"MM"-Debatte

Wirtschaftsexperte plädiert dafür die Corona-Krise als Chance zu sehen

Von 
Marc Friedrich
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Der Regenbogen gilt als Symbol für Hoffnung und Neuanfang. Auch aus stürmischen Krisenzeiten können wir gestärkt hervorgehen. © dpa

Das Jahr 2020 wird als Beginn einer nachhaltigen Zeitenwende in die Geschichtsbücher eingehen. Durch die Corona-Pandemie wurde uns allen weltweit schmerzhaft bewusst, wie fragil unser hochkomplexes und fortschrittliches Wirtschafts- und Finanzsystem ist. Innerhalb weniger Tage sind die Just-in-time-Produktions- und Lieferketten eingebrochen oder gar komplett zum Stillstand gekommen – und der Auslöser war ein unsichtbares Virus.

Diese Krise hat uns auf harte und bittere Weise deutlich gemacht, dass unser System nicht resilient ist, sie hat aufgezeigt, welche Schwächen es hat und in welchen gefährlichen Abhängigkeiten wir uns in dieser globalisierten Welt doch befinden. Gigantische Konjunkturpakete der Staaten und billionenschwere Stützungsprogramme der Notenbanken, maßlos überforderte und kopflos-aktivistische Politiker, aber auch leere Regale, stillgelegte Fließbänder, stark ansteigende Kurzarbeiter- und Arbeitslosenzahlen verdeutlichen das historische Ausmaß.

Durch Krisen wird offensichtlich, was ausgedient hat, Altes wird aussortiert und Neues entsteht.
Marc Friedrich Finanzexperte und Sachbuchautor

Wenn es auch viele nicht wahrhaben wollen: Wir sind inmitten eines historischen Paradigmenwechsels. Wir werden nicht mehr in der alten, gewohnten Welt aufwachen und zu unserem alten Leben zurückkehren.

Alles wird sich für immer verändern: wie wir arbeiten, wie wir uns in Zukunft fortbewegen, wie und was wir einkaufen, wie wir wirtschaften, reisen, denken, leben, bezahlen, investieren, wie und was wir produzieren. Solche Punkte in der Geschichte bilden das Fundament und sind die Chance für nachhaltige Veränderungen, die die Menschheit aus Bequemlichkeit und Angst nie freiwillig initiieren würde. Wer in die Vergangenheit schaut, sieht, dass tiefgreifende Veränderungen immer durch äußere Umstände erzwungen werden. Durch Krisen wird offensichtlich, was ausgedient hat, Altes wird aussortiert und Neues entsteht. Sowohl im Kleinen als auch im Großen.

Nicht nur unser persönliches Leben ist davon betroffen, sondern ganze Branchen, Gesellschaften, politische Systeme und Länder. Erst durch den Klimawandel sind wir gezwungen, nach Alternativen bei der Energieerzeugung zu suchen. Dasselbe gilt für Impfstoffe, Medikamente und technische Entwicklungen. Erst wenn der Mensch machtlos ist und keinen anderen Weg mehr sieht, ist er bereit zu wahrhaftigen Reformen und (R)Evolutionen.

Phänomenale Chancen

Krisen beinhalten extreme Risiken, aber auch phänomenale Chancen. Sie sind essenziell für das Voranschreiten der Menschheit. Der Mensch lernt durch Scheitern – „trial and error“. Auch wenn es paradox klingt: Wir sollten Krisen willkommen heißen und umarmen. Nach jeder Krise hat die Menschheit sich weiterentwickelt und an Wissen und Wohlstand hinzugewonnen. So wird es auch dieses Mal sein. Der Ökonom Joseph Schumpeter nennt es die kreative Zerstörung. Eine solche Zerstörung ist notwendig, damit Neues entstehen kann. Je größer eine Krise, desto größer die Chancen, die sie mit sich bringt.

Aktuell stehen wir vor dem größten Transformationsprozess unserer Lebzeit. Verschiedene Zyklen enden nun und ein neuer, großer Zyklus beginnt. Dies hat sich schon in den letzten Jahren bemerkbar gemacht: Wir waren schon vor Corona im Dauerkrisenmodus. Eine Krise wurde durch eine neue und noch größere Krise abgelöst: Finanzkrise, Eurokrise, Flüchtlingskrise, Klimakrise, Demografiekrise, Autokrise, Wirtschaftsabschwung und Schuldenkrise. Und jetzt kommt, gewissermaßen als Brandbeschleuniger, noch die Corona-Krise hinzu. Nun sehen wir binnen kurzer Zeit rapide Entwicklungen in vielen Bereichen, und das rund um den Globus. Vor allem Deutschland wird extreme Veränderungen erleben und sollte dies als Erneuerungsprozess begreifen.

Zu sicher fühlten wir uns in unserem perfekt organisierten Alltag mit ständig geöffneten Supermärkten, permanenter Ablenkung, Berieselung und Beschallung durch iPhone, TikTok, Netflix und Freiheiten, die für uns selbstverständlich sind. Durch die Lockdowns wurde diese sicher geglaubte Welt in ihren Grundfesten erschüttert. Wir sind in einer Ausnahmesituation und so gespalten wie schon lange nicht mehr.

Die einen haben Angst vor Corona und fürchten um ihre Gesundheit. Die anderen haben Angst vor Arbeitslosigkeit und Insolvenz und fürchten um ihre pure wirtschaftliche Existenz. Wieder andere haben Angst um die Freiheitsrechte und die Demokratie. All diese Ängste sind legitim und verständlich. Sie müssen respektiert und ernst genommen und dürfen nicht ins Lächerliche gezogen werden. Um die Gesellschaft gesunden zu lassen, müssen wir aufeinander zugehen, einander zuhören und andere Meinungen ertragen und respektieren. Leider beobachte ich momentan oftmals genau das Gegenteil: Dass wir uns auseinanderdividieren und Angst voreinander haben – man könnte ja (ideologisch) ansteckend sein.

Falls wir jetzt nicht den Mut haben, neue Wege zu beschreiten und uns neu zu erfinden, müssen wir unserem Wohlstand Adieu sagen.
Marc Friedrich Finanzexperte und Sachbuchautor

Es ist wichtig, die Fakten objektiv zu betrachten und konstruktive Lösungen aufzuzeigen. Die Politik muss beginnen, uns gegenüber mit der vollen Wahrheit herauszurücken und keine Salamitaktik zu betreiben.

Wir wissen bis dato nicht, wie groß der volkswirtschaftliche, aber auch der gesellschaftliche, politische und seelische Schaden ist. Vor allem bei den Jüngsten unserer Gesellschaft dürften die Pandemie und die Maßnahmen zu ihrer Eindämmung erhebliche Konsequenzen mit sich gebracht haben. 2020 war ein großer Wendepunkt. Es wird eine komplett neue Zeitrechnung beginnen – unabhängig davon, wie lange uns die Corona-Pandemie noch in Atem hält.

Deutschlands Wirtschaft ist geprägt vom Maschinenbau, von der Automobilindustrie und von anderen Unternehmen des produzierenden Gewerbes. Allgemein bekannt ist, dass unsere Schlüsselindustrien den einen oder anderen Trend schlichtweg verpennt oder gar ignoriert haben. Erst jetzt, durch die Häufung der Krisen, wird unsere Wirtschaft gezwungen sein, sich neu zu erfinden oder zu scheitern.

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Volkswagen hat einen neuen Weg eingeschlagen und setzt voll auf Elektromobilität. Andere versuchen sich am Wasserstoff und Car-Sharing. Welche Strategie die richtige sein und wer überleben wird, wird sich zeigen. Fakt ist: Nichts zu tun, ist keine Lösung! Nur Unternehmen und Branchen werden überleben, die den Wandel umarmen und aktiv gestalten. Das gilt für uns alle! Das große Aussieben hat begonnen. Falls wir jetzt nicht den Mut haben, neue Wege zu beschreiten und uns neu zu erfinden, müssen wir unserem Wohlstand Adieu sagen.

Wie kann man als Unternehmen, als Mensch und als Gesellschaft gestärkt aus Krisen hervorgehen und sich darauf vorbereiten? Hier hilft ein seit jeher bestehender Grundsatz: Vorsorge ist besser als Nachsorge. Diversifikation, Innovation und dezentrale Systeme sind sinnvoll, um die Abhängigkeiten zu reduzieren. Parallel sollte man sich nicht zu sehr auf die Politik verlassen, sondern selbst aktiv werden.

Was in der Politik oftmals fehlt, haben wir nun immer mehr in Form von bahnbrechender Technologie: Erstmalig haben wir große Helfer in Form von Digitalisierung und künstlicher Intelligenz an unserer Seite. Dies alles birgt eine enorme Chance, um die Krisen zu meistern und gestärkt daraus hervorzugehen. Uns allen muss klar sein: Wenn wir an dem Alten festhalten, so wie es viele Politiker und Entscheidungsträger momentan verzweifelt versuchen und propagieren, wird der Kollateralschaden für uns alle immer größer – wirtschaftlich, monetär, gesellschaftlich und politisch. Entweder wir sind bereit, den Fortschritt und die laufende Veränderung anzuerkennen, oder wir werden von ihnen überrollt.

Dieses Mal ist es eine globale Krise und wir als Menschheit sind gemeinsam zu ihrer Bewältigung gefordert. Das ist anstrengend und neu, aber essenziell für unsere Entwicklung.
Marc Friedrich Finanzexperte und Sachbuchautor

Wir können Krisen nicht vermeiden, wir können sie aber nutzen und daraus lernen. Die kommende Krise hat das Potenzial, einen kompletten Neustart zu initiieren und uns auf eine neue Bewusstseinsstufe zu katapultieren. Denn dieses Mal handelt es sich nicht nur um eine lokale Krise oder die einer Branche oder eines Landes. Dieses Mal ist es eine globale Krise und wir als Menschheit sind gemeinsam zu ihrer Bewältigung gefordert. Das ist anstrengend und neu, aber essenziell für unsere Entwicklung.

Wenn wir jetzt die richtigen Entscheidungen treffen, als Menschheit an einem Strang ziehen, Grabenkämpfe beenden, geistige Grenzen abbauen, die Technologie für uns alle einsetzen und nicht dazu, den Profit einzelner Länder, Unternehmen oder sonstiger Akteure zu maximieren, wenn wir jetzt den Mut haben, die richtigen und unbequemen Entscheidungen zu treffen, neue, unbekannte Pfade zu beschreiten und alte Zöpfe abzuschneiden, dann wird für uns alle ein goldenes Zeitalter beginnen.

Der Gastautor

Marc Friedrich ist Finanzexperte und Sachbuchautor im Bereich Finanzen und Wirtschaft. Er hält außerdem Vorträge zu Themen wie Digitalisierung, Kryptowährung und Globalisierung und berät Unternehmen sowie Privatpersonen zu Vermögenssicherung und Krisenvorsorge. Im April erschien sein aktuelles Buch "Die größte Chance aller Zeiten" (FBV).

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