Erinnern wir uns an den April 2020. Europäische Regierungen, Wissenschaftler und Techniker diskutieren: Wie können Corona-Tracing-Apps dazu beitragen, die Pandemie in den Griff zu bekommen? Die Apps sollen einerseits Menschen informieren, wenn sie mit einem Infizierten Kontakt hatten. Eine Reihe von Staaten möchte aber auch in anonymisierter Form über die Tracing-App Informationen über eine mögliche regionale Verbreitung der Infektion bekommen. So ließen sich unter Umständen neue umfassende Lockdowns vermeiden und durch gezielte und örtlich und zeitlich begrenzte Maßnahmen ersetzen.
Darum verhandeln europäische Regierungen mit den US-Konzernen Google und Apple, die den Markt der Smartphone-Systeme dominieren. Ihre Hilfe und Unterstützung sind notwendig, um Tracing-Apps sinnvoll einsetzen zu können. Sonst funktioniert die Abstandsmessung nicht und die App im App Store kann nicht installiert und gefunden werden.
Wir müssen die Zugänge zu Daten, Informationen und Wissen radikal öffnen, um Herrschaftswissen durch Digitalisierung zu brechen.
Zur Überraschung der europäischen Regierungsbeauftragten lehnen die kalifornischen Duopolisten ab und übernehmen eine Rolle, in der sich üblicherweise der europäische Datenschutz wohlfühlt: als Missionar der Datensparsamkeit. Die Kehrtwende Richtung Schutz von Privatheit vollzog sich ausgerechnet im Kontext einer Frage, deren Beantwortung in Demokratien bei gewählten und (hoffentlich) wissenschaftlich gut beratenen Gesundheitspolitikerinnen und -politikern liegt: Wie können wir in einer Pandemie mit den Möglichkeiten digitaler Technologie das Leben von Bürgerinnen und Bürgern schützen?
Im Mai 2020 war klar, dass europäische Regierungen keinen Zugang zu den Informationen bekamen, mit denen sie diese wichtigen Entscheidungen treffen wollen. Amerikanische Unternehmen untersagten faktisch demokratisch legitimierte Informationsflüsse in Europa. Vereinfacht gesagt: Die Entscheidung, welche Informationen von wem wie zur Bekämpfung der Pandemie in Europa genutzt werden können, treffen die Manager Tim Cook und Sundar Pichai. Denn sie kontrollieren Machtmaschinen.
Machtmaschinen sind Plattformen und digitale Systeme, die Informationsflüsse lenken, Informationsasymmetrien schaffen und Herrschaftswissen aufbauen. In autokratischen Ländern kontrollieren in der Regel die Herrschenden die Machtmaschinen. In Demokratien hat sich Macht von Bürgern und Regierenden hin zu digitalen Superstarfirmen verlagert.
Maschinenlesbare Informationen, der Datenreichtum, den uns das Internet und Smartphones gebracht haben, die digitale Vernetzung physischer Objekte zum Internet der Dinge, der Aufstieg der großen digitalen Plattformen, die digitalen Kollaborationstools und die Datenspuren, die wir mit ihnen hinterlassen, dies alles stellt eine alte Frage auf neue Weise: Wie legitimieren und wie begrenzen wir die Macht durch Wissen?
Die politische Antwort auf die immer weiter wachsende Informationsmacht der Superstarfirmen war bisher viel zu defensiv.
Auf diese alte Frage gibt es im Zeitalter des Datenkapitalismus eine einfache, klare und aus unserer Sicht zwingende Antwort: Wir müssen die Zugänge zu Daten, Informationen und Wissen radikal öffnen, um Informationsasymmetrien und Herrschaftswissen durch Digitalisierung zu brechen. Wir brauchen Daten und relevante Informationen für alle, die wissenschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung voranbringen können. Denn konzentrierte Datenmacht ist gut für wenige, aber schlecht für Innovation, Kooperation und für jeden Einzelnen von uns.
Nach Max Weber bedeutet Macht „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“. Dazu gehört auch Information. Digitalisierung und Datafizierung der Welt haben bei der Frage der Macht wiederum dialektische Entwicklungen in Serie produziert. Wann immer in den letzten Jahrzehnten digitale Innovationen zu einem großen technologischen Sprung ansetzten, waren sie mit einem Versprechen auf informationelle Bemächtigung des Einzelnen verbunden.
Der PC demokratisierte Rechenkraft, Software und damit elektronische Datenverarbeitung, zu der zuvor nur Konzerne und Regierungen Zugang hatten. Das Internet öffnete die Tür zum Wissen der Welt für alle, die Zugang zu einem vernetzten Computer hatten.
Googles Gründungsmission lautete: die Informationen der Welt neu organisieren und allen zugänglich machen. Und schließlich schienen die sozialen Medien, stark gefördert durch das mobile Internet und Smartphones, endlich den alten Türstehern der Informationsmacht ihre Schlüssel zu entreißen.
In mancher Hinsicht wurde jedes dieser Versprechen erfüllt. Und zugleich schlug jeder Gewinn an Information mit Brachialgewalt zurück. Die digitale Revolution hat Informationsasymmetrien verschärft, wie es die Pioniere der Technologie von Alan Turing über Vinton Cerf bis Tim Berners-Lee mit ihrem Anspruch auf Weltverbesserung durch Technik nicht voraussehen konnten – und erst recht nicht beabsichtigten. Die politische Antwort auf die immer weiter wachsende Informationsmacht der Superstarfirmen war hingegen bisher viel zu defensiv.
In den letzten zwei Jahrzehnten haben Gesetzgeber in westlichen Demokratien versucht, die Informationsmacht der entstehenden Digitalunternehmen einzuhegen. Sie haben unter anderem im Arbeitsrecht, Verbraucherschutz, Verwaltungsrecht, Urheberrecht und Medienrecht immer mehr Klauseln verankert, die den Zugriff der Datenkapitalisten begrenzen sollten. Die Europäische Datenschutz-Grundverordnung (EU-DSGVO) sollte schließlich zur großen Fußfessel der Datenmächtigen werden – und Europas Bürgerinnen und Bürgern Souveränität bringen über Informationen, die sie persönlich betrafen.
Ein offener europäischer Datenraum, dem sich die innovativen Volkswirtschaften Asiens und des globalen Südens anschließen können, ist eine ökonomische und gesellschaftliche Großchance.
Der Begriff Datenschutz taugt bei jeder Podiumsdiskussion in Europa, um sich moralisch korrekt zu inszenieren. Doch ausgerechnet die Mechanismen des Datenschutzes haben den digitalen Superstars geholfen, ihre Informationsmacht aufzubauen.
Wir sind nicht informationell selbstbestimmt, haben aber die Nutzungsrechte an maschinenlesbaren Informationen an US-Unternehmen abgegeben. Wir sind hoffnungslos überfordert, unsere Datenschutzeinstellungen bei der Vielzahl der digitalen Dienste sinnvoll zu managen. Wir nutzen sie dennoch, weil sie bequem und nützlich sind.
Der Preis ist individuelle und ökonomische Abhängigkeit trotz, zum Teil sogar gerade wegen der DSGVO, weil sie die Verantwortung auf den Schultern der Nutzer ablädt. Die DSGVO ist nüchtern betrachtet eine Machtdemonstration der Informationsmächtigen. Wir müssen in Europa aber endlich eine offensive Antwort auf die Machtkonzentration finden. Wir müssen die Informationsmächtigen verpflichten, ihre Informationsschätze mit anderen zu teilen – und zwar alle Informationsmächtigen, egal ob sie aus den USA, China oder Europa kommen. Wir müssen den Zugang zu Informationen für alle öffnen: für Bürgerinnen und Bürger, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Startups und innovative Mittelständler, Gesundheitsbehörden und Umweltschützende.
Ein weltweit offener Zugang zu Daten ist in Zeiten eines Tech Cold War (Technischen Kalten Krieges) zwischen den digitalen Supermächten USA und China und hybrider Cyber-Kriegsführung aus Russland eine hübsche Utopie ohne realistische Umsetzungschance.
Ein offener europäischer Datenraum, dem sich die innovativen Volkswirtschaften Asiens und des globalen Südens anschließen können, hingegen ist eine ökonomische und gesellschaftliche Großchance auf einen digitalen Befreiungsschlag. Aus Machtmaschinen in den Händen weniger würden Ermächtigungsmaschinen für alle, die mit Informationstechnologie kompetent umgehen können.
Europa könnte sich dann als innovativster Kontinent der Welt neu erfinden, weil eben dank geteiltem Datenreichtum die wichtigste Ressource der Welt im Überfluss für alle vorhanden wäre. Europa würde nicht mehr seine klügsten Datenwissenschaftler an US-Unternehmen verlieren, es würde die klügsten Talente aus aller Welt anziehen, weil sein Angebot für innovative Menschen kaum schlagbar wäre: kulturelle Vielfalt, Demokratie, sozialer Zusammenhalt und oben drauf noch die besten Bedingungen, mit Daten das Neue in die Welt zu bringen.
Die Gastautoren
Thomas Ramge (links) ist Technologie-Autor und Research Fellow im Center of Advanced Internet Studies.
Viktor Mayer-Schönberger ist Professor für Internetregulierung an der Oxford University.
Ihr Buch „Machtmaschinen“ ist im Oktober 2020 im Murmann Verlag erschienen.
URL dieses Artikels:
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