Verlernen wir das Denken, Herr Leipner?

ChatGPT und Co. sind bereits Alltag. Doch kaum jemand fragt, wie sie unser Bewusstsein verändern. Buchautor Ingo Leipner versucht, eine Antwort zu geben. Ein Gastbeitrag

Von 
Ingo Leipner
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Merken wir eigentlich, was ChatGPT mit uns anstellt? Die Frage begegnet uns schon in einer einfachen Situation: Wir sind mit unseren Ideen für eine Headline unzufrieden, da „schenkt“ uns das System eine überraschende Überschrift – auf Knopfdruck! Das sorgt für ein kurzes Glücksgefühl … Doch wer am Rechner sitzt, versäumt wieder eine Gelegenheit, ein paar Minuten sein Bewusstsein zu trainieren, indem er die richtigen Worte sucht. Das kann nicht ohne Folgen bleiben.

Zum Gastautor Ingo Leipner

  • Diplom-Volkswirt Ingo Leipner, Journalist und Buchautor (Textagentur EcoWords, www.ecowords.de), ist ein gefragter Referent zur digitalen Transformation der Gesellschaft. Der Debatten-Beitrag gibt in gekürzter Form wesentliche Inhalte aus seinem neuen Buch wieder: „KI-Angriff auf das Bewusstsein. Eine Kritik der künstlichen Vernunft“ (Info3, 2024).
  • Drei seiner Bücher beschäftigen sich mit den Schattenseiten digitaler Bildung: „Die Lüge der Digitalen Bildung“ (Redline, 2015); „Heute mal bildschirmfrei“ (Knaur, 2018); „Die Katastrophe der digitalen Bildung“ (Redline, 2020).
  • Leipner ist ebenfalls tätig als leitender Redakteur beim regionalen Wirtschaftsmagazin „econo“ . An der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) hat er Lehraufträge, etwa „Makroökonomie“ sowie „Geld und Währung“. In der Wirtschaft gibt er Seminare zum „Professionellen Schreiben“

„Use it, or lose it“, heißt es im Sport. Etwas frei übersetzt: „Trainiere – sonst verlierst Du Deine Muskeln“. Ein Sachverhalt, der unmittelbar einleuchtet, wenn es um Leichtathletik geht. Was aber für die Muskulatur gilt, ist genauso wichtig für das Gehirn. Das Phänomen nennt sich Neuroplastizität: Sie ist der entscheidende Faktor, damit kognitive Fähigkeiten entstehen und erhalten bleiben, und zwar vom ersten Schrei bis ins hohe Alter. Dabei entwickeln sich immer „breitere“ Wege im Gehirn, auf denen Milliarden von Synapsen kommunizieren.

Verstand schärfen, indem wir neuronale Verbindungen nutzen

Doch diese neuronalen Verbindungen müssen wir ständig nutzen, damit sie wachsen und immer besser arbeiten. So schärfen wir unseren Verstand; die Neuroplastizität ist ein physiologischer Mechanismus, den Menschen dringend brauchen.

Umgekehrt bedeutet das: Erlahmt die Neuroplastizität, kann das negative Auswirkungen auf unsere kognitive Leistungsfähigkeit haben. Sobald KIs wie ChatGPT die Notwendigkeit verringern, selbst um die richtigen Worte zu ringen, fehlt auf Dauer ein geistiges Training. Verlernen wir dann neben den Schreiben auch das Denken?

Wenn es doch nur Überschriften wären … Inzwischen gibt es eine umfangreiche Ratgeber-Literatur, die Schülern, Studierenden und Lehrern erklärt, wie sie am besten ChatGPT einsetzen. Das trifft natürlich auch auf Journalisten, Marketing- und PR-Spezialisten zu. Kurzum: alle Menschen, die mit Schreiben ihren Lebensunterhalt verdienen. Warum fasziniert uns diese Technologie so sehr?

Die Faszination ist groß, weil ChatGPT eine Abkürzung für eine gedankliche Arbeit bietet, die mit mancher Mühe verbunden sein kann. Vielen Menschen fällt das Schreiben nicht leicht, legendär ist die Angst vor dem leeren Bildschirm. Da bietet die KI die (Er-)lösung, zumal sie eine scheinbare Allmacht umgibt, fast wie eine religiöse Aura: Endlich fallen die Worte „vom Himmel“, endlich entstehen Texte bequem auf Knopfdruck – und die Mühen des Schreibens sind Vergangenheit.

Natürlich muss sich ein Promptologe im Dialog mit ChatGPT langsam vorantasten – mit immer präziseren Prompts (Eingaben), die zur gewünschten Struktur und Tonalität des Textes führen. Dabei muss er aufpassen, nicht auf KI-Halluzinationen hereinzufallen; seine Rolle als Lektor hat er sehr ernst zu nehmen. Zum Beispiel bei einer Hausarbeit an der Universität: Geschickte Prompts lotsen Kapitel für Kapitel durch den Text, bis nur noch der Name des Prüflings auf dem Deckblatt authentisch ist. Das fällt bisher kaum auf; es sei denn, eine KI prüft den Text auf Spuren smarter Kollegen. Daher suchen jetzt Schule und Universität völlig neue Prüfungsformate, die KI-resistent sein könnten.

Das Dilemma ist gewaltig, was auch eine Karikatur in der „Frankfurter Rundschau“ zeigt: Ein Vater steht an der Zimmertüre und hört, wie sein Sohn mit einem Laptop redet. „Hallo KI. Warum muss ich Schreiben und Lesen lernen, wenn ich dir alles diktieren und du mir alles vorlesen kannst?“, sagt dieser. Unter der Zeichnung stehen nur zwei Worte: „Pädagogische Schrecksekunden“.

Wie sieht es der Umgang mit ChatGPT aus?

Wie lässt sich der Schrecken überwinden? Indem wir uns auf einen handlungsorientierten Ansatz einlassen, wenn es um Bildung, Lernen und Schreiben geht. Der Erziehungswissenschaftler Jost Schieren stellt fest: „Das Subjekt bestimmt sich selbst in seinem Handeln auf Grundlage der erworbenen Einsichten.“ Das Zauberwort heißt „Handeln“; Schieren ist Professor für Schulpädagogik an der Alanus Hochschule in Bonn.

Handlungsorientierung bedeutet: Lernen kann nur erfolgreich sein, „wenn der Mensch möglichst aktiv daran beteiligt ist“, so Schieren. Daher sei Lernen kein „rezeptives, passives Aufnehmen von Stoff“, wie es das Bild vom „Nürnberger Trichter“ nahelegt. Damit verbindet sich die ironische Vorstellung, jeden Schüler mit Wissen abfüllen zu können, egal wie intelligent und lernwillig er ist. Was für ein Irrtum! Denn laut Schieren handelt es sich beim Lernen um einen „aktiven, personalen und auch emotionalen Prozess“. Schon der Pädagoge Heinrich Pestalozzi (1746 bis 1827) fand dafür die berühmte Formulierung: „Lernen mit Kopf, Herz und Hand“.

Wie sieht aber der Umgang mit ChatGPT aus? Prompts sind eine Scheintätigkeit, verglichen mit der Anstrengung, ein Themengebiet durch eigene geistige Arbeit zu erobern. Dazu zählt es, Schwerpunkte und Prioritäten zu setzen sowie an eigenen Formulierungen zu feilen, wobei eine hohe Motivation aufrecht zu erhalten ist. Schreiben ist Lernen, gerade im Bildungsbereich.

Der Promptologe verfeinert lediglich seine Fähigkeit, ChatGPT immer genauere Anweisungen zu erteilen. Vielleicht vergleichbar mit einem Koch, der immer genauere Rezepte aus einem Kochbuch vorlesen würde – und einen Kollegen am Herd stehen lässt, damit er die Speisen gut abschmeckt. Wer ist in dieser Küche das „handelnde Subjekt“, an das Schieren denkt?

Die KI liefert uns in einer scheinbar funkelnden Qualität Ergebnisse, die zwar zu verbessern sind, aber von uns nur verlangen, in die Rolle eines Pseudo-Lektors zu schlüpfen. Denn: Kaum ein Gedanke entspringt mehr unserem eigenen Denken. Auf diese Weise dominieren Resultate, und der eigentliche Prozess bleibt unsichtbar, versteckt hinter der KI-Fassade. Vor allem ist es nicht unser eigener Prozess; der Promptologe agiert nicht „aktiv“: Eine Entfremdung von der eigentlichen Arbeit setzt ein, wodurch der „personale und emotionale Prozess“ (Schieren) austrocknet, wodurch auch die Neuroplastizität auf der Strecke zu bleiben droht. Pestalozzis Ideen lösen sich in Rauch auf.

Hinzu kommt: Je mehr wir beim Schreiben kognitive Prozesse an KIs delegieren, desto größer wird das Risiko, dass die intrinsische Motivation leidet. So kann die wichtige Identifikation mit der eigenen Arbeit verlorengehen. Denn: Wenn wir ein Wort innerlich denken und selbst tippen, hat es für uns einen höheren Wert als ein Wort, das die KI erzeugt. Es sei denn, der Schreibprozess wird als Qual erlebt, wie es bei manchen Menschen der Fall ist. Doch es kann auch eine seelische Lernaufgabe sein, Frustration auszuhalten und sich zum Schreiben durchzuringen.

Kaum ein Schreibprozess verläuft lineaer

Wichtig: Kaum ein Schreibprozess verläuft linear! Sätze werden revidiert und durch neue Formulierungen ersetzt. Einzelne Tätigkeiten überlappen sich, alle Prozesse lassen sich beliebig wiederholen, frühere Aktivitäten vermischen sich mit späteren, jede neu gewählte Formulierung gibt den Anstoß für weitere Formulierungen – und alle diese Prozesse können gleichzeitig erfolgen!

Eine großartige Leistung voller Faszination, die bereits bei Alltagstexten zu spüren ist – und in wenigen Fällen mit dem Literatur-Nobelpreis geehrt wird. Vielfältig sind dazu die Fähigkeiten: Kreatives Denken, Offenheit für Inspirationen, Zähigkeit und Durchhaltekraft, Konzentration, kritisches Hinterfragen, Empathie … wahrscheinlich lässt sich diese Liste noch weiter fortsetzen.

Leider könnte es bald eine rote Liste bedrohter Kompetenzen sein! Der Grund: Wir gewöhnen uns daran, die Dienste von ChatGPT jederzeit in Anspruch zu nehmen. Da eine Zusammenfassung, dort eine Headline … ab und zu ein kurzer PR-Text, dann wieder eine komplette Gliederung, natürlich „nur“ als Inspiration. So nistet sich die KI im Arbeitsalltag ein – mit erst kaum spürbaren Konsequenzen, die aber später gewaltig sein könnten.

Fazit: Jeder Knopfdruck-Text der Künstlichen Intelligenz verhindert, dass Menschen über ihre Worte tiefer nachdenken. Ein Angriff auf das Bewusstsein, weil der Mensch geistige Räume zum Üben verliert – genauso wie ein Sportler, der sein Training vernachlässigt. Schreiben ist ein geistiger Prozess, der viel zu wertvoll ist, um ihn an einen Computer zu delegieren. Denn: Was das Navi mit unserer Fähigkeit des Kartenlesens angerichtet hat, ist ein Klacks gegenüber den tiefen Furchen, die ChatGPT durch unser Bewusstsein pflügen könnte.

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