Haben Sie schon einmal von „Good Vibes only“ gehört? Das Motto kursiert derzeit insbesondere unter jungen Leuten und in sozialen Netzwerken. Es heißt so viel wie: nur gute Schwingungen bitte. Die Worte sind neu, das Gebot ist älter: Sprüche wie „Denke positiv“ oder „Glück ist eine Entscheidung“ stehen auf Kühlschrankmagneten oder Karten. Wir hören sie in unserem Freundeskreis.
„Good Vibes only“ ist die fast schon aggressive Forderung an das korrekte Lebensgefühl dieser Tage. Allen realen Bedrohungen und Nöten zum Trotz. Wer nicht glücklich sei, mache etwas falsch. Wer sich schlecht fühle, habe noch nicht genug an sich gearbeitet. Die eigene Einstellung stimme nicht. So heißt es vor allem aus der Ecke bestimmter Motivationstrainer und von einflussreichen Stimmen in Sozialen Medien. Am besten breche man den Kontakt zu miesepetrigen Zeitgenossen gleich ab, um sich ungestört der eigenen Positivität hinzugeben.
Die Gastautorin
Franca Cerutti ist psychologische Psychotherapeutin mit der Fachrichtung Verhaltenstherapie, Supervisorin und Dozentin. Am Niederrhein betreibt sie ihre eigene Praxis. In ihrem Podcast „Psychologie to go!“ gibt die Mütter von drei Söhnen Impulse für den Alltag. Zu finden ist er unter www.franca-cerutti.de.
Psychotherapeuten sehen diesen „Gute Laune-Druck“, der insbesondere über die sozialen Netzwerke aufgebaut wird, sehr kritisch. Er ist fahrlässig und kann uns krank machen. Das Phänomen hat einen Namen: Toxische Positivität. Hierunter versteht man eine Tendenz, negative Gefühle nicht zu akzeptieren und zu unterdrücken.
Das Problem strahlt in zwei Richtungen. Zum einen behindert die toxische Positivität den reflektierten Umgang mit den eigenen Gefühlen. Zum anderen werden Gefühlsäußerungen anderer Menschen mit ein paar aufmunternden Sprüchen abgehandelt. Ob Traurigkeit, Wut, Angst oder Enttäuschung: Der Umgang damit ist zunehmend bagatellisierend, wie ich auch in meiner verhaltenstherapeutischen Praxis beobachte. Es darf einem kaum noch schlecht gehen. Das Motto: schnell weg mit schmerzhaften Gefühlen. Manchmal ist dies auch der Wunsch an die Psychotherapie: „Helfen Sie mir, dass ich das alles positiv sehen kann. Dann brauche ich auch in der Realität nichts ändern. Nur ein paar Schräubchen in meinem Kopf.“
Wo man früher nach einem Trauerfall den Hinterbliebenen ein Trauerjahr eingeräumt hat, heißt es heute oft nach wenigen Wochen oder Monaten, jetzt könne man doch mal nach vorne blicken.
Problematisch am allzeit positiven Denken ist nicht nur, dass es schlicht und einfach nicht funktioniert: Gefühle haben keinen Schalter, mit dem sie sich ausknipsen lassen. Es scheint fast schon persönliches Versagen, wenn Gefühle nicht ruckzuck „wegmeditiert“ werden können. Dann entsteht neben dem ursprünglichen, negativen Gefühl noch der Eindruck, etwas falsch zu machen und anderen damit lästig zu sein. Wo man früher nach einem Trauerfall den Hinterbliebenen ein Trauerjahr eingeräumt hat, heißt es heute oft nach wenigen Wochen oder Monaten, jetzt könne man doch mal nach vorne blicken, den Sinn darin sehen, dankbar sein und weitermachen. Wobei die aktuelle überall ausgerufene Positivität keine rein neue Erfindung ist. Vielmehr ist sie die Überspitzung von Aussprüchen wie „Indianer kennen keinen Schmerz“ oder „Das ist kein Grund zum Heulen!“ oder „Sei nicht so undankbar!“.
Gefühle als Warnlämpchen
Am Beispiel eines Autos lässt sich das Dilemma verdeutlichen: Alle Warnlämpchen geben eine Auskunft über das Innere unseres Fahrzeuges. Jedes einzelne möchte uns auf ein Problem hinweisen, und wir tun gut daran, es zu beachten und zu reagieren. Gefühle kann man, analog dazu, als wichtige Auskunft über unser Inneres verstehen. Wer diese Informationen abbügelt und übergeht, verhält sich wie jemand, der das Armaturenbrett seines Autos abklebt, um sich von den lästig blinkenden Lämpchen nicht irritieren zu lassen. Als würde man auf der Überholspur weiterbrettern, obwohl schon ein Kolbenfresser droht. Schmerzliche Gefühle dauerhaft zu übergehen, sie wegzulächeln oder zu ignorieren, kann krank machen. Depressive Störungen wie Burnout nehmen oft hier ihren Anfang. Wer Warnlampen nicht sehen will, bleibt über kurz oder lang auf der Strecke.
Psychologische Studien zeigen, dass Menschen, die ihre wahren Gefühle unterdrücken, in Wirklichkeit mehr Stress erleben als Menschen, die ihren Gefühlen stattgeben.
Psychologische Studien zeigen, dass Menschen, die ihre wahren Gefühle unterdrücken, in Wirklichkeit mehr Stress erleben als Menschen, die ihren Gefühlen stattgeben. Das so genannte sympathische Nervensystem wird stark aktiviert, und auch die kardiovaskuläre Aktivität schießt in die Höhe, wenn eine Gefühlsregung unterdrückt werden soll. Wer also nur „good vibes“ zeigen will, mutet sich unter Umständen „bad vibes“ zu, also schlechte Gefühle. Die Akzeptanz negativer Emotionen, ohne dafür in eine Selbstabwertung zu geraten, begünstigt dagegen psychische Stabilität. Womit wir wieder beim Selbstmitgefühl wären.
Riesiges Gefühlsspektrum
Ist Positivität also etwas Schlechtes? Nein, gar nicht. Ausschließliche Positivität ist das Problem. Ich plädiere für die goldene Mitte, mit Schwingungen in beide Richtungen. Wir Menschen verfügen über ein riesiges Spektrum an emotionalen Zuständen. Wir kennen Neid oder Angst, wir kennen Enttäuschung, Sorge und das Gefühl von Desillusioniertsein. Wir kennen aber auch Stolz oder Vorfreude oder Liebe. Stellen Sie sich eine Klaviatur vor – da geht es von ganz tief bis ganz hoch, mit vielen Zwischentönen. Toxische Positivität bedeutet im Grunde, dass man sich selbst und anderen nur die oberste Oktave zugesteht. Das beraubt Menschen ihrer Bandbreite.
Grundsätzlich ist das Bemühen um einen positiven Blickwinkel gut. Evolutionspsychologisch liegt uns das Erleben von Gefühlen wie Angst oder Sorge manchmal näher, als Zufriedenheit oder Optimismus. Negative Gefühle möchten uns warnen, vor Schaden bewahren und unser Überleben sichern. Allerdings springen diese Gefühle manchmal zu schnell, zu heftig, oder im unpassenden Moment an. Die Kunst besteht darin, sie zu akzeptieren und geduldig und sanft zu regulieren.
Kristin Neff, Professorin für pädagogische Psychologie an der University of California, erforschte die Bedeutung von (Selbst-)Mitgefühl für die psychische Gesundheit. Sie identifizierte drei wesentliche Komponenten für einen günstigen Umgang mit schmerzhaften Erfahrungen. Zum einen Selbstfreundlichkeit: Die Fähigkeit, den eigenen Gefühlen respektvoll, geduldig und freundlich zu begegnen, anstatt sich dafür zu kritisieren oder abzuwerten. Zweitens zeigte Neff, dass es günstig ist, schmerzhafte Erlebnisse und negative Gefühle als „normale“ menschliche Erfahrung wahrzunehmen, die wir mit anderen Menschen teilen und die uns mit anderen verbindet. Drittens zeigte sie, dass die Bereitschaft, sich auch negativen Emotionen zu stellen, für die psychische Stabilisierung hilfreich ist. Unterm Strich empfiehlt die Forscherin, mit sich selbst so umzugehen, wie wir mit einem geliebten Menschen in Not umgehen würden.
Wer jedoch keinen Platz für Negatives einräumen will, richtet unter Umständen Schäden an. Manchmal berichten mir krebskranke Patienten, sie seien aufgefordert worden, sich zu freuen – es gäbe schlimmere Krankheiten.
Wer jedoch keinen Platz für Negatives einräumen will, richtet unter Umständen Schäden an. Manchmal berichten mir krebskranke Patienten, sie seien aufgefordert worden, sich zu freuen – es gäbe schlimmere Krankheiten. Oder Menschen mit Depressionen werden ermuntert, dankbarer zu sein – sie hätten immerhin ein Dach über dem Kopf. Das wird der Tragweite mancher Situationen nicht gerecht. Das wertet ab und ruft Scham hervor.
Im psychotherapeutischen Kontext beobachte ich, dass manche Menschen eine sogenannte „Toxizität-Überzeugung“ entwickelt haben – eine Überzeugung, die lautet „So wie ich bin, bin ich nicht okay und schade anderen Leuten“. Und genau diese Überzeugung wird befeuert, wenn wir Menschen ihre Gefühle nicht zugestehen. Besser ist es, einfach zuzuhören und zu sagen: „Es tut mir leid, dass es dir schlecht geht. Kann ich etwas für dich tun?“ Traurigkeit, Enttäuschung, Einsamkeit, Angst – manchmal tut es gut, wenn jemand mitfühlt. Ohne Bewertung, ohne Urteil, ohne schulterklopfendes „Kopf hoch!“.
Frage der Erziehung
Leider haben wir oft schon als Kind gelernt, dass Emotionen, und insbesondere auch der Ausdruck von Emotionen unangemessen sei. Viele Eltern haben sich nie die Mühe gemacht, die innere Klaviatur mit ihrem Kind zu erforschen und den verschiedenen Tönen einen Namen zu geben und bei der Regulation zu helfen. Ich kenne etliche erwachsene Menschen, die ihre Gefühlslage mit zwei Ausdrücken beschreiben: „gut“ oder „nicht so gut“. Eine gute psychische Regulation besteht darin, Gefühle wahrzunehmen, zu benennen, und im gesamten Kontext zu reflektieren.
Es ist normal, nicht dauernd glücklich zu sein. Es gibt Leid. Es gibt Schlimmes. Es gibt Trauriges. Sich darin nicht zu verlieren, ist das eine. Es zu negieren, etwas völlig anderes. Psychische Gesundheit liegt in der Mitte.
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