MM-Debatte

Warum brauchen wir eine Ost-Quote, Frau Hildebrandt?

30 Jahre nach der Wende sind die Ostdeutschen immer noch benachteiligt, sagt Frauke Hildebrandt. Die Tochter der verstorbenen SPD-Politikerin Regine Hildebrandt streitet für eine Quote bei der Vergabe von Spitzenpositionen – und mehr Gerechtigkeit. Ein Gastbeitrag.

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Frauke Hildebrandt
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Ein Passant geht in Magdeburg an einem aus der Wendezeit stammenden verwitterten Wandbild mit dem Schriftzug „Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost“ vorbei. Ostdeutsche sind in Spitzenpositionen bis heute unterrepräsentiert. © dpa/Andrea Hansen Fotografie

Nachdrücklich an den Anfang gestellt: Freude und große Dankbarkeit über Maueröffnung und Wiedervereinigung empfinde ich bis heute nahezu täglich. Um nichts in aller Welt wünsche ich mir die DDR zurück. Doch dürfen bei aller Genugtuung über die wunderbaren Ereignisse von 1989 nicht die Versäumnisse und Verfehlungen ungenannt bleiben, die diesen folgten und viele Menschen im Osten zutiefst demütigten. Deren Folgen treten erst jetzt wirklich zutage. Aber was genau ist es denn, was da nicht gerecht lief?

Stellen Sie sich vor: Wie der Zufall es will ... Sie leben in der sowjetischen Besatzungszone. Die Teilung 1945 erfolgte so, dass Ihr Wohnort diesem Bereich zufiel und nicht in einer der von den westlichen Alliierten besetzten Zone lag. Aber da leben Sie nun schicksalhaft, und der Preis, Ihre Heimat zu verlassen, erscheint Ihnen hoch, obwohl Sie das ideologische System wenig überzeugend und sehr lästig finden. Sie passen sich an und leben stark eingeschränkt. Sie dürfen nicht reisen und Ihr Wohlstand hält sich in Grenzen. Mit der Bodenreform in den ersten Nachkriegsjahren kommt es zu Enteignungen, nach Gründung der DDR zu Zwangskollektivierungen. Der Besitz wird in sogenanntes „Volkseigentum“ überführt. Das Land muss Reparationen in Höhe von 100 Milliarden Reichsmark an die Sowjetunion zahlen, nicht zu reden von den Demontagen. In den anderen Besatzungszonen geschieht das nicht. Menschen, die dort wohnen, kommen in den Genuss des Marschallplanes (sieben Millliarde Deutsche Mark). Der Wohlstand wächst dort schnell.

Doch Sie leben im Osten – und arrangieren sich wohl oder übel mit vielerlei Unfreiheiten. Nach einigen gescheiterten Protestversuchen gelingt es Ihren Mitbürgern – Sie selbst nehmen die Ereignisse am Rande erfreut zur Kenntnis – das Regime zu stürzen. Vier Jahrzehnte der Bevormundung und Überwachung liegen hinter Ihnen. Sie begrüßen das. Wollen keine weiteren Experimente, sondern möglichst schnell ähnliche Verhältnisse wie im anderen Teil Deutschlands. Dann geschieht folgendes: Das im Besitz der Gesamtbürgerschaft Ihres Landes befindliche Eigentum wird verkauft. Kaufen können natürlich nur die, die auch Geld auf der hohen Kante haben. Aber zu denen gehören Sie natürlich nicht. Woher sollten Sie das Geld auch haben? Und nicht nur Geld haben Sie nicht. Sie kennen auch die Regeln des neuen Systems nicht. Sie stehen ratlos auf dem Spielfeld, wissen nicht, was und wie gespielt wird und wo Sie den finanziellen Einsatz hernehmen sollen.

So kommt es, dass nach 1990 nur fünf Prozent des ostdeutschen Volkseigentums in der Hand Ostdeutscher verblieben. 90 Prozent gelangten in die Hand Westdeutscher. Die Ostdeutschen hatten nach der Wende keine echte wirtschaftliche Mitgestaltungsmöglichkeit im eigenen Land. Und das, obwohl die allermeisten schon vorher die schlechteren Karten hatten. Statt darüber nachzudenken, wie man Ostdeutsche dabei unterstützen könnte, die Geschicke in die eigene Hand zu nehmen und damit anzuerkennen, dass sie unter schwierigsten gesellschaftspolitischen Bedingungen versucht hatten, ihr Leben zu gestalten, wurde ihnen die Verantwortung für den aktuell maroden Zustand vieler Betriebe zugeschrieben: Selbst Schuld, hieß es vielfach aus dem Westen – und wir müssen für euch nun zahlen! So konnte für viele, sehr, sehr viele kein Neustart aus eigener Kraft gelingen. Sozialleistungen in Milliardenhöhe waren nötig, um wenigstens die härtesten Alltagsfolgen zu mildern.

Die Realität 30 Jahre danach sieht deshalb so aus: Ostdeutsche haben nach wie vor deutlich weniger Vermögen, weniger Einkommen, das Land ist flächendeckend deindustrialisiert, die Jungen gehen in den Westen, weil es da die besser bezahlten und höher qualifizierten Jobs gibt, die Chefs im Osten sind in weiten Teilen westdeutsch, 25 Prozent der Bürger wählen rechtsextrem.

Und obwohl die Zahlen überall zu lesen sind, wird geschrieben und gesagt, dass die Menschen in Ostdeutschland sich abgehängt fühlen – und nicht, dass sie tatsächlich abgehängt sind. Auf diese Weise wird unterstellt, die Ostdeutschen hielten sich selber bloß in einer kollektiven Falschvorstellung gefangen – oder zumindest gäbe es keine nachvollziehbaren Gründe für dieserart Gefühlszustand: der ewige Jammerossi.

Mir scheint es, als handele es sich bei der Unterstellung bloßer „Gefühle“, um einen Ausdruck von Realitätsverweigerung – dies allerdings auf Seiten vieler Westdeutscher. Es muss dort offenbar erst einmal zur Kenntnis genommen werden, dass die Situation im Osten heute auch ein Resultat der Ereignisse in den 1990er Jahren ist. Dass damals nicht nur einiges „schiefgelaufen“, sondern vielen Unrecht geschehen ist, versehentlich, fahrlässig oder vorsätzlich – Unrecht jedenfalls, das hineingewirkt hat in das Leben fast aller Familien.

Verstanden werden muss offenbar erst einmal, so kalt es klingt: Wenn sich die Zahlen ändern, dann ändern sich auch die Gefühle. Wir brauchen keinen Pakt der Wertschätzung, wir brauchen Ansiedlung großer Forschungsinstitute, nach 30 Jahren im Osten gleiche Löhne wie im Westen, keine unterschiedlichen Tarifgebiete mehr, Maßnahmen zur Vermögensförderung – wir Ostdeutsche haben schlicht kein Geld, um selbst bei uns zu investieren und zu kaufen. Ferner ganz wichtig: Industrieansiedlungsprogramme, zum Beispiel für Sonderwirtschaftsregionen, sind in die Wege zu leiten. Das innovative Berlin liegt mitten im Osten – da muss doch etwas gehen!

Und vor allem: Noch 30 Jahre nach der Wende ist die Unterrepräsentanz Ostdeutscher auf allen Leitungsebenen, im Bund und in den Ländern, einfach erschreckend. Nur 1,7 Prozent der Führungskräfte in Deutschland sind aus dem Osten, obwohl die Gesamtbevölkerung 17 bis 18 Prozent an Ostdeutschen ausmacht. Lediglich 17 Prozent der Abteilungsleiter in brandenburgischen Ministerien kommen 2019 aus dem Osten, und nur zwölf Prozent der Professoren sind es an der Universität Potsdam. Soweit nur einige Zahlen; 13 Prozent der Richter in Ostdeutschland sind Ostdeutsche. Nur etwa 30 Prozent der Spitzenpositionen der Landesverwaltung in ostdeutschen Ländern sind auch mit Ostdeutschen besetzt. Die Zahlen können beliebig ergänzt werden; auch in den Medien sieht es katastrophal mit der Vertretung Ostdeutscher in Führungspositionen aus. Das ist nicht nur ungerecht, sondern es führt natürlich auch dazu, dass vielen Ostdeutschen tagtäglich immer wieder bewusst wird, nicht hinreichend vertreten zu sein. Und Menschen, die nicht vertreten sind, betrachten sich als nicht zugehörig und erliegen der Gefahr, sich in Teilen aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang zu verabschieden. Das ist soziologisch gut belegt, und wir müssen diesen Effekt im Osten gerade erleben.

Wir wissen, dass die Minderrepräsentanz Ostdeutscher nicht individuelle, sondern strukturelle Ursachen hat: Nach der Wende wurde die Elite im Osten systematisch ersetzt. Das war zum großen Teil berechtigt. Bis heute aber rekrutiert diese neue Elite im Wesentlichen den eigenen Nachwuchs aus den alten Netzwerken. Das kann man deutlich in gehobenen Verwaltungspositionen und auch in der Wissenschaft erkennen. Es gibt 30 Jahre nach der Wende keinen einzigen Universitätspräsidenten aus Ostdeutschland.

Die Eltern im Osten haben berufliche Brüche erlebt. Ostdeutschland wurde in den 1990ern deindustrialisiert und hat sich bis heute nicht davon erholt. Das ist auch nicht in Sicht. Die Eltern raten aus dieser Erfahrung ihren Kindern dazu, sichere Wege zu gehen: Bloß keine Experimente! Und um in Führungsjobs zu kommen, braucht man schon einen Schuss Risikolust.

Und natürlich ist das einst vollmundig propagierte sozialistische Erziehungsziel, die eigenen Interessen und Bedürfnisse denen der Gruppe unterzuordnen, nicht gerade jene Endstation, die man ansteuern würde, wenn man Führungskräfte für unsere heutige Gesellschaft großziehen wollte. Der böse Witz, den viele kennen, macht das klar: „Warum gibt es im Westen das Abitur nach 13 Schuljahren (das war ja bis vor Kurzem so) und im Osten schon nach zwölf? Weil ein Jahr Schauspielunterricht dabei ist.“ Solche Prägungen transportieren sich über Generationen fort.

Hinzu kommt, dass der Habitus des westdeutschen Führungspersonals und dessen Konvention extrem „feingetunt“ ist. Da fällt es auf, wenn man nicht von früh an in den Stil hineingewachsen ist. Und es ist klar, vielfach bekommen die wichtigen Jobs dann eher Personen, die den Kerntruppen, die Führungspositionen vergeben, also Westdeutschen, vertraut sind und mithin berechenbarer erscheinen. Es fehlen daher ganz einfach auch ostdeutsche Vorbilder in Führungspositionen.

Diesen strukturellen Nachteilen muss man strukturell begegnen, sonst lassen sie sich nicht beseitigen. Eine relative Quote könnte helfen, ein Anteil also, für den beispielsweise bundesweit festgeschrieben wird, dass bei gleicher Eignung Führungsjobs an ostdeutsche Bewerberinnen oder Bewerber gehen, so lange, bis sie zu 17 Prozent Berücksichtigung finden. Als ostdeutsch würde nach unserer Definition eine Person gelten, die in Ostdeutschland zur Schule gegangen ist oder zur Schule geht.

Ostdeutsche müssen endlich angemessen vertreten sein. Das ist nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit, sondern schlicht politisches Gebot, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserem Land für längere Zeit zu wahren.

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Frauke Hildebrandt



  • Frauke Hildebrandt, Jahrgang 1969, ist Vorsitzende der Ostkommission der SPD in Brandenburg und Professorin für Frühkindliche Bildungsforschung an der Fachhochschule Potsdam.
  • Als Tochter der 2001 verstorbenen Sozialministerin Regine Hildebrandt setzt sie sich für die Einführung einer deutschlandweiten Ostquote in Führungspositionen ein. Im frisch ausgehandelten Koalitonsvertrag hat sich auf Anregung der Ostkommission die zukünftige Brandenburger Regierung dazu verpflichtet, die Repräsentationslücke im Landesdienst zu schließen.

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