Jährlich verlassen in Deutschland Zehntausende von jungen Menschen die Schule ohne Abschluss. Laut einer aktuellen Studie der Bertelsmann Stiftung lag die Schulabbruchquote im Jahr 2021 bei 6,2 Prozent. Das heißt, 47 000 Schüler und Schülerinnen sind von der Schule abgegangen, ohne mindestens einen Hauptschulabschluss erworben zu haben. In Mannheim liegt die Schulabbruchquote noch deutlich höher. Nach dem Schuljahr 2021/22 haben laut Schulentwicklungsbericht des Fachbereichs Bildung der Stadt Mannheim fast 9 Prozent der Mannheimer Schülerinnen und Schüler die Schule ohne Abschluss verlassen. Keinen Schulabschluss zu haben, bedeutet geringe Aussichten auf ein selbstbestimmtes Leben. Keinen Schulabschluss zu haben, bedeutet schlechte Chancen bei der Berufsausbildung. Keinen Schulabschluss zu haben, bedeutet Gefühle von Versagen und geringem Selbstwert. Keinen Schulabschluss zu haben, bedeutet ein hohes Risiko, in prekären Beschäftigungsverhältnissen oder schließlich dauerhaft in den sozialen Hilfesystemen zu landen.
Seit Jahren verharrt die Schulabbruchquote auf diesem Niveau. Sie führt uns klar vor Augen, dass etwas schief läuft in unserem Bildungssystem. Und das hat nicht nur negative Auswirkungen auf die jungen Schulabbrecher und Schulabbrecherinnen selbst, sondern auf uns alle – in gesellschaftlicher, sozialer, politischer und wirtschaftlicher Hinsicht. Menschen fühlen sich ausgeschlossen, fühlen sich nicht als wertvoller Teil unserer Gesellschaft, belasten die sozialen Hilfesysteme und fehlen als qualifizierte Arbeitskräfte.
Die Schulabbruchquote steht plakativ für soziale Ungerechtigkeit in unserem Bildungssystem. Sie macht aber nur einen Teil der gesamten Problematik sichtbar. Denn ein Schulabbruch steht häufig am Ende einer gescheiterten und leidvollen Schulkarriere, die meist schon mit ungleichen Ausgangsbedingungen startet. Ein geringer sozio-ökonomischer Status der Familie, wenig verlässliche Unterstützung und Förderung durch die Familie sowie ein Migrationshintergrund sind nur einige der Risikofaktoren, die einen negativen Schulverlauf begünstigen können. Je mehr Risikofaktoren zusammenkommen, desto wahrscheinlicher ist ein Scheitern in der Schule.
Schulabbruch kündigt sich an
Ein Schulabbruch kündigt sich in den meisten Fällen vorher an: durch kürzere oder längere Phasen des Fernbleibens der Schülerinnen und Schüler vom Unterricht. Schätzungsweise 300 000 Schüler und Schülerinnen in Deutschland sind schulabsent, das heißt, sie gehen aus verschiedenen Gründen dauerhaft nicht in die Schule. Diese Zahl ist alarmierend. Vor allem auch vor dem Hintergrund, dass es schulabsente Schülerinnen und Schüler in Deutschland aufgrund der bestehenden Schulpflicht nicht geben dürfte. Dabei ist das tatsächliche Ausmaß vermutlich noch weitaus größer. Denn längst nicht alle schulabsenten Schüler und Schülerinnen werden gemeldet und erfasst. Jede Schule geht auch unterschiedlich mit dieser Problematik um. Es gibt keine auswertbaren Daten, mit denen das Phänomen Schulabsentismus beschrieben werden könnte. Das erschwert den Umgang damit und macht die Entwicklung von Lösungsansätzen schwierig. Die Folge: Trotz der Bemühungen von vielen Seiten (Schulen, Lehrkräften, Familien, Jugendhilfe, psychologischen Fachkräften) fallen unter dem Strich zu viele Schülerinnen und Schüler aus dem Schulsystem heraus.
Dies bekommen außerschulische, in diesem Bereich tätige Bildungseinrichtungen deutlich zu spüren. Zum Beispiel „Das andere SchulZimmer“ in Mannheim, das eine Flut von Anfragen nach Schulplätzen erhält. Diese private Initiative engagiert sich seit fast fünf Jahren für sozial benachteiligte junge Menschen im Alter von 15 bis 27 Jahren, die aus dem Schulsystem herausgefallen sind.
Ein Team aus hauptamtlichen und vielen ehrenamtlichen Lehrkräften unterstützt mit einem besonderen pädagogischen Konzept beim Stabilisieren der Lebenssituation, beim Erwerb eines schulexternen Hauptschul- oder Realschulabschlusses und beim anschließenden Berufseinstieg. Möglich ist diese Arbeit durch zahlreiche Menschen, Firmen, Stiftungen sowie Service-Clubs, die ihre Zeit oder ihr Geld spenden. Die Stadt Mannheim unterstützt mit 16 500 Euro jährlich. Die tägliche pädagogische und organisatorische Arbeit ist intensiv. Hinzu kommt die konstante Herausforderung, finanzielle Mittel einzuwerben.
Schulabbrecher sind wenig sichtbar
In der öffentlichen Wahrnehmung sind schulabsente Jugendliche und junge Schulabbrecher und Schulabbrecherinnen wenig sichtbar. Sie bilden auch keine homogene Gruppe. Sie alle eint, dass sie sich in schwierigen Lebenssituationen befinden und Probleme im Schulsystem haben. Schaut man genauer hin, gibt es viele verschiedene Gründe für das Herausfallen aus dem Schulsystem. Meistens sind es komplexe Problemlagen. Häufig spielen Aspekte wie Mobbing, soziale Ängste, psychische Problematiken, instabile Familienverhältnisse, Migrations- und Fluchthintergrund, fehlende Unterstützung, schwacher sozialer Hintergrund, Probleme mit dem Lernen und der Konzentrationsfähigkeit eine Rolle. Hinzu können delinquentes Verhalten, Drogenmissbrauch, Verschuldung kommen. Manche jungen Menschen befinden sich seit Jahren in einer Abwärtsspirale, in der negative Schulerfahrungen eine entscheidende Rolle spielen.
Die Gastautorin
- Ute Schnebel ist Geschäftsführerin der außerschulischen Bildungseinrichtung „Das andere SchulZimmer“ in Mannheim, das sie 2018 gegründet hat.
- Nach ihrem Hochschulabschluss in Geschichte, Anglistik und Hispanistik an der Universität Mannheim arbeitete sie einige Jahre lang beim Verlag Wiley-VCH in Weinheim. Anschließend wechselte sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an die Pädagogische Hochschule Heidelberg.
- Dort war sie für den Masterstudiengang Straßenkinderpädagogik tätig. Bei einem Aufenthalt in Medellín, Kolumbien, lernte sie die Bildungsarbeit mit Straßenkindern kennen, die sie für ihr Engagement für junge Menschen in schwierigen Lebenssituationen in Mannheim inspirierte.
Es liegt auf der Hand, dass die pädagogische Arbeit mit dieser Zielgruppe nicht einfach ist. Es ist ein dauerhaftes, zähes Ringen bis zum erfolgreichen Schulabschluss. Viele tiefe Täler müssen gemeinsam durchschritten werden. Es ist eine beständige Auseinandersetzung mit den jungen Menschen und ihren unterschiedlichen Lebenssituationen. Dabei gilt es, widersprüchliches Verhalten auszuhalten, sich in Geduld, Verständnis und Frustrationstoleranz zu üben. Immer wieder gemeinsam auszuloten, wie weit „Das andere SchulZimmer“ mit ihnen gehen möchte (oder auch kann). Grenzen müssen aufgezeigt und gezogen werden. Das alles sind keine einfachen Prozesse, nicht immer gelingt es, die Schüler und Schülerinnen dauerhaft zu halten.
Hilfe für Schulababrecher lohnt sich
Unterm Strich lohnen sich die gemeinsamen Anstrengungen: Bisher haben 48 von insgesamt 50 Schüler und Schülerinnen, die zu den Abschlussprüfungen angetreten sind, ihren Schulabschluss geschafft. Dies entspricht einer Erfolgsquote von 96 Prozent. Sie alle haben die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben. Das ist nicht nur individuell, sondern auch für die Gesellschaft ein großer Gewinn. Denn die Strahlkraft eines erfolgreichen Schulabschlusses geht weit über die einzelnen Schüler und Schülerinnen und ihre Familien hinaus.
Und ermuntert auch andere junge Menschen in ähnlichen Situationen dazu, diesen Weg zu gehen. Das kann der Gesellschaft langfristig hohe Folgekosten ersparen. Denn ist ein junger Mensch erst mal in den sozialen Hilfesystemen gelandet, wird es für ihn immer schwieriger, hier wieder herauszukommen. Deshalb ist es so wichtig, in entscheidenden Zeitfenstern so viel Energie wie möglich für die jungen Menschen aufzubringen. Denn die Erfahrungen von „Das andere SchulZimmer“ zeigen auch: Je länger sich die Jugendlichen außerhalb des Schulsystems befinden, desto schwieriger wird es für sie, sich wieder in sozialen Zusammenhängen zu bewegen, eine Tagesstruktur aufzubauen und das Lernen wieder neu zu lernen.
Generell fehlt es in Deutschland an ausreichend auf die Zielgruppe der schulabsenten Schülerinnen und Schüler und Schulabbrecher zugeschnittenen Unterstützungssystemen. Die vorhandenen Angebote können den riesigen Bedarf längst nicht decken. Allein in Mannheim bräuchte es mehrere „andere SchulZimmer“. Hier steht Mannheim stellvertretend für die meisten (Groß-)Städte. Und es ist davon auszugehen, dass der Bedarf in Zukunft dramatisch steigen wird. Denn die Gesellschaft verändert sich in einem rasenden Tempo und wird immer diverser.
Fokus auf die einzelnen Schüler
Hier wird Schule, so wie wir sie kennen, nicht Schritt halten können. Der Fokus müsste schon jetzt viel mehr auf dem einzelnen Schüler oder der einzelnen Schülerin und deren individuellen Entwicklungsmöglichkeiten liegen. Ein Umdenken ist dringend erforderlich, will man nicht weiterhin dauerhaft eine so hohe Anzahl von jungen Menschen, die Potenzial haben, im Schulsystem verlieren.
Auf die Problematik Schulabsentismus oder Schulabbruch spezialisierte, eng mit den Schulen vernetzte und weit verzweigte externe Bildungseinrichtungen könnten langfristig für zeitnahe, flexible, effektive und ökonomisch schlanke Lösungsansätze und Impulse sorgen und wichtige Brücken zwischen Schulen, Familien, Jugendhilfe, psychologischen Stellen, Gesellschaft und Wirtschaft bauen. Auf diese Weise könnte es gemeinsam gelingen, frühzeitig auf schulabsentes Verhalten zu reagieren und einen Schulabbruch langfristig abzuwenden.
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