Wie bekommen wir die Plastikkrise in den Griff, Frau Goebel und Herr Wermter?

Plastik ist der wichtigste Werkstoff unserer Zeit, es macht Konsum bequem und günstig. Doch die Folgen sind verheerend. Um die Plastiksucht zu bekämpfen, müssen wir die wirtschaftliche und gesellschaftliche Abhängigkeit durchbrechen. Ein Gastbeitrag

Von 
Jacqueline Goebel, Benedict Wermter
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A devestating shot of plastic waste in the ocean. Water Pollution. © Getty Images/iStockphoto

Berlin. Stellen Sie sich vor, Sie sind Kapitän auf einem großen Schiff, seit vielen Jahren schon. Vielleicht auf einem Tauchschiff, oder einem Fischerboot. Seit einigen Jahren gehen Ihnen mehr Plastikverpackungen als Fische ins Netz. Oder Ihre Tauchgäste brechen den Urlaub ab – die See und ihre Strände sind zu verschmutzt mit umhertreibendem Plastikmüll. Irgendwann beschließen Sie, Ihren Job an den Nagel zu hängen, um Plastikmüll aus dem Wasser zu fischen, Strände aufzuräumen und Müll zu recyceln.

Tatsächlich hat in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von Surfer-innen, Tauchenden und Kapitänen freiwillige Plastikinitiativen gegründet, viele davon in Südostasien. Sie gehen mit gutem Beispiel voran, schaffen Bewusstsein für die globale Plastikkrise. Mehr aber auch nicht. Nach großen Investitionen steht häufig ein fettes Minus auf dem Konto der freiwilligen, neuen Müllunternehmer. Und egal, wie viel Plastik sie aus dem Wasser fischen oder vom Strand aufsammeln, es kommt ständig neues hinzu.

Die Gastautoren

Jacqueline Goebel ist Wirtschaftsjournalistin. Als Redakteurin bei der WirtschaftsWoche recherchiert sie seit acht Jahren zum Spannungsverhältnis zwischen Wirtschaft und Umwelt. Für ihre Recherchen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, das Medium Magazin kürte sie 2019 zu den „Top 30 unter 30“ des deutschen Journalismus.

Benedict Wermter ist Investigativjournalist, Autor und Regisseur. Er recherchiert zur Ökonomie von Modefirmen, Zementkonzernen, Konsumgüterindustrie und Abfallwirtschaft. Wermter ist Co-Autor der preisgekrönten Dokumentation „The Recycling Myth“, die auf Deutsch als „Die Recyclinglüge“ in der ARD ausgestrahlt wurde.

Sie haben das Sachbuch „Die Plastiksucht – Wie Konzerne Milliarden verdienen und uns abhängig machen“ geschrieben. Darin beschreiben sie die globalen Entwicklungen der Plastikindustrie, enthüllen Greenwashing- und Lobbytechniken sowie kriminelle Machenschaften in der Entsorgungsbranche.

Wir leben im Plastikzeitalter. Es gibt heute keinen wichtigeren Werkstoff als Kunststoff. Medizin und Energiewende brauchen Plastik. Die Menschheit wäre ohne Kunststoff wahrscheinlich nie auf den Mond gelangt. Doch Wirtschaft und Gesellschaft sind süchtig nach Plastik. Wenn die Bevölkerung wächst, wenn Menschen wohlhabender werden, dann verbrauchen sie mehr davon. Bisher hat kein Verbot von Plastiktüten, keine Verpackungsgebühr und keine Recyclingquote daran etwas ändern können.

Diese Plastiksucht ist verheerend. Die Müllmengen sind so immens, dass die Entsorgungsbranche sie kaum verarbeiten kann. Gut 350 Millionen Tonnen Plastikmüll fallen jedes Jahr an. Ein Großteil der globalen Flut von Plastikmüll landet auf den vielen Deponien der Welt, nicht nur in Indonesien oder Ghana, sondern auch im Vereinigten Königreich oder den USA. Ein weiterer Teil der Abfälle wird verbrannt und erzeugt dabei klimaschädliche Emissionen. 22 Millionen Tonnen Plastikabfälle enden in der Umwelt – rund acht Millionen Tonnen davon im Meer.

"Wir leben im Plastikzeitalter. Es gibt heute keinen wichtigeren Werkstoff als Kunststoff"

Trotzdem wettet die Wirtschaft weiter auf das Wachstum des Plastikkonsums. Umweltorganisationen schätzen, dass die Plastikindustrie in den kommenden Jahren bis zu 400 Millionen US-Dollar in neue Kapazitäten investieren könnte. Die Ölindustrie selbst drängt auf wachsende Kapazitäten in der Plastikproduktion, um Verluste zu kompensieren.

Schließlich sieht sich Big Oil mit dem Schreckensszenario konfrontiert, dass durch die Energiewende immer weniger Treibstoffe benötigt werden – und sucht ihre Zukunft damit in Petrochemie und somit auch in Plastik. Die Petrochemie soll bis zum Jahr 2040 so stark wachsen, dass sie so viel Öl verbrauchen wird wie keine andere Industrie. Bis 2060, schätzt die OECD, könnte sich die Plastikproduktion weltweit verdreifachen.

Auch Konsumgüterkonzerne sind abhängig von Plastik. Sie verkaufen ihre Produkte in schnellen und billigen Einwegverpackungen, die nur für wenige Wochen – manchmal auch nur Minuten – einen Nutzen haben. Als Müll aber überdauert das Einwegplastik Jahrhunderte in der Umwelt. Hinzu kommt, dass solcher Kunststoff zu günstig ist. Die Kosten, die diese Verschmutzung verursacht, tragen die Konzerne nicht.

Die Kreislaufwirtschaft kommt gegen die Wegwerfgesellschaft einfach nicht an. Die globale Recyclingquote von Plastik hat nie die Zehn-Prozent-Hürde geknackt. Auch Deutschland, der vermeintliche Recyclingchampion, schickt die Hälfte seines Plastikmülls in den Ofen und versenkt einen Großteil der gelben Säcke in Parkbänken und Bauzäunen.

"Die Kreislaufwirtschaft kommt gegen die Wegwerfgesellschaft einfach nicht an"

Denn Plastikmüll ist häufig zu dreckig, um recycelt zu werden, oder verschiedene Kunststoffe sind untrennbar miteinander verklebt. Selbst die Initiativen von Surferinnen und Tauchern müssen ihre Aufräum-Aktionen am Strand nach einiger Zeit wieder einstellen, weil sie sich einfach nicht rechnen. Oder sie widmen sich den Ausnahmen im Plastikmüll, die sich profitabel recyceln lassen, wie etwa Plastikflaschen.

Im Kampf gegen die Plastiksucht wurden über Jahre die falschen Prioritäten gesetzt: Recycling statt ein Stopp dem Plastikwachstum. Doch eigentlich sollten Plastikprodukte und Plastikmüll vermieden werden, wiederverwendet, noch mal befüllt oder repariert, erst danach recycelt oder verbrannt werden. Das ist die richtige Reihenfolge, auch laut der Abfallhierarchie der EU.

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Wir können uns aus dieser Krise nicht herausrecyceln. Das sagen jetzt sogar selbst Konzernspitzen. Sie geloben Besserung: Handelsmarken wie Mars, Nestlé oder Procter&Gamble wollen in den kommenden beiden Jahren den Einsatz von Neuplastik aus fossilen Rohstoffen um bis zu 30 Prozent reduzieren. Der Getränkegigant Coca-Cola will bis 2030 ein Viertel seiner Getränke in Mehrwegflaschen oder über Getränkestationen verkaufen. Konkurrent PepsiCo peilt im selben Zeitraum an, 20 Prozent seiner Getränke in Mehrweg zu verkaufen. Doch reicht das? Und vor allem: Werden die Konzerne ihre Versprechen halten?

In der Vergangenheit haben sie ihre Ziele immer wieder verfehlt. Und auch jetzt schreiten sie nur langsam voran. Mehr Hoffnung versprechen deshalb die Verhandlungen der Vereinten Nationen um ein internationales Plastikabkommen. Das heißeste Thema: Für das Abkommen werden staatliche Plastikobergrenzen diskutiert, also die Frage, ob es einen verbindlichen Deckel für die Plastikproduktion geben soll.

So eine Plastikobergrenze wäre für die Plastiksucht wie ein kalter Entzug. Und der ist bitter nötig.

Die Abhängigkeit des Wohlstandswachstums vom hohen Ressourcenverbrauch muss durchbrochen werden. Für das Sachbuch „Die Plastiksucht“ haben wir, die Autoren, ein Zwölf-Schritte-Programm mit geeigneten Maßnahmen ausgearbeitet. Wir haben uns dabei an dem Vier-Säulen-Modell aus der Drogenpolitik orientiert, das die Suchtproblematik in einer Gesellschaft bekämpft. Diese vier Säulen bestehen aus der Prävention, Therapie, Schadensminimierung sowie Repression und Vollzug.

Jeder Mensch kann sich bemühen, weniger Plastik zu verbrauchen. Aber es ist nicht allein Aufgabe der Konsumenten, Plastikmüll zu vermeiden. Unternehmen und Staaten müssen die Vermeidung zur rechtlich bindenden Priorität machen – und entsprechende Maßnahmen konsequent umsetzen.

Viele Einwegprodukte und -verpackungen verursachen mehr Schaden und Kosten, als sie Nutzen bringen. Manche Staaten wollen solche Wegwerfprodukte verbieten. Das ist sinnvoll, solange es ökologische Alternativen gibt.

"Mehrwegprodukte müssen zum neuen Standard werden. Dazu müssen sich nicht nur Verbraucher umstellen"

Mehrwegprodukte müssen zum neuen Standard werden. Dazu müssen sich nicht nur Verbraucher umstellen. Es braucht mutige Unternehmen und Händler, die Mehrweg-Systeme entwickeln und vorantreiben. Damit Mehrwegkonzepte effektiv sind, sollten sie in großem Maßstab umgesetzt werden. Einzellösungen sind nicht zielführend. Mehr Kooperation ist nötig, zwischen Unternehmen und über Branchen hinweg, um der Umweltverschmutzung vorzubeugen.

Und schließlich: In zu vielen Ländern wird Plastikmüll nur wenig gesammelt, wir müssen rund um die Welt eine entsprechende Infrastruktur und tatsächlich mehr Recyclinganlagen aufbauen, für das, was sich nicht vermeiden ließ. Einige Staaten müssen bei dieser Entwicklung auch finanziell unterstützt werden. Der Müllsektor muss strategisch aufgebaut und mit Gebühren aus der Industrie finanziert werden, um die Plastiksucht zu therapieren. Mit freiwilligen Initiativen von Surfergirls oder Haudegen aus der Schifffahrt kann man allenfalls gut Spendengelder sammeln und das eigene Image im Internet pflegen.

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