Debatte

Warum ist Sprachpolitik für Parteien so wichtig, Herr Lobin?

Früher war Sprache in der deutschen Politik nicht von großer Bedeutung. Heute aber instrumentalisieren die Parteien Themen wie zum Beispiel das Gendern, meint Sprachforscher Henning Lobin mit Blick auf die aktuellen Bundestagswahlprogramme. Ein Gastbeitrag.

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Henning Lobin
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Parteien nutzen sprachpolitische Positionen, um für ihre eigentlichen Anliegen zu werben. So können zum Beispiel Fragen der Sprachförderung mit Einwanderungspolitik verknüpft werden, meint Gastautor Henning Lobin. © dpa/T. W. Klein

Sprachpolitik war in Deutschland seit 1949 nie ein großes Thema in Wahlkämpfen. Die Parteien hatten bei früheren Wahlen in ihren Programmen kaum einen Satz dafür übrig. Deutschland ist kein mehrsprachiges Land wie die Schweiz oder Belgien, und erst recht gibt es bei uns keine Unabhängigkeitsbewegungen wie in Spanien mit Katalonien, wo der Sprachenkonflikt ein zentrales Element der Auseinandersetzungen bildet. Allenfalls die Regionalsprachen innerhalb der deutschen Grenzen und die deutschen Sprachminderheiten außerhalb des deutschen Sprachraums boten schon früher den Anlass dafür, kultur- und bildungspolitische Ziele in die Programme aufzunehmen.

Unter dem Eindruck des großen Migrationsandrangs im Jahr 2016 nahmen einige Parteien Positionen zu sprachlicher Integration in die Wahlprogramme auf.
Henning Lobin Sprachwissenschaftler

Seit der Wahl 2017 hat sich das jedoch geändert. Unter dem Eindruck des großen Migrationsandrangs im Jahr 2016 nahmen einige Parteien Positionen zu sprachlicher Integration in die Wahlprogramme auf. Und auch die zunehmende Diversität der deutschen Gesellschaft führte schon bei der letzten Wahl zu einer Berücksichtigung von Themen der sprachlichen Bildung in der Programmatik der Parteien.

Einen Anteil an der Konjunktur sprachlicher Themen hatte auch die AfD, die mit ihrem Grundsatzprogramm von 2016 eine Vielzahl sprachpolitischer Forderungen festgeschrieben und diese teils ins Wahlprogramm 2017 übernommen hatte. Neben sprachlichen Fragen von Migration und Integration finden sich darin Forderungen wie die nach Aufnahme des Deutschen als Staatssprache ins Grundgesetz oder die Ablehnung des Genderns und von Anglizismen – insgesamt acht sprachpolitische Positionen.

Der Gastautor

Henning Lobin (1964) ist Direktor des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim. Der Sprachwissenschaftler ist außerdem Professor für Germanistische Linguistik an der Universität Mannheim. Sein Buch „Sprachkampf: Wie die Neue Rechte die deutsche Sprache instrumentalisiert“ erschien im März, 2021.

Wie stellt sich die Situation nun in den Programmen zur Bundestagswahl 2021 dar? Mit Ausnahme der SPD haben alle Parteien ihre sprachpolitische Programmatik ausgebaut – zum Teil nur leicht wie die CSU (zwei auf drei Positionen in einem sehr kurzen, auf Bayern ausgerichteten Wahlprogramm), die FDP (fünf auf sechs) oder die Linke (sieben auf acht), zum Teil erheblich umfangreicher wie die AfD (acht auf 16), die CDU (drei auf zehn) oder die Grünen (fünf auf neun Positionen). Als einziger Partei ist bei der SPD ein Rückgang von sieben Positionen bei der letzten Bundestagswahl auf aktuell nur noch drei zu verzeichnen.

Interessanter als diese quantitativen Beobachtungen sind die inhaltlichen Schwerpunkte, die von den Parteien gesetzt werden. Exklusiv werden nur wenige Positionen vertreten, Deutsch ins Grundgesetz, die Deutsch-Kompetenz medizinischen Fachpersonals und die Forderung nach mehr Deutsch in den Institutionen der EU bei der AfD, die Förderung von Sprachtechnologie als Zukunftsfeld bei der CDU.

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Andere Themen tauchen bei dieser Wahl das erste Mal in mehreren Programmen auf: Dass nicht nur der Islamunterricht selbst, sondern auch die islamkundliche Ausbildung der Lehrkräfte und Imame in deutscher Sprache zu erfolgen hat, fordern AfD und CDU. Das Thema Leichte Sprache wird eher ablehnend von der AfD aufgegriffen, deutlich befürwortend von den Grünen und der Linken. Die Rolle der deutschen Sprache bei der Qualifikation für den Arbeitsmarkt ist ein weiteres Thema, das sich erstmals findet. Dazu äußern sich CDU und FDP in ihren Wahlprogrammen. Die Schwerpunkte sprachpolitischer Positionierungen liegen jedoch in anderen Bereichen. Alle heute in Fraktionsstärke im Bundestag vertretenen Parteien beschreiben ihre Positionen zu sprachlicher Integration in der Folge von Migration, besonders ausführlich die CDU und die Grünen. Zuweilen scheinen die Parteien hier direkt aufeinander Bezug zu nehmen.

Auf die Forderung der AfD, Asylverfahren in Abhängigkeit vom Niveau deutscher Sprachkenntnisse durchzuführen, die in dessen Verlauf erworben werden, wird im CDU-Wahlprogramm festgestellt, dass es sich beim Asylrecht um ein „individuelles Schutzrecht und kein Ersatzeinwanderungsrecht“ handelt. Sprachliche Bildung wird im Wahlprogramm der CDU und bei den Grünen großgeschrieben. Eine ganze Liste von Zielen und Maßnahmen zur sprachlichen Bildung finden sich bei der CDU in einem bildungspolitischen Abschnitt, zu dessen Benennung sogar der alte sozialdemokratische Slogan „Aufstieg durch Bildung“ übernommen wurde.

Die SPD selbst verzichtet hingegen in ihrem Wahlprogramm 2021 auf Aussagen zur sprachlichen Bildung, auch wenn Bildungsthemen weiterhin eine wichtige Rolle spielen. AfD, FDP und die Linke bekennen sich zu sprachlicher Bildung, die AfD in diesem Jahr erstmals in ihrer sprachpolitischen Programmatik.

Einige Parteien äußern sich explizit zum Gendern, andere zeigen durch ihre Sprache, welchen Weg sie für den besten halten.
Henning Lobin Sprachwissenschaftler

Auch das Gendern lässt in diesem Wahlkampf kaum eine Partei unberücksichtigt. Einige Parteien äußern sich explizit zum Gendern, andere zeigen durch ihre Sprache, welchen Weg sie für den besten halten. In den Wahlprogrammen von drei Parteien – den Grünen, der Linken und der SPD – wird der Genderstern verwendet, am konsequentesten von den Grünen und von der Linken. Personenbezeichnungen werden hier gegendert, und zwar nicht nur die positiven. Neben den Vermieter*innen, den Rentner*innen und den Arbeiter*innen lassen sich auch Spekulant*innen, Islamist*innen und Kriegsverbrecher*innen finden. Die SPD gendert weniger konsequent, negative Personenbezeichnungen wie Populisten oder Terroristen finden sich häufiger nur in der männlichen Form. Die sprachliche Praxis des Genderns wird nur von der Linken als sprachpolitische Position reflektiert. In ihrem Programm ist von „diskriminierungsfreier Sprache“ die Rede, die „der Vielfalt geschlechtlicher und sexueller Identitäten gerecht“ werden soll.

Wie gehen die anderen Parteien mit dem Thema um? Die CSU gibt in ihrem knappen Wahlprogramm ein Beispiel für die Liberalitas Bavariae: „Wer gendern mag, soll gendern, aber niemand soll dazu gezwungen werden.“ Im Programm selbst werden konsequent wie auch bei der CDU und der FDP für Personenbezeichnungen Paarformeln verwendet, also etwa Rentnerinnen und Rentner. Die AfD setzt als einzige Partei in ihrem Wahlprogramm ganz auf das generische Maskulinum und spricht konsequent von Rentnern und Steuerzahlern wie auch von Terroristen und Straftätern. Die einzigen weiblichen Personenbezeichnungen, Lehrerinnen und Schülerinnen, lassen sich da finden, wo es um ein Verbot des Kopftuchs im Öffentlichen Dienst geht.

Bedeutung fragwürdig

Betrachtet man diese Auswahl aus den vielen sprachpolitischen Positionen in den Wahlprogrammen, stellt sich die Frage, warum dies heute eine solche Bedeutung besitzt. Zweifellos gibt es eine Vielzahl anderer Themenfelder, die einen weitaus direkteren Einfluss auf das Leben der Menschen und die Entwicklung des Landes ausüben. Trotzdem gibt es eine von Wahl zu Wahl ansteigende Zahl sprachlicher Themen, und das mittlerweile über alle derzeit im Bundestag in Fraktionsstärke vertretenen Parteien hinweg.

Es war die AfD, die Sprachpolitik als erste Partei als ein lohnendes Betätigungsfeld „entdeckt“ hat. Die vielen Positionen dazu im Grundsatzprogramm von 2016 bieten der Partei die Möglichkeit, ein allseits als wichtig und positiv angesehenes Thema für sich zu reklamieren und mit ihren allgemeinpolitischen Anliegen zu verbinden – die Ablehnung des Genderns mit Wertvorstellungen zu Familie und Gesellschaft, Sprachförderung mit Einwanderungs- und Gesellschaftspolitik oder die Forderung nach Stärkung des Deutschen in den europäischen Institutionen mit ihrem ablehnenden Blick auf die EU.

Das Thema Deutsche Sprache wird so zu einem Vehikel, um darüber hinausgehende politische Positionen wie mit einem Trojanischen Pferd weit in die Mitte der Gesellschaft zu führen. Offensichtlich haben aber auch die anderen Parteien diesen Zusammenhang mittlerweile verstanden. Sprachliche Themen als solche besitzen auch für sie keine zentrale Bedeutung, sie haben aber zumindest das Potenzial, stellvertretend für weitaus größere politische Themen zu stehen und sie in verständlicher Form zugänglich zu machen. Sprachpolitik scheint damit in allen Teilen des politischen Spektrums zu einem Querschnittsthema geworden zu sein, mit dem komplexe Politikbereiche erschlossen werden können. Wird Sprache dabei nur instrumentalisiert, ist das nichts, worüber man sich freuen kann. Vielmehr sollten wir alle darauf achten, dass die deutsche Sprache nicht im Mahlwerk allgemeinpolitischer Auseinandersetzungen zerrieben wird.

Das Thema Deutsche Sprache wird so zu einem Vehikel, um darüber hinausgehende politische Positionen wie mit einem Trojanischen Pferd weit in die Mitte der Gesellschaft zu führen.
Henning Lobin Sprachwissenschaftler

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