ausgesetzt – und die Eltern sind es hauptsächlich, die das Kind sichern und stabilisieren können.

Eltern können das Verhalten ihres Kindes nicht kontrollieren. Aber sich selbst schon

Aber um dies zu schaffen, müssen Eltern zunächst einmal sich selbst stabilisieren. Um im Bild zu bleiben: Ein Anker muss zuerst einen Grund finden, er muss fest im Boden stecken, um standhalten zu können. Findet er diesen Grund nicht, wird er auch das Schiff nicht verankern, nicht sichern können – sondern nur hinter ihm her treiben.

Eltern können ihre Ankerfunktion verbessern – oder wiedergewinnen –, indem sie ihre Präsenz offenbaren, ihre Selbstkontrolle stärken und sich auch Unterstützung holen.

Was heißt nun „Präsenz offenbaren“? Präsenz, das ist das Gefühl, das das Kind bekommt, wenn die Eltern sich so verhalten, dass sie die Botschaft vermitteln: „Ich bin deine Mutter. Ich bin dein Vater. Ich bin da und ich bleibe da. Du kannst mich nicht wegschieben oder ignorieren. Ich gebe dich nicht auf. Du bist mir zu wichtig.“

Es ist das Verhalten der Eltern – und nicht nur ihre Worte –, das diese Botschaft klar macht. Wenn Eltern dies gelingt, dann sind sie immer da – genauso wie der Anker in der Tiefe – und das wird von ihren Kindern auch so wahrgenommen. Dann ist es der elterliche Anker, der dem Kind Sicherheit bringt. Damit es den Strömungen der Zeit nicht ausgeliefert ist.

Eltern haben an Autorität eingebüßt. Ihre Rolle ist heutzutage nicht mehr klar definiert

Wie aber können Eltern ihre Selbstkontrolle stärken? Hier gibt es drei wichtige Punkte oder Mantras, die für Eltern oft hilfreich sind, um sich besser beherrschen zu können.

Das erste Mantra ist: „Schmiede das Eisen, wenn es kalt ist!“ Es ist immer besser, nicht sofort zu reagieren – besonders wenn Eltern verärgert oder provoziert sind. Sie können dann sagen: „Ich werde mir meine Reaktion überlegen. Ich komme darauf zurück.“ Und wenn sie später dann ihre Entscheidung mitteilen, zeigen sie dem Kind damit auch, dass sie Wort halten.

Das zweite Mantra der Selbstkontrolle ist: „Du kannst das Kind nicht kontrollieren, aber dich selbst schon!“ Das ist etwas, das Eltern meist schnell verstehen. Können sie die Gefühle des Kindes kontrollieren? Bestimmt nicht! Können sie die Gedanken des Kindes kontrollieren? Nein. Und auch das Verhalten des Kindes können sie nicht kontrollieren. Vielleicht können sie das Kind zu etwas zwingen, wenn sie die Macht haben und auch bereit sind, diese auszuüben (die Resultate sind dann aber meist höchst problematisch).

Aber bezwingen, das heißt nicht kontrollieren. Denn in dem Moment, in dem das Kind sich nicht unter Beobachtung fühlt, wird es tun, was es will – und sehr oft wird das genau das Gegenteil sein von dem, was die Eltern wollen.

Der Gastautor



  • Haim Omer ist ein israelischer Psychologe, emeritierter Professor und Autor. Zuletzt war er Lehrstuhlinhaber für Klinische Psychologie an der Universität Tel Aviv.
  • Er entwickelte das Konzept der „Neuen Autorität“ in den Bereichen Beratung, Erziehung, Schule und Gemeinwesen und ist Gründer der Bewegung „NVR“ (non-violent resistance – gewaltloser Widerstand).
  • Haim Omer wurde 1949 in Brasilien als Sohn von Holocaust-Überlebenden geboren. 1967 wanderte er nach Israel aus, wo er bis heute lebt. Er hat fünf Kinder.
  • Sein neues Buch „Mutige Eltern: Wie Sie Ihren Kindern ein guter Anker sein können“ ist im August bei Vandenhoeck & Ruprecht erschienen.
  • Info: Mehr Informationen unter haimomer-nvr.com

Aber Eltern können sich selbst kontrollieren. Dann ändert sich auch ihre Botschaft dem Kind gegenüber. Anstatt dem Kind zu sagen, „Du machst, was ich sage“, sagen sie jetzt: „Wir machen, was wir sagen!“ Und dadurch wird sich die ganze Beziehung ändern, es gibt dann kein Tauziehen mehr.

Mit einer solchen Aussage, einer solchen Haltung stärken Eltern sich selbst den Rücken. Dann sind sie nicht mehr abhängig von der Reaktion ihres Kindes, sondern können sich auf sich selbst verlassen. Und schon bald werden sie bemerken, wie die Wahrscheinlichkeit zunimmt, dass das Kind kooperiert.

Das dritte Mantra der Selbstkontrolle lautet: „Du muss nicht gewinnen, nur beharren.“ Dadurch lernen Eltern – anstatt zu versuchen, dem Kind etwas aufzuzwingen –, zu zeigen, dass sie bereit sind, weiterzumachen in ihrer Elternschaft, heute, morgen und nächste Woche. Denn Veränderungen finden allmählich statt – besonders dann, wenn Eltern nicht aufgeben. Durchhaltevermögen bedeutet dabei auch die Bereitschaft, bei der Suche nach Lösungen nicht aufzugeben, positive Entwicklungen wahrzunehmen – und sich auch über kleine Fortschritte zu freuen.

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Eins der wichtigsten Dinge für Eltern ist Unterstützung. Eltern, die allein sind, die auf sich gestellt sind, sind dadurch geschwächt. Sie neigen eher zu Eskalation, fühlen sich öfter gegen die Wand gedrängt. Um es in unserem Anker-Bild zu sagen: Ein Anker kann halten, weil er drei Haken hat. Ein Anker mit nur einem Haken wäre aber deutlich weniger stabil. Genauso verhält es sich mit einem einsamen Elternteil.

All die Dinge, die ich bis hierhin erwähnt habe, erfordern Mut. Eltern brauchen Mut, wenn ihr Kind Verhaltensmuster wie Gewalt, Zornausbrüche oder Impulsivität zeigt. Wenn es Angst hat oder sich zurückzieht, wenn es lügt, schlechte Freunde hat oder Schulprobleme. Oder wenn es gar destruktive Handlungen zeigt, die es vielleicht sogar selbst gefährden.

Ein traditionelles afrikanisches Sprichwort besagt, dass man ein ganzes Dorf braucht, um ein Kind großzuziehen. Heutzutage sind Eltern jedoch viel isolierter als früher. Die Großfamilie ist geschrumpft, die Scheidungsrate und die Anzahl alleinerziehender Eltern sind dagegen stark gestiegen. Die Kleinfamilie, die wir heute kennen, lebt oft isoliert in ihrer Wohnung.

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Eltern sind auch dadurch geschwächt, dass sie aufgrund eines Wertewandels in der Gesellschaft nicht mehr in gleicher Weise Autorität ausüben können wie früher. Eltern haben an Autorität eingebüßt. Ihre Rolle ist heutzutage nicht mehr klar definiert.

Und wenn Eltern, wenn das Kind einfach nicht hören will, in ihrer Verzweiflung doch wieder zu den alten Methoden greifen, dann ernten sie einen Aufschrei der Empörung – was sie nur noch mehr verunsichert.

Die Rolle von Eltern ist heute also viel vager als in der Vergangenheit. Situationen, die früher nie als elterliches Scheitern angesehen wurden, sorgen heute dafür, dass Eltern als problematisch gelten.

Denken wir einmal an die Geschichte von Pinocchio. Früher hätte niemand Gepetto für Pinocchios Probleme verantwortlich gemacht. Im Gegenteil! Gepetto war ein Ausbund an Liebe und Hingabe.

Aber die Gepettos von heute werden beschuldigt, vielleicht mit Sätzen wie: „Bestimmt hat dieser Gepetto eine schlechte Beziehung zu seinem Kind, anders würde es nicht solch schlechte Freunde haben!“ Diese Kritik gegen Eltern ist heute Mode. Noch schlimmer ist die Kritik gegen Lehrer. Doch beides ist schädlich.

Alle fragen, was das Kind braucht. Das ist wichtig. Aber nicht weniger wichtig ist: Was brauchen Sie als Eltern?

Damit Eltern aus ihrer Verunsicherung herauskommen können, brauchen sie ein klares Ziel, eine leitende Idee, die ihnen als Kompass dient. Hier kommt die Idee der elterlichen Präsenz ins Spiel.

Um sie zu erreichen, können sich Eltern an Leitsätze wie diese halten: „Streben Sie nach Stärke – anstatt nach Macht.“ „Bleiben Sie nicht alleine – holen Sie sich Unterstützung.“

Und vielleicht zum Schluss noch ein Leitsatz, der nicht besonders der heutigen Mode zu entsprechen scheint: „Was brauche ich?“ Alle fragen, was das Kind braucht. Das ist wichtig. Aber nicht weniger wichtig ist: Was brauchen Sie als Eltern? Was brauchen Sie – auch, um ihrem Kind besser geben zu können, was es braucht?

Elterliche Autorität besteht nicht mehr aus erhobener Faust oder harter Bestrafung. Es geht darum, liebevolle Grenzen zu setzen. Und mit dem Kind verbunden zu sein. Sein Anker zu bleiben.

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