Debatte

Wie wichtig sind Qualitätsmedien für die Demokratie, Herr Picker?

Parteien, Kirchen und Kommunen setzen zunehmend auf eigene Nachrichtenportale und die Sozialen Medien. Für die Meinungsvielfalt und einen kritischen Diskurs ist das allerdings wenig zuträglich. Ein Gastbeitrag

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Christoph Picker
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Über Social Media kann heute jeder ein Publikum erreichen – und was bedeutet das für die Zeitung? © Nijwam Swargiary auf Unsplash/Evangelische Akademie der Pfalz

Mannheim. Von Christoph Picker

Ist der „Mannheimer Morgen“, ist die „Rheinpfalz“, sind die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten Auslaufmodelle, die in ein paar Jahren von der Bildfläche verschwunden sein werden? Die Antwort des CDU-Politikers Friedrich Merz fällt eindeutig aus: „Wir brauchen die nicht mehr!“ So schmunzelte er Anfang 2020 auf einer Podiumsdiskussion des Aachener Karnevalsvereins zufrieden in Mikrofon und Kamera. Wir können das viel besser selbst, meinte er, wenn wir die eigenen Social Media Kanäle und YouTube nur professionell genug nutzen.

Tatsächlich setzen Politiker und andere öffentliche Akteure immer mehr auf direkte Kommunikation und umgehen die unabhängigen Medien. Kaum eine Politikerin oder ein Politiker mag heute auf eine kontinuierliche Präsenz auf Twitter, Facebook oder Instagram verzichten. In Unternehmen ist Direktkommunikation seit langem gang und gäbe. Konzerne wie die BASF leisten sich hochprofessionelle PR-Abteilungen, um Kunden, Politik und Öffentlichkeit direkt zu adressieren – und kritischen Fragen aus dem Weg zu gehen.

Die Internetpräsenzen großer Kommunen verändern sich immer mehr zu Nachrichtenportalen. Die Website mannheim.de bietet aktuell nahezu 1000 Meldungen zum kostenlosen Abruf – von Bomben-Entschärfungen über das Mannheimer Stadtfest bis zur Flüchtlingskrise in der Partnerstadt Chisinau. Wer bräuchte da noch den „Mannheimer Morgen“?

Direktkommunikation erscheint attraktiv

Die Kirchen bieten ein ähnliches Bild. Die Abteilungen für Öffentlichkeitsarbeit wachsen, die kirchlichen Sonntagszeitungen sterben. Daran, dass das 1948 gegründete „Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt“ einst zu den renommierten Wochenzeitungen der Bundesrepublik gehörte, erinnert sich heute kaum noch jemand. Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau, an deren Spitze der inoffizielle „EKD-Medienbischof“ Volker Jung steht, entfernt sich derzeit am konsequentesten von der klassischen evangelischen Publizistik. Die Innovationsprojekte in ihrem „Arbeitspaket Medien- und Öffentlichkeitsarbeit“ heißen „Social Media“ und „Mitgliederkommunikation“. Direkt soll es gehen.

Für die Absender erscheint Direktkommunikation ausgesprochen attraktiv. Friedrich Merz erklärte das so: „Sie können ein Publikum erreichen, das teilweise die öffentlich-rechtlichen, auch die privaten institutionalisierten Medien nicht mehr erreichen.“ Vor allem aber funkt keiner mehr dazwischen: Über Social Media habe man, so Merz, viel besser die Möglichkeit, „eigene Interessen wahrzunehmen“ und die „Deutungshoheit zu behalten“ über das, was man gesagt hat. Reichweite und Kontrolle – das sind die Stichworte.

Der Gastautor, Die Medientage

  • Christoph Picker ist Direktor der Evangelischen Akademie der Pfalz. Der promovierte Kirchenhistoriker beschäftigt sich mit politischen Orientierungsfragen. 2020 erschien im Schoeningh-Verlag seine Flüchtlingsethik.
  • Seit 2016 organisiert er zusammen mit Partnern aus Medien, Politik, Wissenschaft und Kirche der Südwestdeutschen Medientage.
  • Die sechste Auflage der Südwestdeutschen Medientage am Mittwoch, 29. Juni, und Donnerstag, 30 Juni, im Butenschoen-Haus Landau sowie auf dem Hambacher Schloss wirft einen kritischen Blick auf die zunehmende Bedeutung direkter Kommunikation ohne die Vermittlung öffentlich-rechtlicher und privater Medien.
  • Am Mittwoch, 29. Juni, diskutiert ab 15 Uhr „MM“-Chefredakteur Karsten Kammholz unter anderem mit der Politikwissenschaftlerin Andrea Römmele und dem Geschäftsführer der „RheinpfalzHolger Martens. Weitere Gäste sind die SPD-Bundesvorsitzende Saskia Esken und der Medienwissenschaftler Christoph Neuberger.
  • Der „Mannheimer Morgen“ ist zusammen mit der Evangelischen Akademie der Pfalz, der „Rheinpfalz“, der Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz, dem Deutschen Journalistenverband Rheinland-Pfalz und Medienebene e.V. Veranstalter der Südwestdeutschen Medientage zum Thema „Wir brauchen die nicht mehr! – Direktkommunikation vs. Freie Presse?“

Mediennutzern bringt die Fülle an direkt ausgespielten Informationen, Hintergründen und Meinungen ebenfalls Vorteile. Im Netz findet man inzwischen fast alles. Auch politisch und gesellschaftlich bieten sich Chancen. Der Arabische Frühling oder die sexismuskritische #MeToo-Bewegung wären ohne digitale Direktkommunikation nicht möglich gewesen. Über Social Media können sich Gruppen Gehör verschaffen, die auf den etablierten Kanälen nicht durchdringen. Insofern kann Direktkommunikation tatsächlich Freiheit und soziale Innovation fördern. Nicht zuletzt macht sie autokratischen Regimen das Leben schwer. Trotz erheblicher Anstrengungen gelingt es selbst in Russland oder in China nicht, die freie öffentliche Meinungsbildung komplett zu unterdrücken.

Die Welt der Direktkommunikation hat allerdings auch ihre Schattenseiten, denn in ihr sind nicht nur seriöse und wohlmeinende Anbieter unterwegs. Wir wissen ziemlich genau, wie geschickt Direktkommunikation genutzt wird, um Propaganda, Desinformationen und Lügen zu streuen. Und für Mediennutzer ist es im digitalen Dschungel mitunter nur schwer zu erkennen, welche Informationen zuverlässig sind, wer bestimmte mediale Angebote verantwortet und welche Interessen sich dahinter verbergen.

Lagerbildung wird gefördert

Auch die Reichweite von Direktkommunikation ist trügerisch. Friedrich Merz hat auf Twitter 228 000 Follower. Auf den ersten Blick ist das beeindruckend. Zum Vergleich: Der „Mannheimer Morgen“ hat 8900 Follower. Nicht unverständlich, dass Friedrich Merz sich angesichts solcher Zahlen begeistert zeigt von der eigenen Selbstwirksamkeit. Aber wen erreicht er über seinen Twitter-Account? Vor allem wohl die Teilöffentlichkeit seiner eigenen Anhängerschaft.

Auch die Kirchen sollten die Grenzen von Mitgliederkommunikation und Social Media Aktivitäten realistisch einschätzen. Die Milieus, die sie auf diesem Weg erreichen, sind ihnen bereits verbunden. Ausstrahlungskraft darüber hinaus lässt sich so kaum herstellen. Genau das aber wäre die Voraussetzung für Erneuerung und Revitalisierung, die den Kirchen genauso guttäte wie politischen Parteien.

Christoph Picker ist Direktor der Evangelischen Akademie der Pfalz. © Evangelische Akademie der Pfalz

Die Herausbildung abgeschlossener Teilöffentlichkeiten durch Direktkommunikation ist nicht nur für die Absender ein Problem, sondern auch für die Gesellschaft. Tendenziell führt sie dazu, dass Gleichgesinnte Gleichgesinnte ansprechen. Das fördert die Lagerbildung und befeuert Polarisierungen. Dass man Sachverhalte aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten kann, dass es zu vielen Fragen mehr als eine Meinung gibt und dass man dazulernen kann – das bleibt in den unterschiedlichen Direktkommunikationen unterbelichtet. Der kritische Diskurs als Lebenselixier der Demokratie und als Motor für Lernprozesse kommt zu kurz. Politikerinnen und Politiker sollten sich deshalb gut überlegen, was sie tun, wenn sie öffentlich-rechtliche Sendeanstalten, Privatsender, Verlage und Zeitungen für überflüssig erklären. Sie unterhöhlen damit das Fundament der freiheitlichen Gesellschaft.

Was also brauchen wir? Einen Weg zurück zur guten alten raschelnden Zeitung, zum Dampfradio und zum linearen Fernsehen wird es nicht geben. Die Medienlandschaft der Zukunft wird digitaler, vielfältiger, unübersichtlicher und zersplitterter sein. Seriöse Angebote werden neben unseriösen stehen, professionelle neben unprofessionellen, traditionelle neben innovativen. Direktkommunikation wird ein wichtiges Element bleiben. Umso wichtiger ist freier, professioneller Journalismus. Seine Aufgabe ist es, das unübersichtliche Wirrwarr der Themen, Informationen und Meinungen zu sortieren. Guter Journalismus prüft. Er scheidet Wichtiges von Unwichtigem und Wahres von Erlogenem. Er erklärt. Er trägt Argumente zusammen und wägt das Für und Wider – und er ermöglicht so eine fundierte Meinungsbildung.

Kritische Medienkompetenz muss vermittel werden

Verlage und Medienhäuser können einen stabilen Rahmen für solchen Qualitätsjournalismus bieten. Angesichts der harten Konkurrenz auf den Aufmerksamkeitsmärkten ist das keine leichte Aufgabe. Die Versuchung ist groß, mit schlecht bezahlten Hilfskräften zu arbeiten statt mit ausgebildeten Journalisten, Quoten, Clicks und Lesewerterhebungen zum Maß aller Dinge zu machen, sich dem Mainstream anzupassen, auf leicht verdauliche Serviceangebote zu setzen und aufwendige Recherchen zu vermeiden. Kurzfristig mag sich das rechnen. Auf die Dauer aber machen sich Qualitätsmedien damit überflüssig.

Was wir ebenfalls brauchen, sind mündige Leserinnen, Hörer, Zuschauerinnen und User, die zwischen seriösen und unseriösen Angeboten unterscheiden können – sowie bereit und in der Lage sind, für gute journalistische Angebote auch zu bezahlen. Zeitungen und Sender können selbst ihren Teil zu solcher Mündigkeit beitragen, indem sie ihre Arbeit transparent machen und erklären, was professionellen Journalismus ausmacht. Die Vermittlung kritischer Medienkompetenz und medienethischer Urteilsfähigkeit in Schule, Ausbildung und Studium sind weitere Voraussetzungen. Hier liegt noch vieles im Argen.

Was wir nicht brauchen, sind Politiker, die den freien Medien mit Verachtung begegnen, weil sie sich vorrangig daran orientieren, wie sie ihre Botschaften möglichst ungefiltert an den Mann oder an die Frau bringen. Es gehört Souveränität dazu, sich kritischen Fragen der Presse zu stellen und dabei gelegentlich auch einmal schlecht auszusehen. Langfristig aber zahlt es sich aus, weil es die Grundlagen der demokratischen Gesellschaft stärkt und Glaubwürdigkeit schafft. Auch die Kirchen sollten das bei der Weiterentwicklung ihrer Kommunikationsstrategien bedenken. Wer der Wahrheit und der Freiheit dienen will, darf sich nicht in den geschützten Raum der Direktkommunikation zurückziehen, sondern muss hinaus ins Getümmel.

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