Debatte

Brauchen wir vom Facebook-Chef ein „Metaversum“, Herr Leipner?

Facebook-Chef Mark Zuckerberg hat angekündigt, mit dem Projekt „Metaversum“ in neue Dimensionen virtueller Realität vorzustoßen. Ingo Leipner über neue Möglichkeiten der digitalen Manipulation, die dabei unvermeidbar erscheinen. Ein Gastbeitrag

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Smiling young man experience VR headset, double exposure with city scape. © Istock
Die Hochschule Mannheim hat ein Kompetenzzentrum Virtual Engineering Rhein-Neckar aufgebaut

Die Wand kommt näher, näher und näher. Gleich krache ich mit meinem Kopf dagegen, ich zucke noch leicht zurück - doch nichts geschieht, schon ist die Mauer durchquert, ohne sie in Schutt und Asche gelegt zu haben. Wie ein Geist gleite ich hindurch, mein Körper hat sich aufgelöst. Auf der anderen Seite führt ein Gang zu neuen Räumen, weitere körperlose Durchbrüche warten auf mich. Wenig später stehe ich auf einem Dach: noch drei Schritte, und die Kante ist erreicht. Federleicht der Sprung in die Tiefe, vielleicht geht es 20 Meter hinunter - alles für mich kein Problem, auch „Superhelden“ wären nicht besser gelandet.

Wenn Menschen eine virtuell konstruierte Umgebung von der Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden können

Vom Dach springen und Wände durchqueren - was wie nach Elementen aus einem Actionfilm klingt, ist in Mannheim bereits Realität, genauer: „Virtuelle Realität“, (oder „Virtual Reality“, abgekürzt VR). Die Hochschule Mannheim hat ein Kompetenzzentrum Virtual Engineering Rhein-Neckar aufgebaut. Und ich war dort schon 2017 zu Besuch, um mehr über den neuesten Stand der Forschung zu erfahren: einfach eine VR-Brille aufsetzen - und in künstliche Welten abtauchen, die ein Computer generiert.

Damals geisterte noch nicht der Begriff „Metaversum“ durch die Medien, und Mark Zuckerberg hatte seinen Facebook-Konzern noch nicht in „meta“ umbenannt. Damit setzte der Multimilliardär erst 2021 ein Zeichen: „Wir glauben, dass das Metaversum der Nachfolger des mobilen Internets sein wird“, erklärte Zuckerberg. „Die nächste Plattform, das nächste Medium, wird noch immersiver sein - ein erlebbares Internet, bei dem man mittendrin ist, statt es von außen zu betrachten.“

Gastautor Ingo Leipner



  • Ingo Leipner ist Diplom-Volkswirt und Wirtschaftsjournalist. Neben Lehraufträgen an der Dualen Hochschule Mannheim arbeitet er als freiberuflicher Chefredakteur für das Wirtschaftsmagazin „econo“.
  • Er ist Autor kritischer Bücher zur Digitalisierung der Gesellschaft: „Die Lüge der digitalen Bildung“ (mit G. Lembke, 2015); „Heute mal bildschirmfrei“ (mit P. Bleckmann, 2018); „Die Katastrophe der digitalen Bildung“ (2020).
  • Sein neuestes Buch beschäftigt sich mit Manipulationstechniken in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik: „Moderne Rattenfänger. Querdenker, Marsstürmer und Social-Media-Helden - wie uns falsche Propheten manipulieren und der Gesellschaft schaden“, erschienen bei Redline.
  • www.ecowords.de

In diesem Zitat taucht der Komparativ „immersiver“ auf, kein Alltagsbegriff, aber ein Schlüsselwort für den neuen Trend im Internet. Was bedeutet es? Der Begriff hat lateinische Wurzeln und kommt von immergere, eintauchen, versenken. Im technischen Zusammenhang bezeichnet er den Grad des Eintauchens in eine virtuelle Realität (VR), heißt es im Dorsch, Lexikon der Psychologie. Die „Immersion“ wird als ein wesentliches Merkmal für Medien verstanden, „definiert als das Ausmaß, in dem die eingesetzte Technologie in der Lage ist, eine einschließende, intensive, umfassende und lebendige Illusion der Realität zu liefern“. Ein VR-System sei „umso immersiver, je mehr Sinnesmodalitäten angesprochen werden“. Außerdem zählt die Geschwindigkeit, in der ein Rechner Informationen verarbeitet (je schneller, desto immersiver). Und: Die Immersion nimmt zu, „je größer die Anzahl bereitgestellter Verhaltensmöglichkeiten ist“. Soweit die Definition aus dem Dorsch.

Die perfekte Immersion ist erreicht, wenn Menschen nicht mehr in der Lage sind, eine virtuell konstruierte Umgebung von der eigentlichen Wirklichkeit zu unterscheiden. Das zeigte bereits 1999 der dystopische Film Matrix: In dieser düsteren Welt vegetieren Menschen bewegungslos in Kapseln und „erleben“ ihre Umwelt nur über implantierte Gehirnsonden, die rein virtuell eine perfekte Welt aus der „Matrix“ vorgaukeln.

Wer diese virtuelle Parallelwelt aufbaut, will den menschlichen Sinnesapparat völlig überwältigen

Diese „Matrix“ ist im Film eine gewaltige Künstliche Intelligenz, der sich die Menschheit unterworfen hat. Eine der Schlüsselszenen: Es gibt unter den Rebellen einen Verräter, der sich mit einem Agenten der „Matrix“ unterhält. Dabei spießt er mit der Gabel ein rosarot gebratenes Stückchen Fleisch auf und sagt: „Ich weiß, dass dieses Steak nicht existiert. Ich weiß, wenn ich es in meinen Mund stecke, sagt die Matrix meinem Gehirn, dass es saftig und ganz köstlich ist.“ Klar: Diese Erkenntnis kann die Illusion eines genussvollen Lebens zerstören. Aber: Genau in dieses Gaukelspiel will der Verräter zurück, weil es ihm ein bequemes und luxuriöses Dasein bietet - „Ich will nichts mehr wissen, ich will alles vergessen.“ Dazu erklingt eine Harfe freundlich im Hintergrund.

Die Immersion erreicht in dieser Science-Fiction-Vision ein Ausmaß, von dem Mark Zuckerberg nur träumen kann. Er macht sich aber auf den Weg - und sein Marketing packt das „Metaversum“ in weiche Watte. Das beweisen Szenen aus einem „Meta“-Video, das der Konzern verbreitet: Eine Gruppe von Schülern steigt eine kleine Treppe hinauf; das Ziel sind vier Römer, die heftig streiten, alles vor einem antik wirkenden Gebäude. Da meldet sich eine Stimme aus dem Off: „Obwohl sie nicht im Jahr 32 vor Christus leben, können die Schülerinnen und Schüler erleben, wie Marcus Antonius im antiken Rom diskutiert.“

Die Suggestion: Im „Metaversum“ werden Schüler direkt in die Antike transportiert, sie erleben mit eigenen Augen und Ohren Weltgeschichte. Kein Bildschirm trennt sie mehr vom Geschehen, sie werden selbst zu Akteuren in dreidimensionalen Szenen, inklusive haptischer Erlebnisse. VR-Brillen und Datenhandschuhe machen es möglich.

Genauso wie ich in der Hochschule Mannheim vom hohen Dach gesprungen bin, was unmittelbar als virtuelle Realität zu erleben war. Ich stand „tatsächlich“ auf einem Dach!

Die Diskussion sollte jetzt beginnen – bevor Zuckerberg uns vor vollendete Tatsachen stellt

Aber Zuckerbergs Pläne stoßen auf Widerspruch. Jaron Lanier ist ein berühmter Internet-Pionier und inzwischen ein scharfer Kritiker der Geschäftsmodelle, die das Silicon Valley auf die Welt loslässt. Lanier spricht von „dynamisch optimierten Reizen“, die heute schon das Bewusstsein der Menschen okkupieren, bis hin zur Internetsucht.

Das ist aber nur ein schwacher Abglanz auf den Bildschirmen, verglichen mit den Möglichkeiten des „Metaversums“. Wer diese virtuelle Parallelwelt aufbaut, will den menschlichen Sinnesapparat völlig überwältigen. Diese Form der „optimierten Reize“ dient der ständigen Penetration des menschlichen Bewusstseins: Je immersiver die Eindrücke wirken, desto geringer fallen die Freiheitsgrade aus, um sich solchen Manipulationen zu entziehen.

Von Anfang an ging es bei Facebook um Manipulation, wie Gründungspräsident Sean Parker offen zugibt: Als das Netzwerk entwickelt wurde, so der Tech-Experte, drehte sich alles um die Frage: „Wie nehmen wir möglichst viel Zeit unserer Nutzer in Anspruch? Wie bekommen wir möglichst viel von ihrer bewussten Aufmerksamkeit?“

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Dabei geht es um das „Engagement“ der Menschen, ein zentraler Euphemismus der Tech-Branche: Das Wort klingt unschuldig, ist aber Teil des Geschäftsmodells zur Profitmaximierung. Wer das Engagement seiner User steigert, will sie nicht zu sozial engagierten Menschen machen. Vielmehr sollen sie sich an ihrem Smartphone „engagieren“, was im Klartext bedeutet: Je länger ein Mensch in Interaktionen mit seinem Handy verwickelt ist, desto größer wird die Chance, ihm zielgenau Werbung einzuspielen. Je mehr Werbung ein Provider einspielt, desto höher werden die Klickzahlen - und damit erhöht er seine Profite.

Diese manipulativen Konzepte sind seit Jahren bewährt und spülen „meta“ und Co. schon jetzt Milliarden Dollar in die Kasse. Millionen Menschen kämpfen in der Gegenwart mit dem Problem, ihr Handy auch nur zehn Minuten auf die Seite zu legen. Schließlich trichtert ihnen ein globales Marketing die Notwendigkeit ein, „always on“ zu sein - als Dauerpublikum für Werbebanner.

Das reicht Zuckerberg wohl nicht aus. Er will die Manipulation in ihrer Raffinesse so perfektionieren, dass ein „Metaversum“ als Parallelwelt gewaltige Sogwirkungen entfaltet - und unzählige Menschen in virtuelle Räume reißt.

Die Welt der Dinosaurier hautnah erleben? Unbeschadet im Dreck der Schützengräben liegen? In staubigen Mondkratern spazieren gehen? Was für eine faszinierende Kraft steckt in dieser künftigen Technologie!

Und Zuckerberg hat ganz große Pläne: „Wir hoffen, … mit dem Metaversum innerhalb des nächsten Jahrzehnts eine Milliarde Menschen zu erreichen, hunderte Milliarden US-Dollar an digitalem Handel zu ermöglichen und Millionen von Creator:innen und Entwickler:innen einen Arbeitsplatz zu bieten.“

Kann es Zuckerberg erlaubt sein, solche Experimente wirklich an einer Milliarde Menschen durchzuführen? Was sind die Konsequenzen - für Körper, Seele und Geist? Welche Folgen ergeben sich für die menschliche Identität? Die Diskussion darüber sollte jetzt beginnen, bevor Zuckerberg uns vor vollendete Tatsachen stellt. Anmerkung: Während der Autor diesen Text Korrektur liest, meldet die Tagesschau: Zuckerbergs Konzern werde 11 000 Stellen abbauen, die Sparte Reality Labs habe einen Fehlbetrag von 9,4 Milliarden Dollar. Dort lässt Zuckerberg sein „Metaversum“ entwickeln. Vielleicht erledigt sich diese Dystopie aus ökonomischen Gründen?

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