Debatte

Warum müssen wir Nachhaltigkeit und Digitalisierung zusammendenken?

Digital und nachhaltig zu werden, ist jeweils für sich genommen eine Herausforderung für Unternehmen. Wer beides verbindet, hat das Zeug zum Vorzeigeunternehmen. Ein Gastbeitrag von Peter Gassmann und Harald Christ  

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Peter Gassmann, Harald Christ
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Die Herausforderung der Zukunft liegt für Unternehmen darin, mit präziseren Daten Ressourcen einzusparen – und damit nicht nur kosteneffizienter zu wirtschaften, sondern auch Klima und Umwelt zu schonen. © istock

Mannheim. Die Flutkatastrophe im Sommer 2021 war ein Schock für die Betroffenen und für die deutsche Öffentlichkeit. Sie führte uns allen auf dramatische Weise vor, dass die Gefahren durch den Klimawandel real sind und uns jederzeit treffen können. Gleichzeitig plagen aktuell verheerende Dürren vor allem südeuropäische Länder wie Spanien, Italien oder Griechenland und führen zu Wasserrationierungen und Ernteausfällen.

Wie drastisch die globale Erderwärmung ist, illustriert folgender Befund der International Energy Agency (IEA): Bis zum Jahr 2100 steigt die globale Temperatur um deutliche 1,8 Grad Celsius – selbst wenn alle Beteiligten alle Maßnahmen einhalten würden, die die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Klimakonferenz im November 2021 in Glasgow vereinbart haben. Heißt im Klartext: Der Wandel hin zu einer ressourcenschonenden, nachhaltigen Welt geht viel zu langsam. Das mahnt auch der Weltklimarat immer wieder an.

Sicher: Die Bundesregierung schreitet entschlossen voran, Deutschland soll bis spätestens 2045 klimaneutral sein. Die Europäische Union will dieses Ziel bis 2050 erreichen. Sie verpflichtet zunehmend auch Unternehmen, nachhaltiger zu wirtschaften. Die EU-Taxonomie zum Beispiel bewertet anhand definierter Kennzahlen, wie sich welche Wirtschaftstätigkeiten auf Umwelt, Gesellschaft und Unternehmensführung (ESG: Environment, Social, Governance) auswirken.

Nachhaltigkeit beschäftigt Kapitalmarkt

So kommen einzelne Aktivitäten, Geschäftszweige, mitunter sogar ganze Geschäftsmodelle auf den Prüfstand. Manches Unternehmen muss seine Rolle und Aufgaben in der Gesellschaft ganz neu finden –Nachhaltigkeit wirkt mitunter ähnlich disruptiv wie die Digitalisierung. Das ist für viele Firmen ein ernstzunehmendes Risiko. Aber ohne Risiken keine Chancen. Und die sind unserer Ansicht nach enorm. Am besten nutzt sie, wer die großen Potenziale von Digitalisierung und Nachhaltigkeit zugleich hebt.

Insbesondere Nachhaltigkeit wird für immer mehr gesellschaftliche Gruppen relevant. Dazu gehören etwa die 55 global aktiven Vorreiterkonzerne, die sich im Jahr 2021 zur First Movers Coalition (FMC) zusammengeschlossen haben, darunter Apple, Microsoft, die Deutsche Post DHL Gruppe und PwC. Auch die Verbraucherinnen und Verbraucher weltweit achten immer stärker auf den CO2-Fußabdruck von Produkten und Dienstleistungen und wollen wissen, unter welchen Bedingungen Unternehmen Konsumartikel hergestellt haben, wie es bei ihnen um Korruption, um Diversität und Inklusion bestellt ist.

Die Gastautoren

Harald Christ, geboren am 3. Februar 1972 in Worms, bekleidete über 25 Jahre verschiedene Führungspositionen bei Banken und Versicherungen. Darüber hinaus gründete er eigene Unternehmen und ist Lehrbeauftragter an zwei Hochschulen.

In seiner politischen Laufbahn war er etwa im Schattenkabinett des SPD- Kanzlerkandidaten Frank Walter Steinmeier als Kandidat für das Amt des Bundesministers für Wirtschaft nominiert. Zudem war er Mitbegründer des Wirtschaftsforums der SPD sowie Mittelstandsbeauftragter des Parteivorstandes der SPD.

Nach seinem Austritt aus der Partei 2019 trat er Anfang 2020 in die FDP ein. Von September 2020 bis April 2022 war er Bundesschatzmeister der FDP.

2020 gründete Christ die „Harald Christ Stiftung für Demokratie und Vielfalt“.

Dr. Peter Gassmann ist globaler Chef der Strategieberatung Strategy& und Global ESG Leader von PricewaterhouseCoopers.

Der promovierte Physiker ist ausgewiesener Experte für Risikostrategie und -management in der Finanzwirtschaft, war in leitenden Positionen bei einer europäischen Bank tätig und berät heute führende Unternehmen in strategischen und ESG-Transformationsprojekten.

Neben der Führung der globalen Strategieberatung koordiniert er die kundenorientieren ESG-Initiativen bei PricewaterhouseCoopers.

Ihr Buch „4.Zero. Die ESG- Revolution“ ist im Murmann Verlag erschienen. (Bild: Thomas Imo)

Nachhaltigkeit beschäftigt auch den Kapitalmarkt und Investoren und Investorinnen immer stärker. Die Europäische Bankenaufsichtsbehörde (EBA) verlangt zum Beispiel, dass Finanzinstitute über ihre ESG-Risiken Rechenschaft ablegen und mit der sogenannten Green Asset Ratio (GAR) den Anteil ihrer EU-Taxonomie-konformen Vermögenswerte angeben. Inzwischen berücksichtigen zudem fast 80 Prozent der langfristig orientierten Investoren und Investorinnen die ESG-Kriterien, wenn sie ein Investment erwägen. Das belegt der „Global Investor Survey 2021“ von PwC.

Larry Fink, Vorstandschef der US-amerikanischen Investmentfirma Blackrock, schrieb Anfang 2022 in seinem Brief an die CEOs gar von einer „tektonischen Kapitalverschiebung hin zu nachhaltigen Anlagen“. Recht gibt ihm allein die Entwicklung bei den ESG-Investments institutioneller Investoren und Investorinnen in Deutschland, Österreich und der Schweiz: 2017 investierten sie 176 Milliarden Euro nachhaltig, 2019 waren es schon 576 Milliarden Euro.

Für uns ist ganz klar: Nachhaltigkeit gehört in jede zeitgemäße, zukunftsfähige Geschäftsstrategie. Wir wissen allerdings auch, wie herausfordernd es sein kann, die Transformation praktisch umzusetzen. Denn sie betrifft die gesamte Unternehmensorganisation. Entscheider und Entscheiderinnen müssen umdenken, sich vom Profitstreben in kürzeren Zyklen verabschieden und an einer langfristigen, nachhaltigen Wertschöpfung orientieren. Wir raten deshalb dringend dazu, den Wandel zu mehr Nachhaltigkeit strategisch und ganzheitlich anzugehen.

Fehler der Digitalisierung vermeiden

In welchem Verhältnis stehen nun Nachhaltigkeit und Digitalisierung zueinander? In ihrer Kombination stecken, wie oben angedeutet, enorme Chancen. Warum? Klar ist zunächst, dass die US-Tech-Giganten und asiatische Unternehmen uns in Europa bei der Digitalisierung meilenweit voraus sind.

Gerade deutsche Unternehmen haben aber andere Stärken: Viele von ihnen sind in ihren Branchen weltweit führend. Als „Hidden Champions“ sind sie oft beispielsweise mit spezifischem, über Generationen tradiertem Ingenieurs- und Produktionswissen erfolgreich – und genau dieses Know-how sollten wir in großem Maßstab mit Nachhaltigkeit und Digitalisierung kombinieren.

Die Idee schlummerte bereits im Konzept der „Industrie 4.0“. Bei ihr erhalten Unternehmen beispielsweise dank Sensoren andere und/oder mehr Daten als bisher über ihre Wertschöpfung und können so sämtliche Prozesse verbessern, von der Produktion über die Logistik bis hin zum Versand. Wer mit präzisen Daten Ressourcen einspart, handelt nicht nur kosteneffizient, sondern schont auch Klima und Umwelt. Dieses Potenzial gilt es, strategisch und systematisch zu nutzen.

Die Kombination aus „Industrie 4.0“ und „Net Zero“-Zielen meinen wir mit dem Begriff „4.Zero“. Hierin steckt enormes Potenzial für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Deutsche Unternehmen können weltweite Vorreiter, globale „4.Zero“-Champions, werden.

Das kann aber nur gelingen, wenn wir bei der Nachhaltigkeitstransformation die Fehler der Digitalisierung vermeiden. Einer der größten: Entscheiderinnen und Entscheider wussten oft nicht, an welcher Stelle sie mit der Digitalisierung beginnen sollten – und fingen entweder zu zögerlich oder an zu vielen Stellen gleichzeitig an. Als drastische Folge verloren sich viele in ineffizienten Einzelprojekten. Unsere Chancen zu verspielen, das darf uns bei der Nachhaltigkeitstransformation nicht passieren.

Wachstumschancen lassen sich mit Zahlen belegen

Noch können wir sie nutzen. Erfolgsbeispiele für „Climate Tech“ gibt es hierzulande ja zuhauf. So lautet unser eindringliches Plädoyer: „Deutschland muss alle Technologien der Vierten Industriellen Revolution ideologiefrei auf den Prüfstand stellen und danach bewerten, ob sie uns auf den richtigen Klimapfad bringen und als ,Climate Tech’-Vorreiter etablieren können. Es sollte das Ziel sein, nicht nur die bisherige Wirtschaft emissionsfrei zu bekommen, sondern sie so umzubauen, dass die Emissionen zum Geschäftsmodell werden. Je stärker der Ausstoß durch Erfindungen ,Made in Germany’ sinkt, desto lukrativer für das jeweilige Unternehmen und den Standort Deutschland.“

Die Wachstumschancen lassen sich mit Zahlen belegen: Der Markt für Anwendungen, die die Umwelt schützen und Emissionen senken, ist im Jahr 2019 um zwei Prozent gewachsen, während die gesamte Industrie um fast ebenso viel geschrumpft ist. Das Exportvolumen solcher Güter beträgt dem Umweltbundesamt zufolge mehr als 60 Milliarden Euro.

Und Berlin ist für Climate Tech mittlerweile einer der Top-5-Standorte der Welt – neben London, Boston, New York City und der Bay Area um San Francisco. Das jährliche Wachstum der „Climate Tech“-Branche lag zuletzt bei atemberaubenden 210 Prozent.

„4.Zero“ ist also keine Utopie, sondern mit Zahlen belegbare Zukunft. Klar ist aber auch: Ohne gewaltige Investitionen – wir rechnen mit mehreren hundert Milliarden Euro in den kommenden Jahren –werden wir nicht erfolgreich sein.

Richten Unternehmen ihr Handeln jedoch konsequent an „4.Zero“ aus, können sie künftig zu den weltweiten Vorreitern gehören. Wenn sie bereit sind, sich für neue, mitunter ungewöhnliche Kooperationen zu öffnen. Und wenn sie sich vor allem möglichst rasch auf den Weg machen.

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