Debatte

Warum braucht Politik ein neues Verständnis von Nachhaltigkeit?

Lange wissen wir um den Klimawandel, Wissenschaftler haben bereits vor Jahrzehnten vor den Folgen gewarnt. Umso dringlicher, schneller muss nun gehandelt werden. Und das mit Blick auf einen langen Zeitraum. Ein Gastbeitrag

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Seit Jahrzehnten warnen Wissenschaftler vor der Klimakrise. Die Politik hat lange gewartet – und hat es jetzt umso schwerer. Denn sie muss zugleich nachhaltig und schnell denken. © Istock

Robert Habeck brachte unlängst präzise auf den Punkt, worin die Kunst guter Politik im Kern besteht: „Die Not des Tages, und die Hoffnung, wie es danach weitergeht, die muss man zusammenbringen. Aber am Ende sollte die Hoffnung siegen“ (Süddeutsche Zeitung, 1.7.2022).

Gute Politik darf vor lauter Dringlichkeiten die „Strukturen“ nicht aus dem Blick verlieren, muss die kurzen und die langen Linien gleichermaßen ernst nehmen, die Kluft zwischen Pragmatismus und Idealismus überbrücken. Oder, wie linke Sozialdemokraten in den 1970er Jahren zu sagen pflegten, sie muss einer Doppelstrategie aus kurzfristig wirksamen Reformen und langfristigem Umbau des Systems folgen.

Es geht also im Kern um einen klugen Umgang mit Zeit, genauer: mit ihren Horizonten. Im Grunde wie bei der Feuerwehr. Sie soll Brände schnell löschen und sich weit vorausschauend um den Brandschutz kümmern. Schnelligkeit und Nachhaltigkeit gehören zusammen. Nur so kann verhindert werden, dass neue Nöte schneller entstehen als alte verschwinden - dass sich also alles, was wir zum Leben brauchen und uns lieb und teuer geworden ist, buchstäblich in Rauch auflöst.

Klima- und Energiepolitik sind drastische Beispiele für das Versagen bei den langen Linien. Seit 50 Jahren warnen Wissenschaftler vor der Klimakrise. Seit 30 Jahren veranstaltet die Politik Klimakonferenzen. Seit 20 Jahren kennt der Deutsche Bundestag den Ernst der Lage (Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“). Seit 15 Jahren liegt ihm ein detaillierter Haushaltsplan für die Klimawende vor, eingereicht von der damals jüngsten Abgeordneten Anna Lührmann.

Und jetzt auf einmal muss alles ganz schnell gehen: 2050, 2045 oder gar 2035 soll Deutschland „klimaneutral“ sein. Jetzt auf einmal, muss sich das Tempo der jährlichen Treibhausreduktion verdoppeln, jetzt auf einmal entdecken wir, dass Klimaschutz auch Kosten mit sich bringt, die viele überfordern.

Und jetzt, angesichts des auch mit deutschen Öl- und Gaskäufen finanzierten russischen Kriegs in der Ukraine, müsste jeder begriffen haben, was eigentlich spätestens seit dem Golfkrieg von 1991 klar ist: dass unsere Abhängigkeit vom Import fossiler Energie längst auch für den Weltfrieden brandgefährlich geworden ist.

Die schreiende Diskrepanz zwischen hektischer Geschäftigkeit angesichts der „Not des Tages“ und weitgehender Tatenlosigkeit angesichts der Notwendigkeit des „Umbaus der Strukturen“ legt nahe, die zeitliche Dimension der divergierenden Horizonte genauer unter die Lupe zu nehmen. Wie weit müssen Perspektiven eigentlich reichen, wie lang müssen Linien letztlich gezogen werden?

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir den Blick auf den ganz langen Horizont richten. An ihm muss sich kurz- und langfristig wirksame Politik gleichermaßen bewähren. Konkreter: Die Linderung der aktuellen „Not“ besteht in der Füllung der Gasspeicher für den nächsten Winter, der Umbau der „Strukturen“ im Ersatz der nichterneuerbaren durch erneuerbare Energien.

Hinter beidem steht die mit der Geburt des Menschen entstandene Aufgabe, sein Handeln mit den Grundlagen, die ihm die Natur zur Verfügung stellt, zu synchronisieren. Dazu muss er seinen Umgang mit diesen Grundlagen so gestalten, dass er mit dem auszukommen vermag, was ihm die Natur immer wieder von Neuem anbietet. Nur wer sich mit den Früchten begnügt und die Substanz hegt und pflegt, darf realistischerweise hoffen, dass ihn die Natur auf Dauer - eben „nachhaltig“ - ernährt und ihm einen sicheren Ort zum Leben bietet.

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Nachhaltigkeit erfordert im Kern die Orientierung am Prinzip des Kreislaufs: nicht mehr Bäume fällen als wieder nachwachsen, so die bekannte Grundformel. Nachhaltigkeit heißt Wiederholbarkeit. Nur Kreisläufe sind nachhaltig, Durchläufe nicht (exponentielle Veränderungen sogar brandgefährlich). Kurz- und mittelfristige Entwicklungen brauchen also immer eine langfristig gewährleistete zyklische Grundlage. Es ist die „Wiederkehr des Ähnlichen“ (Ludwig Klages), die die Natur selbst als Garant von Stabilität und Wandel erfunden hat. Sie zeigt sich seit dem Urknall im Kreisen von Himmelskörpern wie von Elektronen, von Stoffen (etwa Kohlenstoff, Sauerstoff und Wasser) und - zuletzt! - des Lebens.

Mit diesen Kreisläufen muss sich der Mensch synchronisieren. Nur so kann die Hoffnung darauf, dass das, was er so alles anstellt, letztlich auch gut ausgeht, begründet sein. Kurz: Die Wirtschaft des Menschen schließt sich an jene Kreisläufe immer nur an, die die Wirtschaft der Natur längst betreibt. Das ist der Kern dessen, was wir seit einigen Jahrzehnten „ökologische“ Nachhaltigkeit nennen.

Aber „ökologische“ ist ohne „soziale“ Nachhaltigkeit nicht denkbar. Zum einen, weil die Hege und Pflege der Fruchtbarkeit der Natur ein verlässliches Verhältnis zwischen den Generationen erfordert. Zum andern, weil die Verantwortung für diese Hege und Pflege auch innerhalb der Generationen fair verteilt sein muss, wenn sie gelingen soll.

So wie die Natur „gibt“, der Mensch „nimmt“ und die Gabe schließlich durch einen pfleglichen Umgang mit ihr erwidern sollte, so sollte er auch mit Seinesgleichen umgehen.

Geben, Nehmen, Erwidern - dieser Dreiklang betrifft unser Verhältnis zur Natur und zu unseren Mitmenschen gleichermaßen. Der Frieden mit der Natur ist ohne den Frieden mit dem Mitmenschen nicht zu haben. Und beides kann nur gelingen, wenn der Mensch auch mit sich selbst pfleglich umgeht. Dazu muss sein Eingreifen in die Welt mit dem Begreifen dessen einhergehen, was es bewirkt. Der Mensch muss sich als selbstwirksam erleben können, mit sich einigermaßen ins Reine kommen.

Wie sonst sollte ihm ökologische und soziale Nachhaltigkeit zu einem „persönlichen“ Anliegen werden! Auf diesen dreifachen Frieden mit Umwelt, Mitwelt und Innenwelt läuft es hinaus, wenn man Nachhaltigkeit als Wiederholbarkeit im Zeitverlauf begreift: als Regenerativität, Reziprozität und Reflexivität.

Damit, so das Fazit dieser an Habeck anschließenden Überlegungen, wäre der Kompass für eine Politik definiert, die die „Not des Tages“ und die „Hoffnung“ auf strukturelle Transformation wirklich miteinander verbindet. An diesem Kompass wären Energie- und Umwelt-, Wirtschafts-, Sozial- und Entwicklungs-, Bildungs- und Kulturpolitik gleichermaßen auszurichten (und natürlich auch die globale Friedenssicherung im engeren Sinn des Wortes).

Statt beim Thema Nachhaltigkeit endlos die Verantwortung wie auf einem Verschiebebahnhof hin- und herzuschieben, sollte Politik bei der Definition von Werten und Normen, bei der Gestaltung von Institutionen und Instrumenten die Wiederholbarkeit und damit Kreislauftauglichkeit zum generellen Maßstab erheben: dass sich die Kräfte der Natur genauso wenig erschöpfen dürfen wie die des Menschen.

Eine an diesem Kompass ausgerichtete Politik könnte beispielsweise dafür sorgen, dass Landwirte nicht nur für ihre Produkte, sondern zudem mit mindestens gleicher Entschiedenheit auch für ihre Beiträge zur Erhaltung und Förderung der Bodenfruchtbarkeit bezahlt werden, dass im wirtschaftlichen Austausch nicht nur der Stärkere Gewinne erzielt, sondern mit mindestens gleicher Entschiedenheit aus ihnen die nachholende Entwicklung Schwächerer finanziert wird, und dass Kinder und Jugendliche nicht nur als Humankapital behandelt, sondern mit mindestens gleicher Entschiedenheit in ihren kreativen Potenzialen umfassend gefördert werden.

Soll die Hoffnung am Ende siegen, sich also als berechtigt erweisen, muss die Politik die Verhältnisse so gestalten, dass die Menschen zu einem Verhalten befähigt werden, das diesen Sieg möglich macht.

Der Gastautor Fritz Reheis

Fritz Reheis ist außerplanmäßiger Professor, promovierter Soziologe und habilitierter Erziehungswissenschaftler.

Er war 20 Jahre lang Gymnasiallehrer für Sozialkunde, Deutsch, Geschichte und Philosophie und zehn Jahre lang Hochschullehrer für Politische Bildung am Lehrstuhl Politische Theorie der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Seit seiner Pensionierung ist er Lehrbeauftragter am Lehrstuhl Allgemeine Pädagogik.

Reheis ist Mitglied des Arbeitskreises Politische Ökonomie, der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (Sektion Kultursoziologie) und Gründungs- und Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik.

Veröffentlichungen: „Konkurrenz und Gleichgewicht als Fundamente von Gesellschaft“ (1986), „Die Kreativität der Langsamkeit“ (1996/1998/2008), „Wo Marx Recht hat“ (2011) und „Die Resonanzstrategie“ (2019).

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