Debatte

Wer trägt die Verantwortung für starkes Übergewicht bei Kindern und Erwachsenen, Frau Sartori?

Übergewicht und Adipositas belasten Körper und Seele vieler Menschen in Deutschland, egal ob jung oder alt. Das Problem ist so groß, dass der Staat handeln muss. Ein Gastbeitrag

Von 
Christina Sartori
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Essen, das nicht nährt, sondern dick macht: Schon die Jüngsten konsumieren viel zu viel Zucker. Für die Weltgesundheitsorganisation ist Fettleibigkeit daher eine der größten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. © Oliver Berg/dpa

Diese Epidemie begann schon Jahre vor der Corona Pandemie, weltweit – und ein Ende ist bisher nicht abzusehen: Adipositas, auch Fettleibigkeit genannt. Schon 2017 warnte die Weltgesundheitsorganisation WHO: „Adipositas hat epidemische Ausmaße erreicht. Weltweit sterben mindestens 2,8 Millionen Menschen jährlich an den Folgen von Übergewicht und Fettsucht.“

Und in diesem Jahr nennt die WHO Adipositas eine der größten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts für die öffentliche Gesundheit. Denn Übergewicht und Fettleibigkeit machen körperlich krank, sind oft auch psychisch eine große Belastung und führen direkt oder durch Folgekrankheiten zu enormen Behandlungskosten.

Die Gastautorin

Christina Sartori berichtet seit mehr als 20 Jahren über die Themengebiete Medizin und Gesundheit: Mehrere Jahre als Redakteurin in der WDR Wissenschaftsredaktion, heute als Autorin für WDR, Deutschlandfunk, Deutschlandfunk Nova und ARD. Sie studierte unter anderem in Berlin Biologie und Wissenschaftsjournalismus.

Zusammen mit Wilfried Bommert, Leiter des Instituts für Welternährung in Berlin, analysiert sie in dem Buch „Stille Killer – Wie Big Food unsere Gesundheit gefährdet“ die Mechanismen der Lebensmittelindustrie und beschreibt die gravierenden Konsequenzen – und Lösungsmöglichkeiten. Das Buch wurde im Hirzel Verlag veröffentlicht.

In Anbetracht dieser Folgen ist die Situation in Deutschland erschreckend: Laut einer großen Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland waren vor der Pandemie 15 Prozent der Kinder übergewichtig, fast sechs Prozent sogar adipös, also schwer übergewichtig, und nach zwei Jahren Corona Pandemie hat sich die Situation anscheinend noch verschlechtert.

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Eine aktuelle repräsentative Befragung von Eltern im Auftrag der deutschen Adipositas Gesellschaft und des Else Kröner-Fresenius-Zentrums für Ernährungsmedizin an der TU München zeigt: Viele Kinder und Jugendliche sind dicker geworden, haben mehr Süßigkeiten und Knabberzeug konsumiert und bewegten sich weniger als vor der Pandemie. Die Frage ist: Wer hat Schuld?

Politiker und Produzenten von Lebensmitteln betonen gerne, dass es an jedem selber liege, wie er sich ernähre, ob er dick oder dünn sei. Alles eine Frage der Eigenverantwortung und Selbstdisziplin. Mit anderen Worten: selber Schuld.

Doch die Wissenschaft sieht das ganz anders: Wer die Betroffenen für ihr Übergewicht verantwortlich mache, der lenke die Aufmerksamkeit von dem eigentlichen Punkt ab, stellte die Lancet Kommission der angesehenen medizinischen Fachzeitschrift „The Lancet“ in einem Bericht 2019 fest: Adipositas entstehe nicht durch persönliches Versagen, sondern durch ein adipöses System. Eine Auffassung, die auch vom wissenschaftlichen Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz beim BMEL (Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft) geteilt wird.

In Deutschland kann man durchaus von einem adipösen System sprechen: Hier gibt es keinerlei Vorgaben oder Regeln bezüglich der Menge an Zucker, Fett oder Salz, die eine Fertigpizza, ein Müsli oder ein Erfrischungsgetränk enthalten dürfen. Dementsprechend sind unsere Supermarktregale gefüllt mit Lebensmitteln, die extra viel Zucker, Fett und andere Zutaten enthalten, um sie so schmackhaft und billig wie möglich zu machen. Da ist es schwer und für viele schlichtweg unmöglich, sich nicht zu viele Pfunde auf die Hüften zu knabbern.

Dazu kommt noch, dass Kinder und Jugendliche in Deutschland im Fernsehen und per social media fast uneingeschränkt Werbung ausgesetzt werden, die ungesunde Lebensmittel anpreisen. Eine Studie der Universität Hamburg zeigte im vergangenen Jahr: Ein mediennutzendes Kind sieht pro Tag 15 Werbespots oder -anzeigen für ungesunde Lebensmittel. Mehr als 90 Prozent der Lebensmittelwerbung in TV und Internet, die Kinder sehen, bewirbt Fast Food, Snacks und Süßes.

Dabei wird das Internet immer wichtiger für die Werbetreibenden, denn dessen Reichweite ist um ein Vielfaches höher als die von Fernsehwerbung: Posts für ungesunde Lebensmittel auf facebook gelangen nach der Hamburger Studie an bis zu 10,6 Milliarden User pro Jahr in der Zielgruppe. Außerdem lockten die Unternehmen Kinder gezielt auf ihre Webseiten zu ungesunden Produkten und versuchten sie dort durch Spiele oder ähnliches lange zu halten, fassen die Auftraggeber der Studie, die Deutsche Allianz Nichtübertragbarer Krankheiten und der AOK Bundesverband, weitere Resultate zusammen.

Auch Youtube gewinnt als Werbeplattform: Die Mehrzahl der Videos über ungesunde Lebensmittel stammen von Influencern und dies mit erheblichem Erfolg. Kein Wunder, denn gerade Kinder und Jugendliche vertrauen eher Gleichaltrigen als Erwachsenen, und meistens ist die Werbung nicht deutlich als Werbung erkennbar. Beliebtes Rezept: Plaudern, plappern, Witze machen, dazu jede Menge Product Placement. Klingt einfach, und gelingt phänomenal: Solche Videos generieren Klickraten, die bei der Werbewirtschaft die Herzen höher schlagen lassen.

Soweit die Situation – aber wie sieht es mit Lösungen aus? Welche Maßnahmen empfehlen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, Ärzte und Ärztinnen und andere Fachleute? Generell gesprochen: Die Verhältnisse müssen sich ändern, die Umgebung, die Angebote, die Werbung, … all das muss sich ändern.

Und da kein Hersteller freiwillig für viel Geld und Zeit neue Rezepturen entwickelt, die vielleicht nicht mehr ganz so beliebt sind wie vorher, weil sie nicht mehr ganz so süß und fettig und salzig schmecken wie vorher, müssen Regeln her, Vorgaben, vielleicht sogar Gesetze. Zum Beispiel eine Zuckersteuer, wie es sie in Großbritannien, Irland, Frankreich, Mexiko und einigen anderen Ländern gibt. In Großbritannien haben seitdem viele Hersteller von gesüßten Erfrischungsgetränken ihre Rezeptur geändert.

In Deutschland würden Unternehmen, die selber aus einem Bewusstsein für die Gesundheit unserer Kinder ihre Produkte mit weniger Zucker süßen wollen, von solch einem Gesetz profitieren. Denn: Bietet nur ein Getränkeproduzent weniger süß schmeckende Limonade an, läuft er Gefahr, viele Kunden zu verlieren. Verkauft aber die Mehrheit der Produzenten weniger süße Getränke, käme es zu einem Gewöhnungseffekt – und den Kunden würden auch weniger süße Getränke schmecken.

Eine weitere Schraube, an der man drehen könnte: Weniger Werbung für ungesunde Lebensmittel, insbesondere keine solche Werbung, die an Kinder und Jugendliche gerichtet ist. Ein Blick in andere Länder könnte ebenfalls helfen: In französischen Schulkantinen sind Verkaufsautomaten verboten, die mit gesüßten Erfrischungsgetränken, Knabberzeug und Süßigkeiten bestückt sind. In Mexiko warnen große schwarze Stoppschilder vorne auf den entsprechenden Lebensmitteln vor zu viel Zucker, zu viel Fett, zu viel Salz oder zu viel Kalorien. Dagegen ist der kleine bunte Nutriscore in Deutschland bisher nur auf wenigen Produkten zu finden – kein Wunder, denn der Aufdruck ist freiwillig.

Gleichzeitig müsste mehr Wert auf eine frische und gesunde Ernährung von Kindern und Jugendlichen gelegt werden. Denn auch für Essgewohnheiten gilt: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Kaum etwas ist so schwer zu ändern wie die Auswahl und Zubereitung unserer Nahrung.

Mehr als drei Millionen Kinder essen mittags in Kantinen und Mensen – doch die Qualität ist oft schlecht, weit entfernt von den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung und häufig auch unappetitlich serviert. So wird die Chance vertan, eine Wertschätzung für unser Essen zu vermitteln, zu zeigen was gutes Essen ausmacht. Hier müssten die Bundesländer aktiv werden: Durch konkrete Vorgaben, was in einer Schulkantine auf den Teller kommen soll und was nicht. Und auch durch finanzielle Unterstützung, denn frisches, ausgewogenes Essen ist oft teuerer als aufgewärmte Fertiggerichte.

Doch trotzdem wäre das ein Sparprogramm: Denn die steigende Zahl an Menschen, die Übergewicht haben, belastet nicht nur diese selber und mindert oft ihre Lebensqualität. Laut Berechnungen der Universität Hamburg belaufen sich die gesamtgesellschaftlichen Kosten der Adipositas in Deutschland auf etwa 29 Milliarden Euro.

Dieses Problem ist so groß, dass es die ganze Gesellschaft betrifft – deswegen muss der Staat handeln. Er darf das adipöse System in Deutschland nicht weiter unterstützen und muss es umbauen zu einem System, in dem es leichter und günstiger ist, sich gesund zu ernähren als sich schlecht zu ernähren.

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