Warum sollten sich Eltern mehr einmischen, Frau Braekow?

Überlastete Fachkräfte, wenig Personal, zu viele Kinder in einer Gruppe: Die Lage ist in vielen deutschen Kindertagesstätten schlecht. Anja Braekow wünscht sich mehr Eltern, die dagegen rebellieren. Ein Gastbeitrag

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Anja Braekow
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Hauptsache, die Kinder sind satt und sauber? Nein, findet unsere Gastautorin Anka Braekow. Sie sagt, Kitas sind Bildungs- und nicht nur Betreuungseinrichtungen. © Monika Skolimowska/dpa

Das Thema „Fachkräftemangel in Kitas“ ist 2023 aktueller denn je. Jedoch besteht dieser Mangel schon seit sehr vielen Jahren. Warum ist es jetzt akut? Das liegt wohl darin begründet, dass die pädagogischen Fachkräfte nicht mehr alles „möglich machen“ können und dies auch nicht wollen. Sie sind inzwischen körperlich und psychisch über ihrer Belastungsgrenze und sind nicht mehr in der Lage, alle strukturellen Defizite aufzufangen. Das ist auch gut so. Das System Kindergarten ist mehr als krank. Eine gute Bildungsqualität ist unter diesen Rahmenbedingungen nicht mehr möglich.

Laut Bertelsmann-Studie werden derzeit 75 Prozent der Kinder in Deutschland unter nicht kindgerechten Bedingungen in einer Kita-gruppe betreut. Mit Blick auf die Bundesgesetze gehören viele Gruppen in der aktuellen Situation grundsätzlich verkleinert oder geschlossen. Für mich als Mutter eine Katastrophe, für mich als Fachkraft stellen sich zwei wichtige Fragen: Warum ist das so und wie konnte es so weit kommen?

Kurz und knapp, die letzten Jahrzehnte hat niemand so ganz genau auf die Bedingungen in den Kitas geschaut. Die Gruppen waren gut besucht, irgendwie ging es alles. Der Kitaausbau wurde per Rechtsanspruch vorangetrieben. Die Auswirkungen dieser Veränderungen wurden auf dem Rücken der Kinder und dem der Fachkräfte ausgetragen. Nach und nach kehrten immer mehr pädagogische Fachkräfte dem Berufsfeld den Rücken, wurden krank oder brannten aus. Viele sind wegen zu hoher Belastungen in Frührente gegangen.

Die Ausbildung ist langjährig und aufwendig. Inzwischen wird die PIA (Praxisintegrierte Ausbildung) zwar bezahlt. Auch bei der klassischen Ausbildung kann jetzt BAföG beantragt werden. Doch diese notwendigen Ausbildungsreformen kamen leider viel zu spät und so klaffte die Schere zwischen Bildungsanspruch und Arbeitswirklichkeit immer weiter auseinander.

Jetzt, im Jahr 2023, haben wir in den Kitas in Baden-Württemberg die Situation, unter anderem der Aufsichtspflicht nicht mehr vollumfänglich nachkommen zu können. Der Spagat für die pädagogischen Fachkräfte zwischen Bildung und Betreuung wird immer schwieriger. Eigentlich dürfen viele Kitas so gar nicht arbeiten!

Eine Kita ist eine Bildungseinrichtung und hat einen wichtigen Bildungsauftrag. Die Kinder bekommen in der frühkindlichen Pädagogik Rüstzeug für ihre weitere Entwicklung. Ein Beispiel sind die Orientierungsarbeiten der Grundschüler, bei denen die Schüler über die Jahre immer schlechter geworden sind. Nicht zu vergessen die wichtigen sozialen Kompetenzen, die bereits in der Frühpädagogik erfahren werden.

Umso schwieriger finde ich es, dass genau in diesem Bereich gespart wird und die Bildung gegen die reine Betreuung getauscht wird. Interessanterweise nicht überall. Es gibt einige wenige Kommunen, Kitas und Träger, die dem Bildungsanspruch sehr gut gerecht werden, die ausreichend Ressourcen, wie zum Beispiel Personal, zur Verfügung haben. In diesen Kitas sind die Kinder sehr gut aufgehoben und können sich entwickeln. Nur leider sind diese Kitas rar geworden.

Nur warum gibt es diese Unterschiede und was kann ich als Mutter oder Vater unternehmen? Das sind die Fragen, die ich als Vorsitzende des Verbands Kita-Fachkräfte Baden-Württemberg oft zu hören bekomme. Sie als Erziehende können tatsächlich richtig viel tun. Hören Sie Ihrem Kind zu! Was erzählt es aus der Kita? Wo gibt es Punkte, die nicht gut laufen und an denen Sie bei sich vor Ort ansetzen können?

Ganz konkret? Mischen Sie sich ein, fragen Sie nach, nehmen Sie nicht alles hin. Gehen Sie auf die Fachkräfte vor Ort zu, arbeiten sie gemeinsam auf Verbesserungen hin! Sprechen Sie mit den Trägern und fordern Sie von den Politikern und dem Kultusministerium Lösungen. Sie haben viel mehr in der Hand, als Sie wissen, nutzen Sie es! Vor Ort gibt es kommunale Ansprechpartner und Kommunalpolitiker und -politikerinnen, die sich gerne für das Thema frühkindliche Bildung stark machen.

Als pädagogische Fachkraft gestaltet sich ein normaler Tag in der Kita schier unplanbar. Wir arbeiten mit Bildungsplänen und Projekten, ob die aber durchführbar sind, das steht auf einem anderen Blatt.

Laut Personalschlüssel des KVJS (Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden-Württemberg) gibt es klare Vorgaben, in der Realität wird oftmals nur noch mit dem Mindestpersonalschlüssel gerechnet. Dieser ist sehr knapp, und wenn eine Fachkraft krank ist oder aus einem anderen Grund ausfällt, bleibt wenig Spielraum. Das Ergebnis: Oft arbeitet dann die verbleibende Kraft alleine in der Gruppe. In so einem Fall sollten Sie als Eltern Alarm schlagen, denn die Aufsichtspflicht kann hier nicht mehr vollumfänglich gewährleistet werden. Der Kita-Träger müsste reagieren: Er kann die Gruppe schließen oder die Öffnungszeiten reduzieren, bis wieder genügend Personal anwesend ist.

Selbstverständlich kommt dann der eigene Arbeitgeber mit Einwänden und Forderungen, und schon höre ich Sie als Erziehende sagen: „Liebe Frau Braekow, so geht das nicht, wir brauchen Planungssicherheit und können nicht ständig von der Arbeit fernbleiben.“ Und Sie haben recht, das geht nicht. Wir brauchen alle mehr Planungssicherheit. Aber was ist die Alternative?

Ihr Kind kommt in eine volle Gruppe mit vielen unterschiedlichen Kindern und deren Herausforderungen. Eine Fachkraft ist anwesend, wenn Sie Glück haben, noch eine Praktikantin oder eine ungelernte Zusatzkraft. Die Aufsichtspflicht kann nicht mehr vollumfänglich gewährleistet werden, denn die Fachkraft muss den Raum auch mal verlassen dürfen, zum Beispiel für eine Pause oder einen Toilettengang. Wer haftet, wenn nun ein Unfall passiert?

Ein weiteres Beispiel: Aktuell darf die Kinderzahl um bis zu zwei Kinder pro Gruppe erhöht werden. Auch hier würde ich mir von Ihnen als Erziehende wünschen, dass Sie reagieren. In einer Kitagruppe werden im Normalfall 23 bis 26 Kinder von drei Jahren bis zum Schuleintritt betreut. Um eine qualitativ gute Bildungsarbeit zu machen, braucht es genug gut ausgebildetes Personal und Zeit für Bildungsangebote.

Die Kinder kommen aus 23 bis 26 unterschiedlichen Familien, jede Familie hat andere Bedürfnisse und Vorstellungen und so manches Kind bringt noch ein kleines oder großes Päckchen an Herausforderungen mit. Das sind zum einen Kinder, die noch nicht gut sprechen können, aus einem anderen Land kommen, vielleicht auch aus einem Kriegsgebiet, es gibt laute und leise Kinder – und es gibt Kinder die mehr Aufmerksamkeit benötigen als andere. Das ist unser tägliches Brot als Fachkraft, das stimmt. Aber da brauche ich Unterstützung von anderen ausgebildeten pädagogischen Fachkräften und nicht von Zusatzkräften, die keine pädagogische Ausbildung haben.

Wenn ich die Zeitung aufschlage und die ganzen gut gemeinten Vorschläge vom Städtetag oder anderen Verbänden lese, dann wird es mir angst und bange. Ich bin Erzieherin, weil ich mit den Kindern den Tag verleben und ihnen gute Kompetenzen für die Zukunft mitgeben möchte. Die Kinder lernen in der Kita so viele Alltagskompetenzen und sie lernen auf ganz vielen Ebenen.

Ich wünsche mir Unterstützung von den erziehenden Elternteilen. Ihre Kinder brauchen mehr, als dass sie jeden Tag „satt und sauber“ nach Hause kommen und glücklicherweise diesen Tag nichts passiert ist. Die Kinder, die jetzt in der Kita sind, sind die Arbeitskräfte von Morgen und was nun versäumt wird, das muss später für teures Geld aufgefangen werden.

Vor zwölf Jahren habe ich eine eigene Kita gegründet und sehe seitdem die Kita von allen Seiten. Als freie Trägerin habe ich die Möglichkeit, auf eine gute Zusammenarbeit mit den abgebenden Eltern zu setzen und diese transparent zu gestalten. Ich erwarte hier Interesse und Mitarbeit der Erziehenden, wir haben ein gemeinsames Ziel, wir möchten, dass die Kinder einen Ort zum Wachsen und Erleben haben. Jede Kita benötigt diese Zusammenarbeit, es ist nicht damit getan, sein Kind abzugeben und später wieder abzuholen.

Ich liebe meinen Beruf auch nach so vielen Jahren noch, aber ich wünsche mir die Rahmenbedingungen, die es braucht, um jedem Kind genug Zeit zum Wachsen zu geben. Die Realität in den Kitas gibt uns gerade nur sehr kleine Spielräume und die weitere Herabsenkung der Standards ist nicht der richtige Weg. Es muss nach tragbaren Lösungen vor Ort gesucht werden. Gemeinsam mit den Fachkräften, Trägern und Eltern können wir die Situation verändern.

Die Gastautorin

Anja Braekow (49) ist Erzieherin, Kindergartenfachwirtin und Trägerin einer freien Kita, die sie selbst gegründet hat. Seit 2021 ist sie erste Vorsitzende des Verbands Kita-Fachkräfte Baden-Württemberg.

Sie setzt sich berufspolitisch für bessere Rahmenbedingungen in den Kitas ein. Anja Braekow arbeitet als Gründungsberaterin rund um den Kitabereich. Seit 2022 schreibt sie als Autorin für die Fachzeitschrift „Pädagogik für Dich“.

Weitere Infos und aktuelle Aktionen gibt es unter www.verband-kitafachkraefte-bw.de und www.kita-neu-gedacht.de

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