Debatte

Gelten in unserer Gesellschaft die gleichen Chancen für alle, Herr Altieri?

Menschen werden im Alltag nicht nur aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer Hautfarbe diskriminiert, sondern auch wegen ihrer sozialen Herkunft, meint Historiker Riccardo Altieri. Ein Gastbeitrag.

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Riccardo Altieri
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Geld bestimmt nicht nur, was wir uns leisten können. Es kann auch beeinflussen, welche Erfahrungen wir an der Uni machen, meint Gastautor Riccardo Altieri. © istock

Haben Sie schon einmal gehört, dass jemand so etwas gesagt hat wie: „Das ist asozial!“ Nah verwandt ist auch die Beleidigung: „Das sind solche Assis!“ Diese Ausdrücke sind Teil eines grundlegenden Problems unserer Gesellschaft. Begriffe wie „asozial“ und „arbeitsscheu“ sind über den Nationalsozialismus in unser Vokabular eingedrungen und konnten sich bis heute erhalten.

Der Duden definiert den Begriff „asozial“ als „unfähig zum Leben in der Gemeinschaft“. Genau so sahen das auch die Nationalsozialisten, weshalb sie bereits ab 1933 Alkoholkranke, Bettler, Obdachlose, Prostituierte und Tagelöhner verfolgt und deportiert haben. Viele von ihnen wurden ermordet, andere zwangssterilisiert, damit sie sich nicht fortpflanzen konnten. Der Duden verweist nicht auf diese Sprachgeschichte. Er gibt als Synonyme vielmehr „randständig“, „böse“ und „kriminell“ an. Heute werden am häufigsten die Empfänger und Empfängerinnen von Sozialleistungen (meist Hartz IV) mit dem Begriff „asozial“ diskriminiert und deklassiert.

Gastautor

Riccardo Altieri studierte Geschichte und Germanistik und promovierte an der Universität Potsdam. Er ist Buchautor und arbeitet als Historiker für den Bezirk Unterfranken. Mit dem Politikwissenschaftler Bernd Hüttner gab er den Band „Klassismus und Wissenschaft“ heraus (Bund demokratischer Wissenschaftl., 2020), in dem es um Diskriminierungserfahrung im Hochschulsystem aufgrund der sozialen Herkunft geht.

 

Von „deklassieren“ spricht man, wenn Menschen in der Gesellschaftshierarchie, die oft wie eine Pyramide dargestellt wird, nach „unten“ abgedrängt werden. „Unten“ steht in dieser Bildsprache für schlecht, „oben“ für gut. Wir alle kennen die Formulierung von den „oberen 10 000“. In der Soziologie spricht man zur Einteilung der Gesellschaft von „Klassen“. Dieser Begriff geht auf Karl Marx ebenso wie auf Max Weber zurück und wurde von Pierre Bourdieu weitergedacht. In der US-amerikanischen Forschung wird die Gesellschaft meist in vier Klassen unterteilt: die Armutsklasse, die arbeitende Klasse, die Mittelklasse und die Reichtumsklasse.

Noch kaum Sensibilität für Thema

Wenn diese Klassendefinition zum Maßstab gemacht wird, können alle Menschen gemäß ihrer Klassenzugehörigkeit in ihrer sozialen Herkunft verortet werden. Bettler und Obdachlose gehören dann ebenso zur Armutsklasse wie beispielsweise Hartz-IV-Empfangende. Wenn aber diese Menschen – zum Beispiel durch die Verwendung des Schimpfwortes „Asoziale“ – aufgrund ihrer sozialen Herkunft beleidigt, diskriminiert oder gar verfolgt werden, sprechen wir von „Klassismus“. Es ist eine Form der Ausgrenzung, für die wir bisher noch wenig sensibel sind, obwohl zahlreiche Personen sie erfahren. Der gesellschaftliche Blick richtet sich aktuell hauptsächlich auf Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, also auf „Sexismus“, oder auf „Rassismus“, also Diskriminierung, die eine Person aufgrund ihrer Hautfarbe – also ihrer vermeintlichen „Rasse“ – macht.

Das Medienunternehmen Langenscheidt ermittelt aktuell das ‚Jugendwort des Jahres 2021’. Zur Auswahl stehen zehn Begriffe (...). An neunter Stelle findet sich der Begriff ‚Geringverdiener’.
Riccardo Altieri Historiker

Folgendes Beispiel mag veranschaulichen, wie gängig die Diskriminierung von Personen der Armutsklasse in unserem Alltag ist – oder zumindest, wie wenig sie hinterfragt wird: Das Medienunternehmen Langenscheidt, das auch eng mit dem Duden verbunden ist, ermittelt aktuell das „Jugendwort des Jahres 2021“. Zur Auswahl stehen zehn Begriffe, die vermeintlich von jungen Menschen verwendet werden. Alle, die wollen, können online abstimmen. An neunter Stelle findet sich in der Auswahl der Begriff „Geringverdiener“. Die Bezeichnung wird angeblich von Jugendlichen genutzt, um sich scherzhaft über „Loser“ oder „Verlierer“ zu äußern. Diese Form der Ausdrucksweise ist nicht besonders sprachsensibel. Auch in der Vergangenheit gab es problematische Jugendwörter, wie beispielsweise „Opfer“. Was in der Antike ein religiöses Brandopfer für Gottheiten darstellte, wurde in späteren Jahrhunderten zu einer Umschreibung für Betroffene von Unfällen oder Verbrechen, ehe es im 21. Jahrhundert zu einer wohl scherzhaft gemeinten Beleidigung wurde.

Unterschiede werden größer

Im Frühjahr 2021 wurde der 6. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung seit 2001 veröffentlicht. Darin wird deutlich, wie stark die Arm-Reich-Schere sich immer weiter öffnet. Die reichere Hälfte der Bevölkerung in Deutschland besitzt 99,5 Prozent des Gesamtvermögens. Damit teilt sich die andere Hälfte den Rest von 0,5 Prozent. Wenn Einkünfte steigen, dann vor allem bei Angehörigen der Reichtumsklasse. Wer zu den Geringverdienern zählt, ist ironischerweise im wahrsten Sinne des Jugendworts „Verlierer“, denn die dortigen Einkommen sind seit 2006 immer weiter gesunken.

Ein Feld, in dem sich die soziale Herkunft immer wieder bemerkbar macht, was oft mit Ausgrenzungserfahrungen einhergeht, ist die Hochschule. Dort sind im Sinne von Pierre Bourdieu drei Kapitalarten von Relevanz: das „ökonomische Kapital“, aber auch „soziales Kapital“ und „kulturelles Kapital“. Zum sozialen Kapital zählt auch das allseits bekannte „Vitamin B“, das es für berufliche Karrieren braucht. Nach dem Armutsbericht verfügen Menschen mit geringem ökonomischem Kapital häufig auch über deutlich weniger soziale Kontakte.

Besonders auch kulturelles Kapital, also Abschlüsse, Zertifikate und Ähnliches, ist für Personen aus ärmeren Klassen oft bedeutend schwerer zu erreichen als für solche aus reicheren.
Ricardo Altieri Historiker

Besonders auch kulturelles Kapital, also Abschlüsse, Zertifikate und Ähnliches, ist für Personen aus ärmeren Klassen oft bedeutend schwerer zu erreichen als für solche aus reicheren. Die 20. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks hat Zahlen ermittelt, aus denen der sogenannte Bildungstrichter gespeist wird: Von 100 Kindern aus nicht-akademischen Haushalten erlangen nur 21 den Zugang zur Hochschule – bei 100 Kindern aus akademischen Haushalten sind es hingegen 74. Auch bei den Hochschulabschlüssen zeigt sich ein Ungleichgewicht: Einen Bachelorabschluss erzielen nur noch 15, einen vollwertigen Studienabschluss lediglich acht und einen Doktortitel erzielt maximal eine Person mit nicht-akademischem Familienhintergrund. Bei Akademikerkindern sind es 63, 45 und zehn.

Hürden in der Hochschulwelt

Wie es Studierenden aus nicht-akademischen Haushalten im hochschulischen Alltag ergeht und wo sie immer wieder Ausgrenzungen erfahren, haben die Autorinnen und Autoren unseres Sammelbandes „Klassismus und Wissenschaft“ aufgeschrieben. Darin äußert sich beispielsweise Corinna Widhalm: „Im Unterschied zum Beginn meines Studiums war mir mit Ende jedoch bewusst, dass meine Gefühle der Unzugehörigkeit, mein unsicheres Auftreten und meine Befremdung dieser Institution gegenüber zu einem Teil auf meine ‚andere’ Herkunft zurückzuführen waren.“ Anna Scharmin Shakoor erzählt von ihrer Erfahrung in Bezug auf Bafög und Stipendien: „Ich war oft voller Wut auf das System. Ein System, das es mir nicht erlaubte, mich so wie alle anderen auf mein Studium zu konzentrieren. Ich war und bin traurig und sauer darüber, dass ein Mensch wie ich nicht frühzeitig […] über Hilfeleistungen aufgeklärt wird, die Entlastungen schaffen können!“ Diese Lücke zwischen tradiertem Wissen in akademischen Familien und notwendiger Selbstaneignung für Studierende aus nicht akademischen Familien müssen Letztgenannte meist aus eigener Kraft überbrücken.

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Doch selbst die Überbrückung dieser Lücken garantiert kein Gefühl der Zugehörigkeit zur intellektuellen Klasse nach der Erfahrung von Sahra Rausch, einer weiteren Stimme aus dem Band. Sie schreibt in ihrem Beitrag: „Pierre Bourdieu sprach selbst von einem ‚gespaltenen’ Habitus, um diese merkwürdige ‚Mischung von Anmaßung und Verrat’ zu beschreiben, die einen begleitet, wenn man feststellt, dass man den Bezug zum Herkunftsmilieu verloren hat, sich in der Universität aber weiterhin als Eindringling fühlt.“

Wer auf ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital verzichten muss, leidet an Armut. Das ist keine Entscheidung, die man selbst treffen könnte, man wird vielmehr in sie hineingeboren. Das Versprechen, durch genügend Fleiß und Anstrengung könne man alles schaffen, ist eine Erzählung mit fehlerhaftem Wesenskern.

Männer aus der Armuts- oder arbeitenden Klasse leben im Schnitt 8,4 Jahre weniger als Männer aus der Reichtumsklasse. Bei Frauen ist die Lebenserwartung 4,4 Jahre kürzer.
Ricardo Altieri Historiker

Die Realität endet oft auch nach dem Studium mit unsicheren Arbeitsverhältnissen. Und das kann drastisch formuliert bedeuten, dass auch das Leben anders endet. Männer aus der Armuts- oder arbeitenden Klasse leben im Schnitt 8,4 Jahre weniger als Männer aus der Reichtumsklasse. Bei Frauen ist die Lebenserwartung 4,4 Jahre kürzer. In noch immer spezifisch weiblich dominierten Berufen wie der Kranken- und Altenpflege sinkt die Lebenserwartung noch einmal dramatisch, im Durchschnitt bis zu zehn Jahren. Jede fünfte Person in Deutschland erreicht überdies nicht das gesetzliche Rentenalter. Nicht nur deshalb muss Klassismus als strukturelles Problem erkannt und bekämpft werden.

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