"MM"-Debatte

Brauchen Grundschulkinder ein Corona-Training, Herr Ullmann?

Von 
Roland Ullmann
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Kinder sind unvorhersehbaren, schlimmen Ereignissen nicht hilflos ausgesetzt, sagt Pädagoge Roland Ullmann. Er sieht drei konkrete Ansätze, die den Nachwuchs in der Coronakrise stärken können. © istock

Das Coronavirus ist da und wird so schnell nicht verschwinden, denn es fühlt sich unter Menschen pudelwohl, kann sich wandeln und anpassen. Fakt ist: Die pandemische Lage hat Folgen für uns Erwachsene, insbesondere für unsere Kinder und Jugendlichen.

Studien belegen, dass sie sich massiv auf die psychische Gesundheit der Heranwachsenden auswirkt. Nach monatelangen Einschränkungen respektive Unterrichtsausfällen macht sich das Gefühl breit: „Ich kann ohnehin nichts ändern, egal wie ich mich verhalte.“ Psychologen sprechen von „gelernter Hilflosigkeit“ und konstatieren „Anpassungsprobleme“. Jungen und Mädchen fühlen sich oft traurig, einsam, bedrückt, überfordert und machtlos. Nicht selten resultieren daraus depressive, aufsässige oder apathische Reaktionsmuster.

Wenn man unter dem Eindruck der krisenhaften Corona-Erfahrungen versucht, Schlussfolgerungen für mögliche Schutzformen in der Zukunft zu ziehen, dann drängt sich förmlich eine zentrale Aufgabe auf: Alle Gesellschaften und einzelne Menschen müssen sich auf existenzielle Krisen besser vorbereiten lernen, sie müssen nach Auffassung des Soziologen Andreas Reckwitz vor allem resilienter, also widerstandsfähiger werden. Das heißt mit Blick auf Kinder: Bereits Grundschülerinnen und Grundschüler sollten frühzeitig lernen, mit schockartigen Ereignissen und unerwünschten Katastrophen in ihrem eigenen Leben klar zu kommen, um beispielsweise Emotionen wie die eigene Hilf- und Machtlosigkeit überwinden zu können.

Eine Möglichkeit, Grundschulkinder krisenfester zu machen, bietet ein „Trainings-Ansatz“. Gemeint ist ein Training in der pädagogischen Praxis, durch zielgerichtete und systematische Anreize gewünschte Kompetenzen aufzubauen, zu verbessern oder zu erhalten. Die Trainingsanreize orientieren sich nahe an den realen Situationsanforderungen und Stressbedingungen im Alltag.

Lebensweltorientierung nötig

Mit anderen Worten: Grundschülerinnen und Grundschüler brauchen in Krisenzeiten mehr als nur einen klassischen Unterricht, der abfragbares Lehrplanwissen thematisiert oder der Corona-Themen gezwungenermaßen nur so nebenbei abhandelt. Gefragt ist eine lebensweltorientierte Unterrichtsalternative, beispielsweise im Format eines „Resilienz-Trainings“, indem Kinder praktisch und kontinuierlich, reflexiv und spielerisch angeleitet werden, coronabedingten Anforderungen robuster und optimistischer gegenüber zu treten.

Für ein Resilienz-Training mit exemplarischem Bezug zur Corona-Krise bieten sich drei Schwerpunkte an, die in didaktischer Hinsicht kindgemäß aufzubereiten wären:

Schwerpunkt 1 knüpft an die pandemischen Alltagserfahrungen der Kinder im Umgang mit Krankheit und Tod, Traurigkeit und Einsamkeit, Angst und Hilflosigkeit an. Ziel: Die Kinder in die Lage versetzen, nachzuvollziehen, wie negative Gefühlsreaktionen entstehen und dass solche Gefühlslagen in Pandemiezeiten ganz normal sind. Darauf aufbauend sollen die Kinder im Rahmen von selbsterfahrungsbezogener „Gefühlsarbeit“ lernen, wie sie die durch die Corona-Krise aktualisierten Gefühle – eigene wie fremde – besser erkennen (Gefühlswahrnehmung), verstehen (Gefühlsreflexion) und regulieren (Gefühlsverarbeitung) können. Emotionsgeladene Konfliktsituationen können beispielsweise mit Hilfe von Geschichten spielerisch-kreativ von den Kindern bearbeitet und selbstwertförderlich einer machbaren Lösung zugeführt werden.

Schwerpunkt 2 thematisiert die wichtigen Bausteine der Infektionskontrolle als grundlegende Schutzmaßnahmen. Das Abstandhalten und Händewaschen, die Mund-Nase-Bedeckung und Tests oder Stoßlüften vermindern das Ansteckungsrisiko, auch wenn sie keinen vollständigen Schutz gegen Viren bedeuten. Ziel: Die Kinder in die Lage versetzen, nachzuvollziehen, dass solche Maßnahmen einen wesentlichen Beitrag leisten, sich nicht mit dem Virus anzustecken. Darauf aufbauend sollen die Kinder im Rahmen intensiver, regelmäßiger und gut durchstrukturierter „Probe-/Übungsläufe“ lernen, die Schutzmaßnahmen situativ gezielt und kompetent anzuwenden. Hierbei kann beispielsweise ein „Pobel-Test-Führerschein“ bestätigen, dass Grundschulkinder fähig sind, sich in Eigenverantwortung selbst zu untersuchen. Motto: Wer hingebungsvoll in der Nase bohren kann, kann auch sorgfältig testen.

Schwerpunkt (3) setzt sich sensibel mit Fragen auseinander, die in Familien möglicherweise kontrovers diskutiert werden. Themen können beispielsweise sein: Maskenpflicht, Impfoption, Corona-Warn-App, Homeschooling. Ziel: Die Kinder in die Lage versetzen, nachzuvollziehen, dass jede Maßnahme ihre Berechtigung hat sowie Vor- und Nachteile. Darauf aufbauend sollen Kinder im Rahmen von reflexiver „Aufklärungsarbeit“ lernen, dass Kritik an Corona-Maßnahmen mehr als gerechtfertigt ist. Zugleich sollen sie lernen, Äußerungen kritisch und lösungsorientiert zu hinterfragen und auch eigene Ideen förderlicher Schutzmaßnahmen einbringen und diskutieren.

Mit dem Resilienz-Training einhergeht das Verständnis: Kinder sind keine Opfer, sondern sie haben Ressourcen, um das Virus aktiv und reflektiert, selbst- und sozial-verantwortlich zu bekämpfen. Mit Manipulation und Dressur hat das nichts zu tun. Beim Resilienz-Training geht es auch nicht darum, immer nur das Schlimmste zu verhindern. Vielmehr stellen Lebensfreude und Zuversicht wichtige positive Gestaltungsziele und kreative Simulations-/Problemlösespiele kinderfreundliche Methodenansätze dar. Kinder stärken und Eltern entlasten – das ist die Devise.

Für die Integration des Resilienz-Trainings als alternatives Unterrichtsformat spricht die reale Bedrohung für Menschen und Gesellschaften durch das Virus, aber auch anderer Probleme wie beispielsweise der Klimawandel. Nicht zuletzt auch die Tatsache, dass Kinder im Alltag ständig eine Art von eigenem Training gewohnheitsmäßig durchlaufen. Zum Beispiel: Ein achtjähriges Mädchen schlägt unentwegt ein Rad, ein zehnjähriger Junge wirft unermüdlich den Ball hoch und fängt ihn wieder auf. Ein Hauptanreiz ist in diesen oder ähnlichen Fällen immer wirksam: Die Freude des Kin-des daran zu zeigen, dass es schon etwas kann oder die Freude des Kindes daran, noch etwas besser können zu wollen. Wiederholungsfreude, Selber-machen-Wollen und Selbstwirksamkeitsstreben sind im Kind angelegte natürliche Trainingsantriebskräfte, die wir Erwachsenen mehr wertschätzen und im Kampf gegen das Virus dankbar nutzen sollten. Erwachsenen-Ängste im Krisenkontext auf die Kinder zu übertragen ist da kontraproduktiv, macht die Kinder nur schwach und mutlos.

Staat in Verantwortung

Doch die Verantwortung allein auf die individuelle Ebene, geschweige denn auf Kinder abzuschieben, ist weder legitim noch gerechtfertigt. Auf staatlicher Ebene zeigt sich die Verantwortung darin, kurz- und mittelfristig das akute Gesundheitskrisenmanagement für den schulischen Bereich deutlich zu optimieren. Dazu gehört die gesicherte Durchführung regelmäßiger Schnelltestungen, der zusätzliche Einbau von Raumluftfilter- oder auch UV-C-Licht-Anlagen, der dynamische Ausbau der digitalen Infrastruktur und ein auf die Schülerbedürfnisse angepasstes umfassendes Aufholförderprogramm. Langfristig gilt es, eine zukunftsweisende Gesundheitsutopie zu konzeptualisieren, in der pandemische, klimatische und wirtschaftliche Aspekte konstruktiv und synergetisch miteinander vernetzt werden.

Bringen wir den Mut dazu auf, dahingehend neue, kreative und lösungsbezogene Wege zu finden, dann erhöht sich die Chance, aus dem Dauerkrisenmodus auch mit einer gewissen Zuversicht aussteigen zu können. Schulen mit ihren Lehrkräften sind hier schon sehr aktiv, sollten dafür aber auch von kultusministerieller Seite nachdrücklich mehr und effektivere Unterstützung bekommen.

"Wiederholungsfreude, Selber- machen-Wollen und ...

"Wiederholungsfreude, Selber- machen-Wollen und Selbstwirksamkeitsstreben sind im Kind angelegte, natürliche Trainingsantriebskräfte, die wir mehr wertschätzen und im Kampf gegen das Virus dankbar nutzen sollten."

"Mit dem Resilienz-Training einhergeht das Verständnis: Kinder ...

"Mit dem Resilienz-Training einhergeht das Verständnis: Kinder sind keine Opfer, sondern sie haben Ressourcen, um das Virus aktiv und reflektiert, selbst- und sozialverantwortlich zu bekämpfen."

"Alle Gesellschaften und einzelne Menschen müssen sich auf ...

"Alle Gesellschaften und einzelne Menschen müssen sich auf existenzielle Krisen besser vorbereiten lernen. Sie müssen nach Auffassung des Soziologen Andreas Reckwitz vor allem resilienter, also widerstandsfähiger werden."

Der Gastautor

Roland Ullmann ist Sportpädagoge und promovierter Erziehungswissenschaftler. An der Pädagogischen Hochschule Heidelberg war er 25 Jahre lang mitverantwortlich für die Ausbildung von Sportlehrkräften. Sein Buch „Lust auf Bälle, Barren, Bodenmatten“ (Springer Verlag, 2019) zeigt Unterrichtsbeispiele zum Umgang mit Gefühlslagen.

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