Müssen wir Frauen besser über die Geburt aufklären, Frau Lenzen-Schulte?

Wie groß Leidensdruck und Scham werden können, wissen viele Mütter erst nach der Entbindung – wenn sie bereits einen Schaden am Beckenboden erlitten haben. Dabei sind die Risiken bekannt, nur sprechen will darüber keiner. Ein Gastbeitrag

Von 
Martina Lenzen-Schulte
Lesedauer: 
© Getty Images

Im Jahr 2021 haben fast 800 000 Frauen in Deutschland ein Kind zur Welt gebracht. Längst nicht alle überstehen das heil. Selbst konservativ geschätzt muss laut Studien zur nachgeburtlichen Harninkontinenz jede fünfte Frau damit rechnen, nach der Niederkunft unwillkürlich Urin zu verlieren, sprich: Die Frauen können ihn nicht halten, wenn sie niesen, husten, hüpfen oder lachen. Das wären hierzulande 160 000 eines Geburtsjahrgangs, wahrlich kein Pipifax.

Und doch spricht kaum jemand darüber, vor allem die Betroffenen wahren das Tabu: Mehr als 70 Prozent von denen, die eine körperlich und seelisch schwer belastende Harninkontinenz entwickeln, erwähnen es nicht gegenüber ihren Ärzten und Ärztinnen. Es ist selbst in solchem Rahmen nicht gesellschaftsfähig. Wagt frau, das eigene Umfeld damit zu behelligen, schweigen ziemlich beste Freundinnen betreten, die eigene Mutter seufzt und beruhigt, oft wider besseres Wissen.

Besonders gedemütigt fühlen sich diejenigen, die Stuhl verlieren, weil bei der Geburt die Schließmuskeln am Darmausgang gerissen sind. Den Lebensalltag schildern die Patientinnen in Befragungen so: „Beim Joggen laufe ich nur Wege, auf denen ich hinter Hecken notfalls unbemerkt Pipi machen kann; ich trage keine hellen Röcke oder Hosen und einen ganz dicken Tampon im Darm, wenn ich mal rausgehe zum Einkaufen, aus Angst, etwas könne in die Hose gehen; mit meinen Kindern rennen oder springen auf der Hüpfburg kann ich nicht, ratzfatz ist der Slip nass“.

Diese beschämende wie bittere Realität muten selbst öffentliche Medien ihrem Lesepublikum selten zu. Alle bleiben erstaunlich einsilbig, wenn es um die verletzte Intimzone der Frau nach Geburten geht.

Es gibt eindeutig ein Informationsgefälle: Die Urogynäkologie produziert als Fachdisziplin für Beckenbodenschäden ständig neue Erkenntnisse, die aber nur langsam in die Frauenarztpraxen einsickern und so kaum bei den gefährdeten Frauen ankommen. So wissen die wenigsten, warum bei ihnen die komplizierte Muskeltektonik am Beckenboden versagt.

Reißt etwa der Levatormuskel, der sich wie eine Hängematte von den Schambeinknochen bis zum Steißbein spannt, ist das eine Hypothek für ein Frauenleben. Denn Levatorverletzungen zählen zu den Hauptursachen von Organsenkungen. Bei den einen fällt die Gebärmutter durch die Scheide immer tiefer nach unten, mitunter sogar nach außen zwischen die Oberschenkel. Bei den anderen drücken Harnblase oder Enddarm im schlaffen Beckenboden gegen die Scheidenwand. Frau fühlt sich dabei, als säße sie auf einem Ei. Während einige Beschwerden wenigstens klar zuzuordnen sind, ist das diffuse Gefühl, „da unten“ sei alles lose, kein Halt nirgends, selbst im ärztlichen Gespräch schwer zu vermitteln. Häufig wird abgewimmelt: Das gebe sich, das hätten viele, man sehe doch nichts, so lauten die Standardformulierungen, um Geburtsschäden herunterzuspielen.

Solche Hinhaltetaktiken verspielen wertvolle Zeit. Längst ist klar, dass eine frühe, sachgerechte Therapie vor dauerhaften Schäden bewahren kann. Längst ist klar, dass die herkömmlichen Rückbildungskurse oft nicht genügen. Längst ist klar, dass manche Frauen nach der Geburt eine passive Stütze durch Pessare benötigen oder eine qualifizierte Physiotherapie bei jenen, die speziell für Beckenbodentherapien ausgebildet sind (eine Therapeutenliste gibt es im Internet unter https://www.ag-ggup.de/therapeutenliste/therapeutenliste-beckenboden/).

Das steht zwar schon in medizinischen Fachartikeln. Dennoch überlässt das Gesundheitssystem diese Frauen sich selbst – und ihnen überdies die Kosten.

Viel zu zögerlich wird Beckenbodenphysiotherapie per Rezept verordnet. Die Krankenkassen drücken sich erfolgreich darum, die inzwischen ausgefeilten, aber teuren Geräte etwa zur elektrischen Aktivierung der Beckenbodenmuskeln zu finanzieren. Stattdessen klingelt bei den Windelherstellern die Kasse, aus dem Fernsehen ist deren Werbung hinlänglich bekannt. Die Opfer fühlen sich allerdings eher verhöhnt als verwöhnt, wenn ihnen schwarze „sexy“ Inkontinenzunterwäsche angedient wird – die neutralisiert zwar den Uringeruch, aber nicht die Scham beim intimen Zusammensein.

Denn der Sex leidet, wenn der Beckenboden leidet. Das ist das größte Tabu, weil für vieles die Worte fehlen. Geht es um sexuelle Beschwerden, versagt der medizinische Code. So wird die überdehnte, verletzte Scheide harmlos als „lax“ bezeichnet. Es resultiert ein „Lost-Penis-Syndrom“ – so als leide nur der Mann unter einer zu weiten Scheide, als ginge der Frau nichts verloren, wenn beide einander nicht mehr spüren. Eine klaffende Vagina wollen manche schon im Kreißsaal mit dem „Husband-Stitch“, dem Stich für den Ehemann, ein wenig enger nähen. Wie oft das tatsächlich geschieht, ist umstritten und soll an dieser Stelle nicht vertieft werden.

Entlarvend ist jedoch die verunglückte, immer noch männerzentrierte Namensgebung. Ähnlich verhält es sich mit der „Scheidenverjüngung“. Der Ausdruck bezeichnet die Verengung der Vagina, etwa mit einem Laser oder einer Operation. Umfragen in urogynäkologischen Fachkreisen bestätigen, dass es sich hier um ein reales Problem vieler Patientinnen handelt. Wer jedoch mit dem Begriff „Verjüngung“ den Gedanken an Antifaltencremes hervorruft, labelt eine medizinische Behandlung zu Unrecht als reine Kosmetik. Denn eine solche Scheide ist weder zu alt, noch muss sie verjüngt werden, sie ist beschädigt und braucht Therapie.

Die Vorbeugung von Beckenbodenschäden und die Verhinderung von Langzeitschäden ist ebenfalls ein Stiefkind der Geburtshilfe. Wissenschaftlichen Studien zufolge sind zum Beispiel warme Kompressen ein probates Mittel, um unter der Geburt das Risiko für Dammrisse zwischen Anus und Scheide zu verringern. Aber sie werden in deutschen Kreißsälen nur selten angewandt, hieß es unlängst in einem Fachjournal.

Es ist medizinisch unumstritten, dass es die schwierigen, langwierigen und komplikationsbehafteten Geburten sind, die dem Beckenboden am meisten zusetzen. Vor allem Instrumente wie die Saugglocke oder gar die Geburtszange vervielfachen das Verletzungsrisiko im Vergleich zu einer Bilderbuchgeburt. Immer noch werden brachiale Maßnahmen wie das Kristellern erlaubt, obwohl dieser wuchtige Druck auf den Bauch der Schwangeren nicht zuletzt eine Gefahr für den Beckenboden darstellt und inzwischen zu Recht umstritten ist. Sogar noch dann, wenn es bereits zu Verletzungen gekommen ist, ließen sich bleibende Defekte verhindern, würden sie nur früh im Kreißsaal entdeckt und behandelt. Das gilt vor allem für Schließmuskelrisse. Wie wenig die Profession indes geneigt ist, akribisch nach diesen zu fahnden, belegt die Statistik: Während die Kliniken in der offiziellen Datenerfassung beim Anteil der Schließmuskelverletzungen meist nur zwei bis drei Prozent einräumen, weiß man aus verlässlichen Studienbeobachtungen, dass eine Rate von zehn Prozent weit eher den Tatsachen entspricht.

Es gibt zudem Risikofaktoren, die zur Vorsicht mahnen. Dazu zählen das Alter der Mutter, das Gewicht des Kindes und nicht zuletzt ein schwaches Bindegewebe, wie es sich zum Beispiel in Cellulitis und Krampfadern zeigt. Fachgesellschaften erachten es infolgedessen für notwendig, mit Schwangeren, die ein Kind von mehr als 4000 Gramm zur Welt bringen werden, oder mit jenen, die älter als 35 Jahre sind, ihr erhöhtes Beckenbodenrisiko zu besprechen, um ihnen die Chance zu geben, über einen Plan B nachdenken zu können.

Dazu muss man wissen, dass Beckenbodenschäden nach einem Kaiserschnitt sehr viel seltener auftreten. Ein Levatorabriss kommt so gut wie nie vor, das Harninkontinenzrisiko ist nach einer Sectio um die Hälfte niedriger. Bei Frauen über 40 wirkt sich dieser Schutz um ein Vielfaches stärker aus.

Dies heißt nicht, dass Risikopatientinnen von vorneherein eine Sectio wählen. Aber nach einfühlsamer Aufklärung ist die werdende Mutter vorbereitet – anstatt heillos überfordert, wenn sie sich in kritischen Situationen im Kreißsaal, von Wehen erschöpft und unter Schmerzen entscheiden soll, ob sie eine Saugglockengeburt riskieren oder doch der Bauchgeburt den Vorzug geben will. Transparenz erzeugt auch bei Schwangeren keine Angst oder Panik, sondern wie in anderen medizinischen Disziplinen bessere Resultate, weil die Patientin souverän ist.

Echte Fürsorge für Schwangere muss mit der Aufklärung über und der Vermeidung von Beckenbodenschäden Ernst machen. Geschädigte Patientinnen benötigen rasch Therapien in Zentren mit ausreichend Expertise. Denn wer Mutter wird, will Frau bleiben.

Die Gastautorin

Als die approbierte Ärztin Dr. Martina Lenzen-Schulte vor rund 30 Jahren ihren ersten Artikel über einen Medizinkongress veröffentlichte, war ihr klar: Noch lieber als Patienten operieren oder im Labor forschen wollte sie darüberschreiben. Inzwischen ist sie „eine der deutschen Ärzteschaft von ihren fundierten Beiträgen im Deutschen Ärzteblatt wohlbekannte Medizinjournalistin“, wie ein Medizinprofessor auf seinem Blog urteilt.

Als Mutter von drei Söhnen empfand sie die Debatten zur „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ nicht immer als ehrlich, auch gab sie in Diskussionen um die Geschäftemacherei bei der künstlichen Befruchtung gern ihren spitzzüngigen Senf dazu. Von da war es nur ein kleiner Umweg bis zu jenen Beobachtungen, die sie gegenüber den Versprechungen der Geburtsmedizin skeptisch werden ließen.

Als schließlich zunehmend mehr Frauen auf sie zukamen (über den Blog www.geburtsrisiken.de), um ihr von den unzureichend behandelten Verletzungen nach Geburten zu berichteten, fasste sie den Entschluss, ihnen eine Stimme zu geben. Daraus ist – flankiert von Studien und Stimmen aus der Wissenschaft – ihr neues Buch „Untenrum offen“ hervorgegangen, das dieses Jahr bei Eden Books erschienen ist. Bild: Sebastian Knoth

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen