15 507. Es ist eine Zahl wie jede andere. Und wie jede andere Zahl ist sie unbestechlich. Deshalb nutzen wir Zahlen, um zu vergleichen. Die Zahl auf der Waage zeigt, ob wir zu- oder abgenommen haben. Die Zahl auf unserem Konto, ob wir mehr ausgegeben als wir verdient haben. Und die Zahl 15 507 zeigt, dass wir ein immer größer werdendes Problem mit den Fällen des Kindesmissbrauchs haben.
15 507 Fälle des sexuellen Missbrauchs von Kindern wurden im Jahr 2021 polizeilich registriert. Im Vorjahr waren es 14 594 und in 2019 waren es 13 670. Um diese großen Zahlen etwas anschaulicher zu gestalten: Im Jahr 2019 wurden täglich 37 Kinder in Deutschland Opfer eines sexuellen Missbrauchs, 2020 waren es schon 40 Kinder und in 2021 bereits 42 Kinder. An jedem einzelnen Tag.
Der Gastautor Thorsten Schleif
Thorsten Schleif, 1980 geboren, studierte Rechtswissenschaften in Bonn und ist heute Vorsitzender des Schöffengerichts am Amtsgericht Dinslaken.
In seinem aktuellen Buch „Wo unsere Justiz versagt - Von Messerstechern, Kinderschändern und Polizistenmördern. Ein Richter deckt auf“, das dieses Jahr im riva-Verlag erschienen ist, zeigt er anhand von 16 Fällen die gegenwärtigen Probleme der deutschen Justiz auf.
Vor diesem Hintergrund ist es nur nachvollziehbar, dass der Ruf nach härteren Strafgesetzen laut wird. Doch ein Blick in das Strafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland zeigt: Unsere Gesetze lassen bereits jetzt Raum für harte Strafen.
Der sexuelle Missbrauch von Kindern wurde bis zum 30. Juni 2021 mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft. Seit dem 01. Juli 2021 ist der Strafrahmen noch einmal angehoben worden, nunmehr ist die Verhängung einer Freiheitsstrafe von einem bis zu fünfzehn Jahren möglich. Fünfzehn Jahre. Dies ist eine Freiheitsstrafe, die von den meisten Bürgern als durchaus „hart“ angesehen werden dürfte.
Wieso werden dann so häufig die Urteile in den Fällen des Kindesmissbrauchs als zu milde empfunden? Haben die mehr oder wenigen sachkundigen Stimmen am Ende recht, wenn sie behaupten, es seien nur wenige Ausnahmefälle mit ganz besonderen Umständen, über die in den Medien berichtet wird? Sind die meisten Urteile tatsächlich angemessen?
Auch hier hilft ein Blick in die offiziellen Zahlen des Statistischen Bundesamts: Im Jahr 2019 wurden 564 Verurteilungen wegen sexuellen Missbrauchs ausgesprochen. In 85 Prozent dieser Fälle wurden die Täter zu Freiheitsstrafen von nicht mehr als zwei Jahren verurteilt, 82 Prozent der Freiheitsstrafen wurden zur Bewährung ausgesetzt. Diese Zahlen bleiben in 2020 nahezu konstant: 572 Verurteilungen, 84 Prozent Freiheitsstrafen von nicht mehr als zwei Jahren, 80 Prozent Bewährungsquote.
Ein einfacher Vergleich des gesetzlichen Strafrahmens und der tatsächlich ausgesprochenen Strafen zeigt, dass milde Urteile keinesfalls die Ausnahme, sondern die Regel sind. Wenn das Gesetz (in der alten Fassung bereits) einen Strafrahmen von sechs Monaten bis zehn Jahren eröffnete, so wären im Durchschnitt Freiheitsstrafen von etwa fünf Jahren zu erwarten. Da in 85 Prozent der Fälle jedoch Strafen weit unter der Hälfte des Strafrahmens ausgesprochen werden, reichen bereits rudimentäre mathematische Grundkenntnisse, um zu erkennen, dass die Vorstellung der Richter von einer angemessenen Strafe offenkundig ganz erheblich von der des Gesetzgebers abweicht. Die Strafurteile in Deutschland sind im Durchschnitt erheblich zu milde.
Das betrifft übrigens keineswegs nur die Urteile in den Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kindern. Auch bei den Fällen der gefährlichen Körperverletzung - etwa durch den Einsatz von Messern, Baseballschlägern, Eisenstangen und Flaschen - liegen 99 Prozent (!) der Strafen unterhalb der Hälfte des gesetzlichen Strafrahmens. Ähnlich hoch ist die Quote bei den Delikten der Kinder- und Jugendpornografie.
Der laute Widerspruch in der Bevölkerung gegen zu milde Urteile ist also absolut gerechtfertigt und er ist darüber hinaus von elementarer Bedeutung für unsere Demokratie. Der Bürger ist der einzige Souverän unseres Landes. Wenn er (mittelbar) durch das Parlament, die Staatsdiener der Gesetzgebung, ein Strafgesetz erlässt, dann haben die Staatsdiener der Rechtsprechung, die Richter, dieses Gesetz zu respektieren. Das bedeutet auch, dass sie die Vorstellung des Bürgers für eine angemessene Strafe für eine durchschnittliche Tat zu respektieren haben, die sich den jeweiligen Strafrahmen entnehmen lässt.
Wenn Richter regelmäßig Strafen verhängen, die den gesetzlichen Strafrahmen nicht einmal zur Hälfte ausschöpfen, dann setzen sie ihre Auffassung von einer angemessenen Strafe faktisch an die des Gesetzgebers. Anders ausgedrückt: Die Staatsdiener nehmen für sich in Anspruch, besser zu wissen, was eine grundsätzlich angemessene Strafe für einen Kindesmissbrauch ist, als der Souverän unseres Landes. Dieser Überheblichkeit, die sich in zu vielen Urteilen widerspiegelt, begegnet der mündige Bürger völlig zu Recht mit Widerspruch und Ablehnung.
Die Ursache für diese milde Rechtsprechung ist dabei - jedenfalls in den meisten Fällen - nicht etwa Mitgefühl oder Verständnis für die Täter, sondern allein die Sorge vor einer Aufhebung des eigenen Urteils in der Rechtsmittelinstanz. Nicht wenige Vorsitzende der Landgerichte empfinden es als persönliche Schmach, vom Bundesgerichtshof aufgehoben zu werden. Deshalb wird lieber auf ein „hartes“ Urteil verzichtet, das der Angeklagte mit Sicherheit nicht akzeptiert, und eine milde Strafe ausgeurteilt, in der durchaus begründeten Hoffnung, dass die Staatsanwaltschaft dieses akzeptiert. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass ein Angeklagter gegen ein Urteil Revision einlegt, ist 30 Mal höher als eine Revisionseinlegung durch die Staatsanwaltschaft.
Diesem offenkundigen Ego-Problem kann nur begegnet werden, wenn Richterauswahl und -beförderung von Grund auf anders gestaltet werden. Zum einen ist eine konsequente Entkopplung von der Regierung notwendig, damit der Gefahr begegnet wird, dass eher bequeme Richter eingestellt werden, von denen kein Widerspruch zu erwarten ist. Zum anderen müssen psychologische Tests mit den Kandidaten durchgeführt werden, um festzustellen, ob sie charakterlich überhaupt in der Lage sind, auch ein „hartes“ Urteil zu sprechen.
Bis zur Umsetzung einer solchen Reform, die von den Regierungen gemieden wird wie das Weihwasser vom Teufel, könnten die Justizminister leicht für Abhilfe sorgen: Die §§ 146, 147 Gerichtsverfassungsgesetz gestatten es ohne weiteres, den Staatsanwaltschaften allgemeine Weisungen zu erteilen, wie zum Beispiel die, dass Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern konsequent zu den Landgerichten angeklagt und offenkundig milde Entscheidungen ebenso konsequent mit der Revision angegriffen werden. Diese Möglichkeit wird jedoch nicht genutzt.
Der Widerstand der Bevölkerung gegen die ganz regelmäßig milden Urteile in den Fällen des Kindesmissbrauchs ist nicht nur begründet, sondern auch vor dem Hintergrund unserer demokratischen Grundsätze absolut begrüßenswert. Eine Abhilfe kann langfristig nur durch grundlegende Reformen bei der Richterauswahl und -beförderung geschaffen werden. Kurzfristig könnten die Justizminister der Länder mit einer allgemeinen Weisung an die ihnen nachgeordneten Staatsanwaltschaften dem Problem entgegentreten. Erwarten darf der Bürger gegenwärtig jedoch weder das eine noch das andere.
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