Man kann es machen wie die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB): Unter dem Druck der öffentlichen Meinung kündigten sie vor Jahren an, auf den Einsatz des Unkrautvernichters Glyphosat verzichten zu wollen. Allerdings müssen die 6000 Gleiskilometer der ÖBB, genau wie jene der Deutschen Bahn, weiterhin frei von Bewuchs bleiben – aus Sicherheitsgründen. Was also tun? Heißes Wasser oder Flammen können Pflanzen zwar auch abtöten, aber der Energie- und Zeitaufwand ist viel zu hoch.
Nicht selten zählt grüner Schein mehr als effektiver Nutzen – es fehlt an Ehrlichkeit
Es kam genauso, wie von vielen Experten prophezeit: Die ÖBB setzen inzwischen einen Mix aus anderen Unkrautvernichtern (Herbiziden) ein. Die chemisch-synthetischen Wirkstoffe darin sind, genau wie Glyphosat, aus dem Werkzeugkasten der konventionellen Landwirtschaft. Genau wie Glyphosat berauben sie Bienen und andere Insekten ihrer Nahrung, weil sie den Bewuchs vollständig abtöten. Dazu kommt: Mehrere Bestandteile der Mischung sind laut Zulassungsbehörden nicht, so wie Glyphosat, „giftig für Wasserorganismen“. Stattdessen sind sie „sehr giftig für Wasserorganismen“. Einer der Wirkstoffe namens Diflufenican zeigt in seinem toxikologischen Profil sogar eine mehr als doppelt so starke akute Giftigkeit wie Glyphosat.
Objektiv ist durch die Umstellung also nichts gewonnen, außer womöglich ein besseres Image für die ÖBB. Ein Artikel in der meistgelesenen Zeitung Österreichs bejubelte den offiziellen Start des neuen Unkrautmanagements wenig zurückhaltend als „Öko-Sprühfahrt“ eines „Öko-Hightechzugs“ . Die alternativen Mittel bringen aber keinerlei nachgewiesene Vorteile, weder für die Umwelt noch für die menschliche Gesundheit.
Letzteres vor allem deshalb nicht, weil sich die für Pestizide zuständigen Institutionen der Wissenschaft überall in der Welt schon bei Glyphosat einig sind, dass es – ordnungsgemäß angewendet – unbedenklich und sogar weniger giftig ist als andere zugelassene Mittel. Das JMPR, ein gemeinsames Gremium der WHO und der Weltlandwirtschaftsorganisation FAO hält es genauso für nicht krebserregend wie die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit EFSA oder das deutsche Bundesinstitut für Risikobewertung BfR .
Die Geschichte aus Österreich steht in vielerlei Hinsicht sinnbildlich für unseren Umgang mit Umweltthemen. Ihm fehlt es an Ehrlichkeit. Nicht selten zählt grüner Schein mehr als effektiver Nutzen. Das gilt ganz besonders für die beliebte Forderung nach einem weitreichenden Verbot oder gleich der kompletten Abschaffung von Pflanzenschutzmitteln. Weite Teile der Gesellschaft glauben in ihnen eines der großen Übel der Menschheit zu erkennen. Dabei verkennen sie in gefährlicher Weise eine einfache Wahrheit: Pflanzenschutzmittel schützen unsere Ernten. Überhaupt sind moderne Gesellschaften viel mehr auf den Einsatz von Pestiziden angewiesen, als vielen bewusst sein dürfte.
Seitdem es eine Pandemie gibt, steht ein Pestizidspender im Eingangsbereich vieler öffentlicher Bereiche. Die darin enthaltenen Desinfektionsmittel sollen unliebsames Leben in Form von Viren und Bakterien an unseren Händen unschädlich machen. Sie zählen zur Pestizid-Untergruppe der Biozide, genau wie Holzschutzmittel oder das Chlor, das Trink- oder Schwimmbadwasser vor Algen und anderen Mikroorganismen schützt. In vielen Lebensbereichen akzeptieren wir ohne Nachdenken den dosierten Einsatz von „Chemie“ zur Abtötung von Lebewesen, die uns schaden. Nur bei der Produktion unserer Lebensmittel soll möglichst nichts als Natur im Spiel sein. Chemische Pflanzenschutzmittel, eine weitere Untergruppe der Pestizide , haben daher einen schweren Stand.
100 Tassen Kaffee auf einmal bringen einen Menschen um. Koffein: Gift oder Genussmittel?
Zum Teil dürfte dieser Umstand auf einer falschen Vorstellung des Zusammenspiels von Chemie und Natur beruhen. Während ersteres grundsätzlich verdächtig und giftig erscheint, messen wir zweiterem gerne eine Art sanfte und schonende Wirkung bei. Obwohl es sich bei einigen der stärksten bekannten Gifte um reine Naturprodukte handelt und auf der anderen Seite nichts deshalb schädlich sein muss, weil es in einem Chemiewerk zusammengerührt wurde.
Aussagen zur Giftigkeit sind außerdem wenig wert, solange weder die Dosis bekannt noch die Frage geklärt ist, für welches Lebewesen ein Stoff giftig sein soll. Nehmen wir das Beispiel des pflanzlichen Insektizids Koffein. Der Kaffeestrauch lagert in seinen Samen gerade so viel davon ein, dass es Insekten lähmt oder tötet, wenn sie daran knabbern. Auf den normalen Kaffeetrinker wirkt das Nervengift dagegen anregend, manches spricht gar für eine gesundheitsfördernde Wirkung mäßigen Kaffeegenusses. Zehn Gramm Koffein auf einmal (rund 100 Tassen Kaffee) bringen einen Menschen dagegen um. Gift oder Genussmittel?
Aber warum genau kann die Landwirtschaft nicht auf Pflanzenschutzmittel verzichten? Um die Antwort zu verstehen, müssen wir uns einen Umstand vergegenwärtigen, der dem Gefühl vieler Menschen zuwiderläuft: Kulturpflanzen sind keine Naturwesen. Vielmehr wurden sie von unseren Vorfahren über Jahrtausende hinweg genetisch so stark manipuliert, dass sie heute völlig anders aussehen als ihre wilden Verwandten. Auch die Zusammensetzung ihrer Inhaltsstoffe wurde dadurch verändert. Bitterstoffe wurden heraus-, Aromen und Süße hineingezüchtet. Herausgekommen sind Kulturpflanzen, die sich in freier Wildbahn nur schwer behaupten können.
Der Gastautor
Der Journalist Timo Küntzle, am 20. September 1974 in Karlsruhe geboren, wuchs als Sohn einer Getreide- und Milchbauernfamilie auf einem Bauernhof in Weingarten (Baden) auf.
Nach der Ausbildung zum Landschaftsgärtner studierte er Agrarwissenschaften an der Universität Hohenheim und arbeitete als Redakteur, unter anderem bei der Rechercheplattform Addendum.
Heute arbeitet Küntzle als Agrarjournalist in Wien. Er ist außerdem als Gesellschafter an der Küntzle & Sakatsch Landbau GbR beteiligt. Der Ackerbau-Familienbetrieb bewirtschaftet rund 160 Hektar Fläche.
Sein Buch „Landverstand. Was wir über unser Essen wirklich wissen sollten“ ist dieses Jahr im Verlag Kremayr & Scheriau (Wien) erschienen.
Mehr im Internet unter landverstand.net
Im Gegensatz zu ihren natürlichen Ausgangsformen, die von der Evolution auf eigenständiges Überleben und Vermehrung getrimmt waren, legen Kulturpflanzen einen Großteil ihrer Energie in die vom Menschen antrainierte Aufgabe, viele dicke Körner oder süß schmeckende Früchte zu liefern. Ohne den Schutz des Menschen würden viele schnell von viel robusteren, giftige Samen produzierenden Pflanzen überwuchert, von Insekten zerfressen oder von stark gesundheitsschädlichen Schimmelpilzen ungenießbar gemacht.
Mitte des 19. Jahrhunderts starben eine Million Iren, nachdem die Kraut- und Knollenfäule große Teile der Kartoffelernte zerstört hatte. Hunger war bis vor Kurzem das größte Übel der Menschheit auf allen bewohnten Kontinenten. Dies ist der Grund dafür, dass die Landwirtschaft Unkrautvernichtungsmittel (Herbizide), Insektenvertilgungsmittel (Insektizide) oder Anti-Pilzmittel (Fungizide) einsetzt. Ihnen ist es, neben verbesserten Sorten und „Kunstdünger“ mit zu verdanken, dass sich die Spezies Mensch von weniger als einer Milliarde im Jahr 1800 auf inzwischen fast acht Milliarden vermehrt hat.
Aber die Biolandwirtschaft schafft es doch auch ohne Pestizide, werden Sie jetzt vielleicht denken. Womit wir wieder beim Thema Ehrlichkeit wären. Entgegen anderslautenden Behauptungen nutzen auch Ökobauern in manchen Kulturen Pestizide. Besonders deutlich lässt sich das an den Statistiken des Öko-Musterlandes Österreich ablesen. Dort ist der Anteil der biologisch bewirtschafteten Fläche mit 27 Prozent EU-Spitze, im Jahr 2020 waren aber auch satte 43 Prozent der verkauften Pflanzenschutzmittelwirkstoffe solche, die auch bei Bio erlaubt sind.
Zwar müssen Öko-Landwirte auf chemisch-synthetische Wirkstoffe verzichten, aber auch die als „natürlich“ definierten Wirkstoffe verfolgen nur einen Zweck: bestimmte Organismen zu töten oder an der Vermehrung zu hindern. Auch diese Mittel sind also unter bestimmten Umständen giftig und keinesfalls frei von potentiellen Nebenwirkungen. Das Öko-Pestizid Kupfer etwa hält Kartoffeln, Reben und Obst frei von Schadpilzen, ist aber laut amtlicher Einstufung auch „schädigend für Regenwurmpopulationen“ und „sehr giftig für Wasserorganismen“.
Pauschale Verbote bedeuten kleinere Ernten und größeren Bedarf für Lebensmittelimporte
Letzteres ist auch Spinosad, ein biologischer Insektenvertilger, der obendrein in die höchste Bienengefährdungsklasse B1 eingestuft ist. Kommt eine Biene in gebrauchsüblichen Mengen damit in Kontakt, stirbt sie. Sind Öko-Flächen deshalb Todeszonen für Insekten? Nein, denn jeder Wirkstoff, egal ob synthetisch oder natürlich, wird nur unter Auflagen und für definierte Zwecke zugelassen. B1-Mittel etwa dürfen nicht auf blühende Pflanzen ausgebracht werden.
Dennoch: Der Einsatz von Pestiziden im Freien ist immer ein Eingriff in die Natur – ihr Zweck ist das Töten zum Nutzen des Menschen. Ihr Einsatz muss daher stets behördlich reguliert und so wohl dosiert wie möglich erfolgen. Pauschale Verbote würden aber kleinere Ernten und größeren Bedarf für Lebensmittelimporte bedeuten. So viel Ehrlichkeit muss sein.
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