"MM"-Debatte

Was kann den sozialen Zusammenhalt stärken, Herr Bedford-Strohm?

Von 
Heinrich Bedford-Strohm
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Gemeinsam lassen sich Herausforderungen besser bewältigen. Damit alle das Ziel erreichen, müssen die Stärkeren den Schwächeren helfen. © iStock

Wie geht es weiter nach Corona? Werden wir als Gesellschaft die Nervosität, die Verwundung, die Spaltungen, die die Diskussionen um den richtigen Umgang mit der Pandemie manchmal bis in die Familien hinein hervorgerufen haben, überwinden und neu zusammenfinden können? Und wie werden wir mit den Kosten der Pandemie umgehen, wenn der Krisenmodus vorbei ist und die alten Verteilungskämpfe wieder beginnen - erst recht, wenn jetzt bald Bundestagswahlkampf ist?

Mich hat eine Zeitungskolumne über die extremen Ungleichheiten in den Wirkungen der Pandemie auf die Verteilung des Wohlstands in Deutschland aufgerüttelt. Marcel Fratzscher, der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin, einer der führenden Wirtschaftswissenschaftler Deutschlands, beschrieb darin, wie die 2700 Milliardäre weltweit im Corona-Jahr ihr Vermögen um 60 Prozent gesteigert haben, während die Wirtschaft eingebrochen ist. Für die Hochvermögenden war das Pandemiejahr das finanziell erfolgreichste Jahr in der Menschheitsgeschichte.

Empirische Untersuchungen zeigen, dass die Begrenzung der Ungleichheit für das Zufriedenheitsniveau einer Gesellschaft von zentraler Bedeutung ist.
Heinrich Bedford-Strohm EKD-Ratsvorsitzender

Die Zahl der Milliardärinnen und Milliardäre hierzulande ist um 29 auf 136 Personen gestiegen. „Pervers“ nennt der Wirtschaftswissenschaftler diese Entwicklungen. Denn gleichzeitig sind nach Schätzung der Weltbank mehr als 100 Millionen Menschen durch die Pandemie in absolute Armut gefallen und müssen von weniger als 1,80 Dollar pro Tag leben. Der Boom an den Aktienmärkten, der die Vermögenszuwächse maßgeblich ermöglichte, verdankt sich nicht zuletzt den aus Steuergeldern finanzierten direkten Unternehmenshilfen. Es war richtig, dass der Staat die Wirtschaft so massiv gestützt hat. Viele Arbeitsplätze wurden damit gerettet. Aber jetzt müssen auch die Kosten gerecht verteilt werden.

Auf welchem Wege diejenigen, die besonders profitiert haben und mit Wohlstand besonders gesegnet sind, auch in besonderer Weise an den Kosten der Pandemie beteiligt werden, muss im politischen Diskurs geklärt werden. Dass sie in besonderer Weise verpflichtet sind, dazu beizutragen, ist aber klar.

Ein solcher Diskurs wäre alles andere als eine „Neiddebatte“, sondern vielmehr ein entscheidender Beitrag zum „sozialen Zusammenhalt“. Denn das Gefühl, dass es in der Gesellschaft einigermaßen gerecht zugeht, ist für den sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft grundlegend. Dass dazu auch die Verteilungsgerechtigkeit gehört, sagt schon die blanke Vernunft. Empirische Untersuchungen zeigen, dass die Begrenzung der Ungleichheit für das Zufriedenheitsniveau einer Gesellschaft von zentraler Bedeutung ist. Nicht die absolute Höhe des materiellen Wohlstandes ist dafür entscheidend, sondern wie er verteilt ist.

Das ist auch nicht wirklich überraschend. Denn für das Glück ist ein bestimmter Zuwachs materieller Sicherheit bei den Ärmeren viel entscheidender als bei denen, die ohnehin schon weit mehr haben als sie zum Leben brauchen. Für eine alleinerziehende Mutter, die jeden Euro zweimal umdrehen muss, macht das gleiche Geld einen entscheidenden Unterschied, das für einen wohlhabenden Menschen nur Peanuts sind. Interessanterweise haben die Wissenschaftler herausgefunden, dass auch das reichste Drittel der Gesellschaft zufriedener ist in Gesellschaften, in denen der soziale Ausgleich besonders entwickelt ist. Diese Untersuchungen bestätigen das alte biblische Orientierungswissen, nach dem der Wohlstand einer Gesellschaft sich am Schicksal ihrer schwächsten Glieder misst.

„Hat dein Vater nicht auch gegessen und getrunken“ - hält der Prophet Jeremia dem König entgegen - „und hielt dennoch auf Recht und Gerechtigkeit, und es ging ihm gut? Er half dem Elenden und Armen zum Recht, und es ging ihm gut. Heißt dies nicht, mich recht zu erkennen? spricht der Herr“ (Jeremia 22,15f). In den Texten der Bibel findet sich dieses Motiv immer wieder. Solidarität mit den Armen ist nicht Verzicht, nicht Opfer, nicht Verlust, sondern Gewinn, Lebensqualität und Glücksquelle.

„Brich dem Hungrigen dein Brot“, sagt der Prophet Jesaja, „und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! … Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des Herrn wird deinen Zug beschließen.“ (Jesaja 58,7-8) Und dann wird die Solidarität als eine beständige Kraftquelle für ein gutes Leben beschrieben: „…der Herr wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt.“ (V 11).

Es gibt Zeiten, in denen der soziale Zusammenhalt ohnehin besonderen Belastungen ausgesetzt ist. Das ist gegenwärtig der Fall durch die seelischen Inzidenzen der Pandemie.
Heinrich Bedford-Strohm EKD-Ratsvorsitzender

Angesichts der destruktiven Wirkung von extremer wirtschaftlicher Ungleichheit und der damit verbundenen sozialen Ungerechtigkeit hat Martin Luther schon im 16. Jahrhundert in verschiedenen Schriften beißende Kritik an der neuen Wirtschaftsform des Kapitalismus geübt. In der Schrift „Von Kaufshandlung und Wucher“ von 1524 nimmt er auch unverhältnismäßige Einkommen aufs Korn. Mit Blick auf die in kürzester Zeit zu Reichtum gekommenen Unternehmer des Frühkapitalismus stellt er fest: ‚Wie sollt das immer mögen göttlich und recht zugehen, dass ein Mann in so kurzer Zeit so reich werde, dass er Könige und Kaiser aufkaufen möchte?’“ Auch sein engster Mitreformator Philipp Melanchthon, der als moderater und an Vermittlung orientierter Mitstreiter Luthers gilt, weist mit höchst modernen Worten auf die destruktive Wirkung von großer Ungleichheit für den sozialen Zusammenhalt hin: „Die Zivilgesellschaft hat keinen Bestand, wenn es in Fragen des gesellschaftlichen Austauschs keinen gerechten Ausgleich gibt. Ist nämlich einer der am gesellschaftlichen Austausch beteiligten Partner erschöpft, muss die Gesellschaft zusammenbrechen.“

Was Melanchthon auf unverhältnismäßigen Zins bezieht, ist hochrelevant für heutige Diskussionen um die Folgen der Pandemie für das Gerechtigkeitsgleichgewicht unserer Gesellschaften. Es gibt Zeiten, in denen der soziale Zusammenhalt ohnehin besonderen Belastungen ausgesetzt ist. Das ist gegenwärtig der Fall durch die seelischen Inzidenzen der Pandemie und die damit verbundenen bleibenden Verwundungen, durch die nervlichen Belastungen, deren Verarbeitung viel Zeit braucht, und durch Verlusterfahrungen, die bleibende Ohnmachtsgefühle verursachen. Umso wichtiger ist gerade jetzt der soziale Ausgleich auf der materiellen Ebene.

Der Aufruf zu solchem sozialen Ausgleich kommt keineswegs nur von den üblichen politisch Verdächtigen. Er kommt auch von denen, die selbst mit besonderem Reichtum gesegnet sind. „Millionaires for Humanity“ nennt sich die Gruppe von 83 Millionär*innen, die im Jahr 2020 die Regierungen in einem offenen Brief dazu aufforderten, von sehr reichen Menschen wie ihnen materielle Solidarität einzufordern, um einen angemessenen Beitrag für den Wiederaufbau nach der Coronavirus-Pandemie leisten zu können. Jüngst hat die neue von Millionär*innen gestartete Initiative #taxmenow ähnliche Forderungen erhoben. „Corona verstärkt Ungleichheit,“ - so heißt es da - „verschärft Gesundheitsrisiken, reduziert Bildungschancen für Arme, während manche Vermögende und Unternehmen zu den Krisengewinnern gehören und in der Krise noch reicher geworden sind. Seit Jahrzehnten nimmt die Ungleichheit in Deutschland und international zu.“ Ihre Forderung ist ungewöhnlich: „Wir sind Vermögende und setzen uns für eine höhere Besteuerung von Vermögen ein, um mehr Chancen, Teilhabe und Zukunftsinvestitionen für alle zu ermöglichen.“

Es gehört zu den größten Glückquellen einer Gesellschaft, wenn alle Menschen, auch die Schwächsten, Anteil haben an den Gütern, die sie hervorbringt.
Heinrich Bedford-Strohm EKD-Ratsvorsitzender

Dass diese Initiativen von Vermögenden über eigene Wohltätigkeitsaktivitäten hinaus staatliche Verantwortung für sozialen Ausgleich einfordern, ist nicht nur Ausdruck ethischer Sensibilität, sondern auch Ausdruck von Klugheit. Es gehört zu den größten Glückquellen einer Gesellschaft, wenn alle Menschen, auch die Schwächsten, Anteil haben an den Gütern, die sie hervorbringt. Ethische Einsicht aus religiösen Quellen und Überlegungen praktischer Vernunft sprechen hier die gleiche Sprache.

Das zu erkennen, ist entscheidend, wenn wir jetzt um die richtigen Weichenstellungen für die Zeit nach der Pandemie ringen. Denn es stimmt: Der Wohlstand einer Gesellschaft bemisst sich am Schicksal ihrer schwächsten Glieder.

Der Gastautor

Heinrich Bedford-Strohm hat in Erlangen, Heidelberg und Berkeley (USA) Theologie studiert und anschließend in Heidelberg promoviert.

Seit 2011 ist er Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und seit November 2014 Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Er hat eine Honorarprofessur an der Universität Bamberg inne und ist Mitherausgeber der Monatszeitschrift „chrismon“.

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