"MM"-Debatte

Wie hat der Terror die Welt verändert, Herr Berg?

Vor 20 Jahren haben die Anschläge in New York die Welt erschüttert – nicht ohne Folgen. Der 11. September 2001 und der „Krieg gegen den Terror“ haben das Ende der globalen westlichen Dominanz beschleunigt, meint USA-Experte Manfred Berg. Ein Gastbeitrag.

Von 
Manfred Berg
Lesedauer: 
Die Gedenkstätte „9/11 Memorial“ am Ground Zero in New York erinnert an die Terroranschläge auf das World Trade Center im September 2001 und ihre Opfer. © Istock

„Der gestrige Tag“, schrieb die New York Times am 12. September 2001, sei „einer jener Momente, in denen die Geschichte sich teilt und wir die Welt als ‚vorher’ und ‚nachher’ definieren“.

Am Tag zuvor hatten Angehörige der islamistischen Terrororganisation Al Qaida zeitgleich vier Passagierflugzeuge entführt und drei von ihnen in die Zwillingstürme des New Yorker World Trade Centers beziehungsweise das US-Verteidigungsministerium bei Washington, D.C., gesteuert. Das vierte Flugzeug stürzte über Pennsylvania ab, weil todesmutige Passagiere die Entführer überwältigten, bevor die Maschine das Weiße Haus erreichte. Insgesamt kamen bei den Anschlägen des 11. September rund 3000 Menschen ums Leben.

Der Kollaps der Twin Towers schuf eine überwältigende ikonische Szenerie, die dazu geeignet war, sich – ähnlich wie die Atompilze über Hiroshima und Nagasaki im August 1945 – dem kollektiven Gedächtnis der gesamten Menschheit als Beginn eines neuen Zeitalters einzuprägen.

Der Gastautor

Manfred Berg ist Curt-Engelhorn-Professor für Amerikanische Geschichte an der Universität Heidelberg. Durch zahlreiche USA-Aufenthalte, darunter ein fünfjähriger Forschungsaufenthalt am Deutschen Historischen Institut in Washington, D.C., lernte er das Land auch von innen kennen. Er forscht unter anderem zur Geschichte der Demokratie und ihrer Gefährdungen. Berg ist Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.

Doch markiert „9/11“, wie das schnell geprägte Kürzel für den Tag des Terrors seither lautet, tatsächlich eine historische Zäsur? Die Antworten auf diese Frage ändern sich mit wachsendem zeitlichen Abstand. Vor zehn Jahren relativierten zahlreiche Kommentatoren den Zäsurcharakter des 11. September 2001 und betonten, dass sich weder die Welt noch unser Alltag grundlegend verändert hätten. Weitere zehn Jahre später zwingt uns die schmähliche Flucht der USA und ihrer Verbündeten aus Afghanistan, wo die Anschläge geplant worden waren, erneut über ihre Auswirkungen nachzudenken.

Nehmen wir zu diesem Zweck an, die Sicherheitskontrollen an den Flughäfen in Boston, Washington, DC, und Newark hätten am Morgen des 11. September 2001 funktioniert und das World Trade Center stünde heute noch an der Südspitze Manhattans. Wie dann die folgenden Jahrzehnte verlaufen wären, muss Spekulation bleiben. Doch lassen sich einige plausible Aussagen darüber treffen, was höchstwahrscheinlich nicht passiert wäre. Der Fokus meines „Gedankenexperiments“ sind die USA, denn sie waren das Ziel des Angriffs, sie sollten gedemütigt und provoziert werden.

Weg frei für Afghanistan-Invasion

Ohne 9/11 wäre es, davon bin ich überzeugt, weder zu einer US-Invasion Afghanistans noch des Iraks gekommen. Die Amerikaner hatten Afghanistan nach dem Abzug der Sowjets sich selbst überlassen, niemand dachte daran, das Land mit militärischen Mitteln von den Taliban zu befreien oder gar in eine Nation nach westlichem Vorbild umzuformen. Nach dem 11. September wurde Afghanistan nicht nur zur vordersten Front im „Global War on Terror“ sondern darüber hinaus zum „Nation-Building“-Projekt des Westens, dessen Scheitern wir gerade mitansehen.

Das Argument, 9/11 dürfe sich unter keinen Umständen wiederholen, war Propagandainstrument bei der Vorbereitung des Irak-Kriegs.
Manfred Berg Historiker

Eine militärische Option gegen den Irak plante die George W. Bush-Administration dagegen nachweislich bereits vor 9/11. Aber ohne die Terroranschläge wäre es Bush und den „Falken“ unter seinen Beratern kaum gelungen, die nötige innenpolitische Unterstützung, geschweige denn eine „Koalition der Willigen“, für die völkerrechtswidrige Invasion zu mobilisieren. Erst der 11. September 2001 eröffnete der Bush-Regierung die Chance, die große Mehrheit der Amerikaner wahrheitswidrig davon zu überzeugen, der irakische Diktator Saddam Hussein sei in die Anschläge verwickelt gewesen und werde nicht zögern, Terroristen mit Massenvernichtungswaffen auszurüsten. Das Argument, 9/11 dürfe sich unter keinen Umständen wiederholen, war innenpolitisch das wirksamste Propagandainstrument bei der Vorbereitung des Irak-Kriegs.

Mehr zum Thema

Debatte

Gelten in unserer Gesellschaft die gleichen Chancen für alle, Herr Altieri?

Veröffentlicht
Von
Riccardo Altieri
Mehr erfahren
"MM"-Debatte

Müssen wir immer glücklich sein, Frau Cerutti?

Veröffentlicht
Von
Franca Cerutti
Mehr erfahren
"MM"-Debatte

Wie können wir vor Ort die Welt verändern, Herr Wenzel?

Veröffentlicht
Von
Eike Wenzel
Mehr erfahren

Außenpolitisch bedeuteten die Terroranschläge von 2001 eine scharfe Zäsur für die amerikanische Weltmacht. Buchstäblich von einem Tag auf den anderen erhielt der Kampf gegen den Terrorismus absolute Priorität. Sicherheitspolitisch erschien dies nachvollziehbar, doch verbanden sich mit dem globalen Krieg gegen den Terror militärische und ideologische Ziele, die auf eine weltweite Pax Americana – eine globale Friedensordnung unter Führung der USA – hinausliefen. Neokonservative Einpeitscher riefen gar den „Endkampf gegen das Böse“ aus, in dem der Zweck alle Mittel heiligte, einschließlich massiver Menschenrechtsverletzungen und Präventivkriege. Auch wenn das Projekt einer amerikanisch dominierten, demokratischen Weltordnung eine lange Tradition hat, so war die Radikalität, mit der es nach 9/11 betrieben wurde, doch neu. Dass der „Global War on Terror“ die USA in ein militärisches, moralisches und politisches Desaster geführt hat, ist nicht erst in den letzten Wochen offenkundig geworden. Einer neuen Studie der Brown University zufolge betragen die Kosten für die Kriege in Afghanistan und Irak 6,5 Billionen Dollar. Mindestens 800 000 Menschen verloren durch militärische Gewalt ihr Leben, darunter circa 7000 US-Soldaten. Schätzungsweise 35 Millionen Menschen wurden zu Flüchtlingen. Die Region von Nordafrika bis zum Hindukusch ist instabiler denn je. Von demokratischen Leuchttürmen ist weit und breit nichts zu sehen, während das westliche Bündnis und die USA gedemütigt und geschwächt dastehen.

Von Solidarität zu Antiamerikanismus

Die anfängliche Solidarität mit Amerika wich angesichts der Berichte über die systematische Folter von Gefangenen und die unzähligen Opfer unter der Zivilbevölkerung, die der Krieg gegen den Terror forderte, rasch einem globalen Antiamerikanismus.

Auch auf die politische Kultur der USA hatte der Tag des Terrors profunde Auswirkungen. Die Bush-Administration proklamierte eine neue Verfassungsdoktrin, der zufolge der Präsident in Fragen der nationalen Sicherheit praktisch über dem Gesetz stehe. Obwohl dieser beispiellose Machtanspruch mit den Traditionen der „checks and balances“ – also der in der US-amerikanischen Verfassung festgeschriebenen Gewaltenteilung, die eine gefährliche Machtkonzentration verhindern soll – völlig unvereinbar war, leisteten Kongress und Öffentlichkeit jahrelang kaum Widerstand.

Der Schock über die Terroranschläge saß so tief, dass viele Amerikaner bereit waren, tiefgreifende Einschränkungen ihrer Freiheitsrechte in Kauf zu nehmen. Der patriotische Schulterschluss währte nur kurz, denn einiges spricht dafür, dass 9/11 die innenpolitische Polarisierung weiter angefacht hat. Die Terroranschläge waren Wasser auf die Mühlen eines wütenden Nationalismus, der den Krieg gegen den Terror vor allem als Abwehrkampf gegen den Islam betrachtete, ansonsten aber die Lust an der weltpolitischen Führungsrolle verloren hat. Donald Trump gab dieser Stimmung eine authentische Stimme.

Was vorher eine abstrakte Bedrohung war, hatte danach für uns alle spürbare Folgen, beim Reisen, beim Umgang mit persönlichen Daten oder beim Besuch von Großveranstaltungen.
Manfred Berg Historiker

Kein Ereignis markiert eine historische „Stunde Null“, immer gibt es Kontinuitäten und längerfristige Trends. Dennoch gehört 9/11 in die Kategorie der unerwarteten Geschehnisse, die scharfe Zäsuren und unkontrollierbare Kettenreaktionen auslösen. Die Gefahr des Terrorismus war zwar schon vor 2001 präsent, aber der 11. September hat ihr eine völlig neue Dimension gegeben. Was vorher eine abstrakte Bedrohung war, hatte danach für uns alle spürbare Folgen, beim Reisen, beim Umgang mit persönlichen Daten oder beim Besuch von Großveranstaltungen. Und auch wenn es überzogen erscheint, vom „Krieg der Kulturen“ zu sprechen: Der islamistische Terrorismus und der „Global War on Terror“ haben Misstrauen zwischen dem Westen und der islamischen Welt sowie gegenüber Muslimen in Europa und den USA gesät. Die Integration muslimischer Einwanderer hat dies nicht leichter gemacht.

Amerika und der Westen sind in die von Al Qaida gestellten militärischen und moralischen Fallen getappt.
Manfred Berg Historiker

Osama bin Laden ist seit zehn Jahren tot, doch im Rückblick lässt sich kaum übersehen, dass das Kalkül des Terrors zu einem Gutteil aufgegangen ist. Amerika und der Westen sind in die von Al Qaida gestellten militärischen und moralischen Fallen getappt. Sie haben sich in nicht gewinnbare Kriege und zum Scheitern verurteilte Demokratisierungsmissionen locken lassen. Gab es Alternativen? Wohl nur in der Theorie, denn dass die verletzte und nach Vergeltung dürstende Supermacht USA auf den Einsatz ihrer ungeheuren militärischen Macht verzichten würde, war kaum eine realistische Vorstellung.

Zugleich aber verlangte die westliche Öffentlichkeit, dass der Krieg gegen den Terror auch hehren Zielen dienen müsse. Aber statt eine globale Pax Americana zu begründen, hat der „Global War on Terror“ die imperiale Überdehnung der Supermacht USA offengelegt. Das Zeitalter der globalen westlichen Dominanz geht unwiderruflich zu Ende, und 9/11 wird künftig wohl als Meilenstein dieses welthistorischen Umbruchs gesehen werden.

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen