Was hilft wirklich gegen Einsamkeit, Herr Witzmann?

Einsamkeit ist eine Volkskrankheit. Ihre Folgekosten gehen in die Milliarden. Die Politik hat das Problem endlich erkannt – und erste Schritte eingeleitet. Doch die sind nur ein Teil der Lösung. Ein Gastbeitrag

Von 
Philipp Witzmann
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Viele Menschen in Deutschland sind einsam. Das muss aber nicht sein, sagt unser Gastautor Philipp Witzmann. © istock/Viktor Strasse

Einsamkeit ist eine stille Epidemie. Sie betrifft Millionen Menschen in Deutschland und kostet uns alle Milliarden. Sie erhöht das Risiko für Herzinfarkte und Schlaganfälle, für Depressionen, Demenz und Diabetes, für Krebs und Angststörungen. Sie ist so schädlich wie das Rauchen von 15 Zigaretten am Tag. Sie sorgt dafür, dass Betroffene statistisch früher sterben.

Und betroffen, das sind wirklich viele: Einige Erhebungen gehen von zehn Millionen einsamen Deutschen aus, andere von mehr als doppelt so vielen. Die Stiftung Patientenschutz bezeichnet Einsamkeit als „die größte Volkskrankheit in Deutschland“. Trotzdem wurde das Problem lange unterschätzt – bis heute: Nach wie vor wird Einsamkeit nicht als Krankheit eingestuft und ist keine in der Medizin anerkannte Diagnose.

Die Regierung verabschiedet eine Einsamkeitsstrategie mit 111 Maßnahmen – viele davon sind nicht neu.

Während Länder wie Großbritannien und die Niederlande bereits vor Jahren erfolgreich nationale Strategien gegen Einsamkeit implementiert haben, hinkt Deutschland hinterher. In den Niederlanden startete bereits 2018 das Programm „Een tegen eenzaamheid“ („Vereint gegen Einsamkeit“), begleitet von einer landesweiten Aufklärungskampagne. In Großbritannien begann schon zwei Jahre zuvor eine eigens eingerichtete Kommission damit, eine Strategie gegen Einsamkeit zu entwickeln. 2018 wurde das Thema dort sogar auf ministerieller Ebene angesiedelt.

Und in Deutschland? Hier dauerte es bis Dezember 2023, bis die Bundesregierung eine Einsamkeitsstrategie für Deutschland verabschiedete.

Der Knackpunkt: Die von Bundesfamilienministerin Lisa Paus vorgelegte Strategie sieht 111 Maßnahmen gegen Einsamkeit vor – von denen sind aber viele nicht neu, sondern laufen bereits und werden bloß unter den Schirm der neuen Strategie geholt. Und frisches Geld gibt es für die Umsetzung der Strategie auch nicht. Das hat Paus angesichts der angespannten Haushaltslage erst gar nicht beantragt. Stattdessen setzt sie notgedrungen auf bis zu 50 Millionen Euro aus dem Europäischen Sozialfonds. Es ist aber schwer, aus 50 Eimern Wasser in der Wüste eine Oase werden zu lassen, wenn man sie verstreut verteilt. Damit die Einsamkeitsstrategie nicht als bloße Symbolpolitik endet, braucht es eine nationale Herangehensweise und Bündelung. Und es braucht auch über das Bundesfamilienministerium hinaus den politischen Willen, das Problem ernsthaft anzupacken.

Der Gastautor



Philipp Witzmann beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit dem Problem der Einsamkeit und will als CEO des Nachbarschaftsnetzwerks nebenan.de einen Teil zur Lösung beitragen.

Geeint im Engagement gegen Einsamkeit stehen Philipp Witzmann und nebenan.de auch im engen Austausch mit dem Bundesfamilienministerium und dem Kompetenznetz Einsamkeit, das sich mit den Ursachen und Folgen von Einsamkeit auseinandersetzt und Strategien zur Prävention und Bekämpfung von Einsamkeit in Deutschland entwickelt.

Nach dem BWL- und Politikstudium in Trier und Atlanta folgten für Witzmann Stationen bei internationalen Konzernen wie Vodafone und Wayfair. Anschließend entschied er sich gegen eine Konzernkarriere und für eine Aufgabe mit möglichst großer gesellschaftlicher Wirkung – und wechselte nach Berlin zu nebenan.de, zunächst als Chief Commercial Officer und seit Oktober 2022 als Geschäftsführer.

 

Was dabei helfen könnte: Klarheit. Klarheit darüber, welchen Preis es hat, wenn Einsamkeit nicht mit aller Macht bekämpft wird. Denn die tatsächlichen Kosten der Einsamkeit – volkswirtschaftlich und gesellschaftlich – sind hierzulande noch nicht vollständig erfasst. Eine Studie aus den USA beziffert die volkswirtschaftlichen Folgekosten von Einsamkeit auf 406 Milliarden Euro jährlich. Für Deutschland gibt es solche Untersuchungen nicht. Das muss sich ändern.

Was es neuerdings immerhin gibt, sind Studien zur Verbreitung von Einsamkeit. Erweckungserlebnis war hier die Corona-Pandemie, als in Zeiten der Lockdowns, der Schulschließungen, Kontaktbeschränkungen und Veranstaltungsverbote offensichtlich wurde, dass zahlreiche Menschen sich isoliert und einsam fühlen. Auch die Bundesregierung hat inzwischen solch eine Einsamkeitsstudie in Auftrag gegeben und Ende Mai nicht ohne Stolz veröffentlicht. Das sogenannte Einsamkeitsbarometer basiert allerdings auf Daten, die nur bis zum Jahr 2021 gehen – also für die Gegenwart nur begrenzt aussagekräftig sind.

In diversen Studien wurde vielfach nachgewiesen, dass Einsamkeit keineswegs nur ältere Menschen trifft. Besonders betroffen sind auch junge Erwachsene, zu den Risikogruppen gehören zum Beispiel Alleinerziehende. Ihnen und anderen einsamen Menschen will die Bundesregierung laut Einsamkeitsstrategie jetzt helfen, es gibt Maßnahmen zur Sensibilisierung und auch diverse Modellprojekte. Aber strukturelle Ursachen wie zum Beispiel Armut oder Geschlechter-Ungleichheit werden nicht adressiert.

Digitale Tools und Technologien sollten eine Brücke ins echte Leben, zur echten Begegnung schlagen.

Doch was hilft wirklich gegen Einsamkeit? Es reicht nicht aus, nur symbolische Maßnahmen zu ergreifen. Was wir brauchen, sind koordinierte nationale und finanziell gut ausgestattete Ansätze. Wir müssen Einsamkeit als gesamtgesellschaftliches Problem anerkennen und entsprechend handeln. Nur durch umfassende und gut koordinierte Initiativen können wir Einsamkeit wirksam bekämpfen. Das ist Aufgabe der Politik – aber kein Problem, das sie alleine lösen kann.

Es braucht Mithilfe aus der Gesellschaft und ja, auch aus der Wirtschaft, vor allem der Digitalwirtschaft. Denn digitale Technologien und moderne Kommunikationsformen sind prädestiniert für den Kampf gegen Einsamkeit und für den Zugang zu Gemeinschaften. Sie ermöglichen es, schnell und unkompliziert zu kommunizieren, Unterstützung zu finden und Gemeinschaft zu erleben. Sie bieten außerdem flexible Kommunikationsmöglichkeiten, die sich an individuelle Bedürfnisse und Zeitpläne anpassen lassen.

Welche Kraft digitale Plattformen haben, um Menschen zu vernetzen und die Kraft der Gemeinschaft zu mobilisieren, haben wir auf dem Nachbarschaftsnetzwerk nebenan.de kurz nach dem russischen Angriff auf die Ukraine gesehen. Mehr als 50 000 Betten wurden an Geflüchtete aus der Ukraine vermittelt. Auch abseits solcher akuter Krisen geben Nutzer:innen immer wieder die Rückmeldung, dass eine Plattform wie nebenan.de hilft, Menschen zusammenzubringen. Solche Plattformen ermöglichen Menschen, andere kennenzulernen, Empfehlungen auszutauschen und sich gegenseitig zu unterstützen. Es können unkompliziert Hilfsangebote koordiniert werden, etwa Einkaufshilfen, Kinderbetreuung oder gemeinsame Aktivitäten. Das fördert den sozialen Zusammenhalt – und das Gefühl, nicht allein zu sein: Ein Viertel der „nebenan“-Nutzer:innen fühlt sich nach kurzer Zeit weniger einsam, bei den unter 35-Jährigen ist es sogar ein Drittel. Ein kleiner Eindruck, was mit den passenden Instrumenten möglich ist.

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Entscheidend ist bei alldem aber, dass es möglichst nicht beim virtuellen Austausch bleibt, sondern dass daraus echte Begegnungen im analogen Leben resultieren. Die Technik ist Mittel zum Zweck, um Menschen auch im echten Leben zusammenzubringen. Denn diese Begegnungen sind es, die uns wirklich erfüllen und das Gefühl von Gemeinschaft erlebbar machen können. Ein Videotelefonat ist ein schönes Hilfsmittel, aber es ersetzt keine tatsächliche Umarmung. Ein fröhliches Emoji ersetzt kein echtes Lächeln.

Deswegen sind auch vermeintliche Durchbrüche in der Künstlichen Intelligenz (KI) mit Vorsicht zu genießen. Künstliche Intelligenz wird oft als potenzielle Lösung gegen Einsamkeit angeführt, doch sie birgt auch massive Risiken. Während KI-gestützte virtuelle Begleiter alten und einsamen Menschen in Pflegeeinrichtungen helfen können, besteht die Gefahr, dass gesunde Menschen zunehmend echte soziale Kontakte durch bequeme, aber oberflächliche Interaktionen mit KI-Avataren ersetzen. Dies kann zu einer schleichenden sozialen Isolation führen, da KI-Chatbots darauf ausgelegt sind, Nutzer:innen zu binden und Abhängigkeiten zu schaffen. Umso wichtiger ist es, dass wir KI-Technologie verantwortungsvoll nutzen.

Künstliche Intelligenz wird oft als potenzielle Lösung gegen Einsamkeit angeführt, doch sie birgt auch massive Risiken.

Bei der Pflege von Menschen, die auf Unterstützung angewiesen sind, kann auch die Nachbarschaft eine tragende Rolle spielen – und mithelfen, Einsamkeit zu überwinden. In Deutschland gibt es derzeit 4,5 Millionen pflegebedürftige Personen, und diese Zahl wird bis 2030 auf 6 Millionen anwachsen. Wenn wir es schaffen, einen Großteil der nicht-medizinischen Pflegeaufgaben an Menschen in der Nachbarschaft auszulagern, schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe: Wir sorgen dafür, dass pflegebedürftige Menschen in ihrem Umfeld eingebunden bleiben und gleichzeitig weniger einsam sind. Wichtig auch hier: echte Begegnungen. In Zusammenarbeit mit der Diakonie haben wir Projekte zur Übertragung unseres städtischen Modells auf den ländlichen Raum gestartet. Dabei hat sich ganz klar gezeigt, dass analoge Begegnungsorte notwendig sind, um nachhaltige soziale Verbindungen zu fördern und Menschen dauerhaft aus der Einsamkeit zu holen.

Einsamkeit ist ein komplexes Problem, das wir nur durch koordinierte Anstrengungen und gezielte finanzielle Unterstützung lösen können. Die Bundesregierung hat einen Anfang gemacht, aber wir müssen mehr tun. Gemeinsam können wir die Kraft der Gemeinschaft nutzen, um Einsamkeit zu bekämpfen und unsere Gesellschaft zu stärken. Gemeinsam können wir diese stille Epidemie besiegen.

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