Die Invasion des Irak 2003 durch eine internationale Koalition unter Führung der Vereinigten Staaten war ein historischer Wendepunkt für den Nahen und Mittleren Osten. Der Regime-Change hat den Irak in den letzten beiden Jahrzehnten maßgeblich geprägt. Das Land oszillierte zwischen dem fast vollständigen Zusammenbruch von Staatlichkeit, Gewalt und Terror und den ersten Gehversuchen einer jungen Demokratie.
Wer heute den Irak besucht, der findet ein Land, das langsam zur Normalität zurückkehrt. Die hohen Schutzmauern, die lange das Stadtbild Bagdads prägten, sind abgebaut worden. Die berühmte Mutanabbi-Straße im historischen Stadtkern, in der traditionell Bücher und Schriften verkauft werden, ist voll mit Menschen. Über Jahrhunderte war Bagdad das intellektuelle Zentrum der islamischen Welt. „Bücher werden in Kairo geschrieben, in Beirut gedruckt und in Bagdad gelesen“ – so geht eine alte Redewendung. Heute erholen sich der Irak und seine Hauptstadt Bagdad von den blutigen Auseinandersetzungen der vergangenen Dekaden.
Erstmals seit vier Dekaden ist die Lage vergleichsweise ruhig. Die Zeichen stehen auf Aufbruch
Insgesamt fast 40 Jahre lang befand sich der Irak im Kriegs- oder Konfliktzustand. Dem iranisch-irakischen Krieg in den 1980er Jahren folgte der zweite Golfkrieg 1990/1991 und ein drakonisches Sanktionsregime ab 1995; nach der US-geführten Invasion 2003 versank der Irak Mitte der 2000er Jahre in bürgerkriegsähnlichen Zuständen, bevor die Ausbreitung der Terrororganisation des sogenannten Islamischen Staates (IS) das Land zwischen 2014 und 2017 erneut in die Krise stürzte.
Heute ist die Hoffnung auf eine bessere Zukunft groß. Erstmals seit vier Dekaden ist die Lage vergleichsweise ruhig. Die Zeichen stehen auf Aufbruch. Der Irak hat sich in den letzten Jahren kontinuierlich stabilisiert. Die Sicherheitslage ist wesentlich besser als noch vor fünf Jahren und das irakische Staatsgebiet wieder vollständig unter Kontrolle der nationalen Sicherheitskräfte. Und im regionalen Vergleich sticht das Land durch demokratische Strukturen sowie Meinungs- und Pressefreiheit hervor.
Auch die sich seit knapp einem Jahr im Amt befindende Regierung von Ministerpräsident Mohammed Shia al-Sudani hat zur Stabilität des Landes beigetragen. Sie hat ein umfassendes Reformprogramm vorgelegt und agiert zielgerichtet und professionell. Erstmals wurde ein Staatshaushalt durch das Parlament verabschiedet, der für drei Jahre gilt und Sicherheit für anstehende Großprojekte gibt. Damit wurde aus irakischer Sicht der Startschuss für die weitere Entwicklung des Landes gegeben.
Gleichwohl bleiben die Herausforderungen groß. Der Irak verfügt über ein junges demokratisches System, das sich durch Volatilität und schwache Institutionen auszeichnet. Die Lage wird verkompliziert durch die Einflussnahme der Regionalmächte Iran und Türkei. Der irakische Staat ist fast vollständig vom Erdölexport abhängig, es fehlt an einer wirtschaftlichen Diversifizierung und einem starken Privatsektor. Die Entwicklung des Landes wird erschwert durch einen aufgeblähten öffentlichen Sektor und struktureller Korruption und Nepotismus.
Unser Gastautor
Lucas Lamberty ist Leiter des Auslandsbüros Irak der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Bagdad.
Bereits seit 2016 beschäftigt er sich mit dem Irak, unter anderem als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung im Libanon. Er hat Politikwissenschaft, Internationale Beziehungen und Nahoststudien in Heidelberg, London und Beirut studiert.
Mit mehr als 100 Büros weltweit engagiert sich die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit. Mit ihren Auslandsbüros trägt sie darüber hinaus zum Austausch und Dialog zwischen Deutschland und den Partnerländern bei.
Das Auslandsbüro Irak befindet sich seit Dezember 2022 im Aufbau.
Hinzu kommt ein rasantes Bevölkerungswachstum. Schätzungen gehen von einer Verdoppelung der Bevölkerung von aktuell 40 Millionen Menschen bis 2050 auf dann 80 Millionen Irakerinnen und Iraker aus. Jedes Jahr drängen etwa 700 000 Hochschulabsolventinnen und -absolventen auf den Arbeitsmarkt – oftmals ohne Perspektive auf Beschäftigung. Das führt zu Frustration bei der jungen Bevölkerung, die sich bereits zwischen 2019 und 2021 in einer landesweiten Protestbewegung niedergeschlagen hat.
Für Deutschland ist die Entwicklung des Irak von großer Bedeutung. Das Land liegt in der südlichen Nachbarschaft von Europäischer Union und NATO. Entwicklungen vor Ort haben direkte Auswirkungen für Europa, wie nicht zuletzt die Flüchtlingskrise von 2015 und die terroristischen Angriffe des Islamischen Staates innerhalb und außerhalb der Region gezeigt haben. Als drittgrößtes Land der arabischen Welt verlaufen die großen Verwerfungslinien, die den Nahen und Mittleren Osten in den vergangenen Jahren geprägt haben, allesamt durch den Irak. Das Land ist somit entscheidend für die Stabilität der Region und kann Unsicherheitsfaktor oder Stabilitätsanker gleichermaßen sein.
Das Land ist entscheidend für die Stabilität der Region und kann Unsicherheitsfaktor oder Stabilitätsanker sein
An der Invasion 2003 hatte Deutschland bewusst nicht teilgenommen. Seit 2014 engagiert sich die Bundesrepublik verstärkt im Irak. Neben humanitärer Hilfe und Entwicklungshilfe umfasst das Engagement auch zwei Bundeswehreinsätze. Dank der militärischen Unterstützung der Sicherheitskräfte – insbesondere durch die Lieferung der Panzerabwehrwaffe MILAN – konnte der IS erfolgreich zurückgeschlagen werden. Durch Beratung und Ausbildung leisten Deutschland und die internationale Gemeinschaft weiterhin einen wichtigen Beitrag, um den militärischen Druck auf die noch im Untergrund agierenden IS-Zellen aufrechtzuerhalten. Dadurch ist der IS aktuell nicht mehr in der Lage, größere Anschläge durchzuführen.
Auch die Lage der Binnenflüchtlinge im Irak hat sich dank internationaler Unterstützung und dem Wiederaufbau zerstörter Infrastruktur entspannt. Mehr als sechs Millionen Menschen wurden zwischen 2014 und 2017 durch den bewaffneten Konflikt mit dem IS vertrieben. Fünf Millionen Binnenflüchtlinge konnten mittlerweile in ihre Heimat zurückkehren. Die Lage hat sich Schritt für Schritt normalisiert.
Doch nach wie vor gibt es auch hier Herausforderungen. Weiterhin können etwa 1,2 Millionen Menschen im Norden des Irak nicht zurückkehren. Darunter befinden sich viele Jesidinnen und Jesiden, denen eine Rückkehr in ihre Stammgebiete rund um die zerstörte Stadt Sindschar bislang nicht möglich war. Der IS hatte diese Volksgruppe besonders grausam verfolgt. Im Januar 2023 erkannte der Deutsche Bundestag die Gräueltaten des IS gegen die Jesiden als Völkermord an. Hindernis für die Rückkehr der Jesidinnen und Jesiden sind oftmals politische Gründe. Der Wiederaufbau von Sindschar stockt. Im Rahmen ihrer viertägigen Reise in den Irak sicherte Außenministerin Annalena Baerbock im März 2023 hier besondere Unterstützung zu.
Während der Norden des Landes mit der Vergangenheitsbewältigung beschäftigt ist, zeichnet sich im Süden bereits die nächste Herausforderung ab. Wer im Sommer das Mündungsdelta von Euphrat und Tigris besucht, der blickt in ausgetrocknete Sumpflandschaften und in die verzweifelten Gesichter der Einheimischen. Hier, im antiken Mesopotamien, dem Zweistromland, der Wiege der modernen Zivilisation, manifestiert sich der Wassermangel des Landes momentan mit voller Kraft. Grund ist zum einen der Klimawandel. Laut UN-Angaben ist der Irak das am fünfstärksten durch die Auswirkungen des Klimawandels bedrohte Land der Welt. Hinzu kommt ein unzureichendes Wassermanagement im Irak sowie Streitigkeiten mit den Nachbarstaaten Türkei und Iran über die Weiterleitung von Wasser.
Als Folge des Wassermangels wandern zunehmende Teile der lokalen Bevölkerung in die angrenzenden Städte ab. Durch diese Stadtflucht stirbt die Kulturlandschaft Mesopotamiens mehr und mehr aus. Doch oftmals finden die Flüchtlinge auch in den Städten keine Arbeit. Die Perspektivlosigkeit verschärft die Lage im Süden, wo bereits heute viele junge Menschen arbeitslos sind. Was oftmals folgt ist Verelendung oder die Flucht nach Norden.
Zur Bewältigung dieser Herausforderungen setzt die irakische Regierung auf Deutschland. Im Januar 2023 besuchte der irakische Ministerpräsident Mohammed Shia al-Sudani Berlin. Es war der erste Besuch bei einem westlichen Partner und damit ein wichtiges Zeichen, dass Bagdad zukünftig noch stärker mit Berlin zusammenarbeiten möchte. Im Vordergrund der Gespräche standen insbesondere die Themen Migration, Energie und Wirtschaftsförderung. Bei der Rückführung von abgelehnten Asylbewerbern in den Irak konnten schon Erfolge erzielt werden. Während des Besuchs in Berlin wurde zudem eine Absichtserklärung mit Siemens zum Ausbau der irakischen Energieinfrastruktur unterzeichnet.
In Zukunft kommt es nun darauf an, den Reformkurs der Regierung weiter zu unterstützen. Dabei geht es insbesondere um die Förderung der Wirtschaft im Irak zur Schaffung von Arbeitsplätzen. Hier kann Deutschland eine wichtige Rolle spielen. So sollte der Austausch zwischen den beiden Ländern in dem Bereich vertieft und Wege gesucht werden, der deutschen Wirtschaft den Eintritt in den irakischen Markt zu erleichtern. Aufgrund seiner großen Bevölkerung und des Erdölreichtums kann das Land ein interessantes Ziel für deutsche Unternehmen sein – auch mit Blick auf den Fachkräftemangel im eigenen Land. Insbesondere im Bereich der erneuerbaren Energien und grünen Technologien könnte der Irak stark von Deutschland profitieren.
Gelingt es, die Entwicklung und Stabilität des Irak weiter zu konsolidieren, so kann das Land langfristig zu einem wichtigen Partner der Bundesrepublik im Nahen und Mittleren Osten werden. Der Irak verfolgt einen neutralen außenpolitischen Kurs in der Region und hat sich als wichtiger Vermittler – beispielsweise zwischen Iran und Saudi-Arabien – etabliert. Gemeinsam könnten Deutschland und der Irak nachhaltig zum Frieden und Stabilität der Region beitragen.
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