Was bedeutet es heute, Mann zu sein, Herr Witzel?

Mutig, mächtig, männlich? Die alte Vorstellung vom starken Geschlecht hat ausgedient, unser Bild von Maskulinität ist im Wandel. Autor Julian Witzel sucht einen Ausweg aus der toxischen Männlichkeit – muss er das zu Zeiten des Krieges überhaupt noch? Ein Gastbeitrag

Von 
Julian Witzel
Lesedauer: 
Mehr denn je müssen sich Männer heute mit der eigenen Männlichkeit auseinandersetzen. © Istock/Ben Klöden
Es gibt eine riesige Gruppe Männer, die eine enorme Unsicherheit plagt und die ihr Mannsein reflektieren muss

Seit einigen Wochen werde ich von Journalisten einigermaßen ungewöhnliche Dinge gefragt: Feiert der alte weiße Mann mit Putin sein Comeback? Bringen die Klitschkos den Heldenkult zurück? Ist es unmännlich, nicht in den Krieg ziehen zu wollen?

Dass ich einmal zur Soziologie eines Krieges befragt werden würde, hatte ich vor kurzem nicht unbedingt für möglich gehalten. Wirklich abwegig ist es dennoch nicht – schließlich habe ich mich in den letzten Monaten intensiv mit den Thema Männlichkeit auseinandergesetzt. Und betrachtet man die Akteure jenes Krieges, der als beunruhigend mörderisches Grundrauschen jedes gegenwärtige Denken zu untermalen scheint, handelt es sich hierbei quasi ohne Ausnahme nun mal um: Männer. Aber der Reihe nach.

Ist es wirklich falsch, wenn ich auf Oldtimer stehe und die Qualität eines perfekt gegrillten Steaks schätze?

Gerade ist mein Sachbuch „Junge weiße Männer“ erschienen. Ich habe es geschrieben, weil es mir ein regelrecht persönliches Bedürfnis war, die Debatte rund um eine sogenannte neue Männlichkeit um die Perspektive eines relativ jungen Cis-Hetero-Mannes – und damit zunächst erstmal um meine eigene – zu erweitern. Hier stehen sich im öffentlichen Gesprächsverlauf, wie ich ihn wahrnehme, in größter Verkürzung zwei widerstreitende Parteien gegenüber: auf der einen Seite die woke community, junge bis sehr junge Männer und Frauen, meist aus dem linksliberalen Milieu, die die Debatte treiben, nach der Dekonstruktion normativer Männlichkeitsbilder schreien, die das Ende des Patriarchats zugunsten der Frau und marginalisierter Gruppen fordern und die den alten weißen Mann als Wurzel allen Übels längst von den Bühnen und bald wahrscheinlich sogar aus der Stadt gecancelt haben.

Ihnen gegenübergestellt lauert die Gruppe der gekränkten Männer, oft Herren der Boomer-Generation, die von der Angst geplagt sind, den Luxus ihrer fragwürdigen Vormacht verlieren zu können, sich meist hinter einer unangemessenen Polemik verschanzen und in jeder Transperson einen Angriff auf die eigene Männlichkeit sehen.

Mehr zum Thema

Ladenburg

Ukrainerin Inna: „Ich muss schwimmen“

Veröffentlicht
Von
Peter Jaschke
Mehr erfahren

Dazwischen, und hier wird es spannend, wartet als soziologisches Ruhepotenzial eine riesige Gruppe Männer, die eine enorme Unsicherheit plagt, die versteht, dass sich der Männlichkeitsbegriff verändern muss, die aber schlicht nicht so richtig weiß, wie das gehen soll und sich in gesellschaftliche Übersprunghandlungen rettet.

Diese Gruppe der jungen weißen Männer, wie ich sie nenne, wird entscheidend sein bei der Umsetzung einer neuen Männlichkeit – sie muss aus eigener Kraft in den Prozess einsteigen, und sie muss eingeladen werden. Sie muss ihr aktuelles Mannsein reflektieren, um mit Überzeugung die Dinge ändern zu können, die geändert gehören, und an jenen festzuhalten, die gesellschaftlich verträglich sind. Denn nicht alles am bisherigen Mann ist schlecht, so viel steht fest. So weit, so kompromissbereit.

Dann kam der Krieg. Und noch ehe mein Buch erschienen war und sein eventueller Einfluss auf die Debatte zur Entfaltung kommen konnte, stellte sich die Frage – neben der unerträglichen Fragwürdigkeit, die die Grausamkeiten dieser sogenannten militärischen Sonderaktion ohnehin mit sich brachten: Scheitert mein salomonischer Ansatz, scheitert der Vermittlungsversuch schon zu Beginn, weil der Krieg nun mit voller Wucht den Mann zurückbringt, der sich durch Stärke, Stolz und Beschützerinstinkt auf der einen Seite, und durch Skrupellosigkeit und alles zermalmender Aggression auf der anderen Seite, auszeichnet? Also insgesamt das Gegenteil des Mannes, der sich nicht mehr über männliche Stärke definiert und sich selbst die Freiheit gibt, sich auch gegen das Kämpfersein zu entscheiden.

Der Gastautor Julian Witzel



Julian Witzel wurde 1982 in Fulda geboren. Vor, während und nach dem Germanistikstudium in Köln arbeitete er als Songtexter und Musiker – heute ist er als Creative Director in der Werbebranche beschäftigt. Außerdem schreibt er für den Stil-Teil der „Welt am Sonntag“. Julian Witzel lebt mit seiner Familie in Berlin.

Sein Buch „Junge weiße Männer – Was ich als Mann zur neuen Männlichkeit zu sagen habe“ ist gerade im riva Verlag erschienen.

Tatsächlich ist es interessant, zu beobachten, dass selbst Männer aus der woken community, also Männer, die an anderer Stelle den sensiblen, pazifistischen Mann vertreten und seine flächendeckende Einsetzung fordern, plötzlich aufgehen in der Beschäftigung mit der Logistik des Krieges, Panzernamen abrufbereit haben und über die Funktionsweisen irgendwelcher Haubitzen Bescheid wissen.

Ist die Arbeit an einer neuen Männlichkeit also eigentlich überflüssig, weil der Krieg uns zeigt, dass Männlichkeit in ihrer existenziellen Form einfach immer bedeuten wird, sich vor Frau und Kind zu stellen, zu den Waffen zu greifen, sich im Stärkersein zu messen, als Held zu kämpfen und zur Not als solcher zu sterben?

Zugegeben – eine spannende Frage, die das Feuilleton hier aufwirft. Und eine eilige Antwort meinerseits: Nein! Denn: Ich halte es grundsätzlich für falsch, das Extreme als Basis für gesellschaftliche Betrachtungen zu heranzuziehen. Wer gesellschaftliche Ableitungen aus einer derartigen Extremsituation heraus trifft, wie sie ein Krieg hervorbringt, begeht – meiner Meinung nach – einen entscheidenden, philosophischen Fehler: Das Wesen des Menschen tritt nicht im Archaischen zutage, auch wenn es einige, zugegebener Maßen äußerst toxische Denkfiguren gerne so sähen, manifestiert etwa in der Annahme, das Wesen eines jeden Mannes zeige sich in der Prügelei.

In der Welt, in der wir leben, kann es keinen einheitlichen Männlichkeitsbegriff mehr geben

Eine kurze, drastische Verdeutlichung: In der allergrößten Hungersnot würden Menschen irgendwann wohl dazu neigen, sich gegenseitig aufzufressen. Davon einen tief liegenden Kannibalismus abzuleiten – absurd. Nein, der Krieg hat seine eigenen, unmenschlichen Regeln, dazu gehört, dass die körperlich Stärksten an die Front müssen und die Mutigen von den anderen – egal ob woke oder traditionell gepolt –, als Helden gefeiert werden. Das wird höchstwahrscheinlich immer so bleiben.

Mit dem Zusammenleben, wie wir es in unserer Gesellschaft dauerhaft organisieren wollen, darf das nichts zu tun haben. Der alte weiße Mann im Sinne einer toxischen Männlichkeit kommt demzufolge selbstverständlich nicht krachend zurück. Alles anders machen muss sein Nachfolger, der junge weiße Mann, aber eben auch nicht.

Während der Recherche zu meinem Buch habe ich mit einigen Freunden über Männlichkeit gesprochen, ihnen die Frage gestellt, wie sie ihre eigene Männlichkeit begreifen. Die meisten hatte darauf überraschenderweise keine Antwort. Die Auseinandersetzung muss also insbesondere auch in uns Männern stattfinden.

Die gedankliche Reise, die ich deshalb beim Schreiben meines Buchs für mich selbst angetreten bin, kann jeder junge Mann ohne Probleme im Kleinen nachempfinden. Es helfen simple Fragen, die einen Reflexionsprozess anstoßen: An welchen Stellen in meinem bisherigen Leben habe ich mich toxisch verhalten, wann unangemessen einer Frau genähert, kürzlich aber auch lange zurückliegend? Und verstehe ich wirklich, was daran falsch war? Welches Frauenbild transportieren eigentlich die Filme, die ich mag, und schaue ich sie heute mit dem gleichen Gefühl wie früher? Mit welchen Vorbildern bin ich groß geworden und wie haben die sich gebärdet?

Mindestens genauso wichtig ist es aber auch, nicht unreflektiert das zu übernehmen, was der aktuelle, gesellschaftliche Diskurs vom Mann erwartet. Auch hier muss man sich etwa fragen: Ist es wirklich falsch, wenn ich nach wie vor auf Oldtimer stehe und die Qualität eines perfekt gegrillten Steaks schätze?

Sollte ich aufhören, während eines Dates die der Frau in den Mantel zu helfen und die Rechnung zu übernehmen, weil ich die Frau in ihrer Autonomie unterwandere, obwohl es sich eigentlich richtig anfühlt, obwohl ich das Gefühl habe, mein Gegenüber würde es honorieren? Und was sind eigentlich die Konsequenzen, wenn ich diese Dinge weiterhin praktiziere? Wer auf diese Weise seiner eigenen Vorstellung von Männlichkeit näher kommt, hat schon viel gewonnen.

Natürlich ist diese Reflexion ein Prozess, der zu keinem klar auszumachenden Ende führen kann, es ist ein laufender Prozess. Und natürlich kann es in der Welt, in der wir leben, keinen einheitlichen Männlichkeitsbegriff mehr geben, wie es vor 50 Jahren möglich war. Hierfür sind die männlichen Akteure viel zu divers geworden: Cis-Heteromann, Transmann und queerer Paradiesvogel – sie alle gehören unter ein Dach, das der Begriff „Neue Männlichkeit“ einmal beschreiben könnte.

In diesem weiteren Feld sollte jeder Mann seine Nische selbst finden, und man sollte ihm mit größerer Nachsicht einräumen, auch abseits strenger Denkmuster einem individuellen und akzeptierten Mannsein frönen zu können. Solange es nicht mit dem Einmarschieren in andere Länder zu tun hat.

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen