Mannheim. Bis zum 70. Lebensjahr erwerbstätig zu sein, muss angesichts von Fachkräftemangel, demografischer und gesundheitlicher Entwicklung keine Zumutung sein. Wir leben nicht mehr im Kaiserreich, als die wöchentliche Arbeitszeit noch rund 70 Stunden betrug und Bismarck die Rentenversicherung einführte. Damals wurde allerdings erst ab dem 70. Lebensjahr gezahlt - und an wesentlich weniger Menschen als heute.
Die Lebenserwartung hat sich seit Ende des 19. Jahrhunderts verdoppelt, die Arbeitszeit fast halbiert. Gesundheit, Hygiene, Lebensweise, Bildungsniveau und Arbeitsbedingungen verbesserten sich, und so werden die Menschen in Deutschland immer älter und bleiben dabei länger gesund. Wer im Kaiserreich das 65. Lebensjahr erreicht hatte, konnte damit rechnen, noch rund zehn Jahre zu leben.
Nicht nur arme Witwen erhalten kleine Rente
Heute haben 65-jährige Männer noch knapp 18 und Frauen sogar 21 Jahre zu erwarten. Und so war im Jahr 2018 schon jeder Fünfte über 67 Jahre alt, im Jahr 2060 werden voraussichtlich 24 bis 30 Prozent der Gesamtbevölkerung zu dieser Altersklasse gehören, und insbesondere die Hochbetagten werden mehr. Der Anteil der 20- bis 66-Jährigen an der Gesamtbevölkerung wird sich im selben Zeitraum voraussichtlich von 62 Prozent auf 53 bis 56 Prozent reduzieren. Dementsprechend erwartete das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung im Jahr 2021, dass die Zahl der potenziellen Erwerbspersonen bis 2035 um sechs Prozent und bis zum Jahr 2060 um fast 20 Prozent sinken wird. Der schon heute spürbare Fachkräftemangel wird sich in der Folge verstärken. Durch Einwanderung und eine erhöhte Frauenerwerbsquote allein wird dies nicht zu kompensieren sein. Eine längere Teilhabe der Älteren erscheint nicht nur zur Entlastung der Rentenkassen, sondern auch zur Befriedigung des Arbeitskräftebedarfs unausweichlich. Jobportale bieten schon heute gezielt Jobs für die Generation 60 plus an.
Die derzeitigen Rentnerinnen und Rentner sind ohnehin schon weiter, als die aktuellen Diskussionen vermuten lassen. Waren 1993 nur 4,7 Prozent der 65- bis 69-Jährigen noch erwerbstätig, so waren es im Jahr 2019 schon 17,9 Prozent. In der Altersgruppe der 70- bis 74-Jährigen arbeiteten 1993 lediglich 2,5 Prozent, im Jahr 2019 hingegen 8,2 Prozent. Die Jungen arbeiten weniger als zuvor. Ihre Erwerbsquote sank im selben Zeitraum von 51,9 Prozent auf 48,5 Prozent, was auch verlängerten Ausbildungszeiten geschuldet ist.
Und es sind nicht nur die armen Witwen mit kleiner Rente, die arbeiten (müssen). Gerade die Besserverdienenden (und besser Qualifizierten) arbeiten länger. Durch die Arbeit weiterhin geistig fit zu bleiben, persönliche Bestätigung zu erhalten und soziale Kontakte pflegen zu können, sind - neben dem Geld - Argumente für eine Erwerbsarbeit bis ins hohe Alter.
Die Gastautorin
- Eva Douma ist seit mehr als 20 Jahren selbstständig in der Fortbildung und Organisationsberatung tätig. Sie lebt und arbeitet als Coach, Trainerin und Autorin in Frankfurt und Berlin.
- Zuvor arbeitete sie als Referentin im Paritätischen Wohlfahrtsverband in Hessen.
- Sie studierte Sozial- und Verwaltungswissenschaften an der Universität Bielefeld und der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer. Ihre Promotion wurde mit einem Stipendium der Volkswagenstiftung gefördert.
- Als Gründerin und Vorstand des Vereins „arbeitsoffen“ engagiert sie sich dafür, dass Menschen in der Arbeitswelt ihren richtigen Platz finden.
- Zuletzt von ihr erschienen: „Sicheres Grundeinkommen für alle. Wunschtraum oder Perspektive?“.
Wer derzeit jenseits des offiziellen Renteneintrittalters erwerbstätig ist, arbeitet zumeist selbstständig oder beim alten Arbeitgeber, denn der weiß, was er an seinen älteren Beschäftigen hat.
Wer hingegen mit Ende 50 einen neuen Job sucht, hat es immer noch schwer. Vorbehalte, dass ältere Beschäftigte weniger leistungsfähig sind, halten sich hartnäckig, auch wenn die Realität eine andere ist.
Ältere lernen zwar langsamer, brauchen mehr Wiederholungen und sind „störanfälliger“. Durch eine stark erhöhte Motivation gleichen sie bestehende Defizite gegenüber Jüngeren jedoch aus. Oft werden ältere Beschäftigte allerdings wenig in betriebliche Fortbildungen und andere Qualifizierungs- und Personalentwicklungsmaßnahmen einbezogen. Auf lange Sicht werden dadurch Qualifikation, Einsatzbreite und Lernfähigkeit abgebaut. Einseitige Belastungen nehmen zu und erhöhen das Krankheitsrisiko. Die eigentlich unbegründete Erwartungshaltung, dass ältere Beschäftigte „es nicht bringen“, erfüllt sich auf diese Weise von selbst.
Ergebnisse der Altersforschung zeigen hingegen, dass eine altersbedingte Abnahme der Lern- und Leistungsfähigkeit erst ab dem 80. Lebensjahr relevant wird. Ältere machen zwar mehr kleine Fehler als Junge, aber die (negativen) Auswirkungen sind weniger gravierend, weil sie sich seltener einen großen Fauxpas leisten.
Im Vergleich zu Jüngeren planen Ältere mehr und gehen strategischer vor. Sie suchen gezielt nach Informationen, nach sozialer und emotionaler Unterstützung. Planung ist dabei nicht mit Inflexibilität gleich zu setzen. Wenn die Situation es erfordert, geben Ältere erlernte Denk- und Handlungsmuster schneller als Jüngere auf. Sie lösen neue Probleme nicht mit vorgefertigten Denkschemata, sondern durch situativ angepasste, flexible Denkweisen.
Betriebe setzen in Zukunft mehr auf Ältere
Für die meisten Menschen sind ab dem 50. Lebensjahr die „wartungsfreien“ Jahre zwar vorbei. Aber die Anzahl der Jahre, die Menschen ohne gesundheitliche Beeinträchtigungen leben, steigt aktuell noch schneller als die Lebenserwartung. Heute sind 65-Jährige im Durchschnitt so fit, wie es ihre Eltern im Alter von 55 Jahren waren. Ältere Menschen haben zwar weniger Kraft als Jüngere und ihre kognitiven Fähigkeiten lassen partiell nach. Das kann allerdings durch Erfahrung und soziale Kompetenz kompensiert werden. Planmäßiges Handeln, strategisches Denken und ganzheitliches Verständnis für besondere Situationen zählen zu den Stärken älterer Menschen.
Natürlich sind körperliche Arbeiten anstrengend und gehen auf die Knochen. Allerdings ist heute schon jeder zweite Arbeitsplatz (auch) ein Computerarbeitsplatz. Und für den vielfach zitierten Dachdecker, der nicht mehr mit 70 schwindelfrei auf dem Dach stehen kann, lassen sich auch Lösungen finden. So wäre es möglich, stark belastende Tätigkeiten mit höheren Rentenpunkten auszugleichen. Teilzeittätigkeiten und ein weniger verdichtetes Arbeitstempo ermöglichen es auch Älteren und weniger belastbaren Menschen, berufstätig zu bleiben.
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Während Angehörige der jüngeren Generation Wert auf Privatleben und eine gute Work-Life-Balance legen, hat Arbeit für die Generation der Babyboomer einen hohen Stellenwert. Allerdings ist auch für Babyboomer wichtig, dass ihr Arbeitsengagement im Einklang mit dem eigenen Weltbild und Wertekanon steht. Arbeit muss Sinn machen und Identifikationsmöglichkeiten bieten.
Der demografische Wandel wird dazu führen, dass Betriebe in Zukunft wesentlich mehr auf ältere Arbeitnehmende setzen (müssen). Ältere Menschen können und wollen länger arbeiten. Allerdings arbeiten sie anders als Jüngere und benötigen dementsprechende (andere) Strukturen. Auch weil die Jungen heute nicht mehr in dem Maße wie ihre Babyboomer-Eltern dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, werden Arbeitsbedingungen vielgestaltiger und an individuelle Bedürfnisse angepasst werden (müssen).
Rente mit 70 - nur einer von vielen Punkten
Eine Wochenarbeitszeit von 15 bis 20 Stunden in Form von Teilzeitrente und -job erscheint vielen Älteren ideal, um einen längeren, fließenden Übergang zwischen Erwerbszeit und Rente zu gestalten. Flexible Arbeitszeiten und -orte, Home-Office und mobiles Arbeiten, machen es möglich, persönliche Interessen und Bedürfnisse, wie beispielsweise Betreuungsaufgaben, mit einer Erwerbsarbeit zu vereinbaren. Mehr oder minder lange Sabbaticals ermöglichen es Weltenbummlern, ausgedehnte Reisen zu unternehmen oder als Migrantinnen und Migranten mehrere Wochen oder gar Monate im Herkunftsland zu verbringen.
Home-Office, flexibles Arbeiten, Jahres- und Lebensarbeitszeitkonten - machbar ist vieles, man muss es nur wollen. Ein Renteneintritt ab 70 ist nur ein Punkt unter vielen in einer sich verändernden Arbeitswelt.
Wenn Ausbildungszeiten und Lebenserwartung steigen, was individuell durchaus begrüßenswert ist, besteht die Perspektive nicht darin, dass wir 30 Jahre in die Ausbildung investieren, dann 30 Jahre intensiv arbeiten und anschließend 30 Jahre Rente beziehen. Eine längere Lebensarbeitszeit ist nötig und auch möglich - nicht für alle, aber für viele, die es wollen und können.
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