Keine Menge Alkohol ist gut. Nein, nicht einmal ein bisschen zum Abendessen. Hat die Deutsche Gesellschaft für Ernährung neulich offiziell klargestellt. Bislang lautete die Gesundheitsempfehlung: Nicht rauchen, weniger Alkohol trinken. Dass es vorstellbar, sogar ratsam wäre, einfach überhaupt nicht zu trinken - undenkbar! Nun hat sogar unser Gesundheitsminister eingelenkt, der bis vor Kurzem noch den vielfach widerlegten Mythos von diesem einen, ominösen Glas Wein, das ja angeblich so gut fürs Herz sein soll, nacherzählt hat.
Als eine von vielen Ex-Trinkerinnen, die es seltsamerweise nie geschafft hat, es bei diesem ominösen einen Glas Wein zu belassen, kenne ich die Alkohol-Debatte in- und auswendig. Ich kann sie dir vorwärts und rückwärts vorsingen, wenn du mich nachts um drei aufweckst, denn diese Debatte hat sich jahrelang in meinem eigenen, abhängigen Kopf abgespult, wann immer ich rational über meinen Konsum nachzudenken versuchte.
Über die Gastautorin
- Mia ist die jüngste Tochter in einer langen Dynastie von Trinkenden. Auch sie selbst liebt Rotwein, aber so schlimm wie bei ihrer verrückten Oma und ihrem rätselhaften Vater, die sich mit dem Trinken umgebracht haben, ist es bei ihr noch lange nicht, denkt sie.
- Bei der Arbeit als Barkeeperin im Berliner Nachtleben lernt sie, zu trinken. Als es Zeit ist erwachsen zu werden, befreit sie sich von der toxischen Beziehung, dem Nachtleben und dem Liebesrausch. Das Trinken aber bleibt.
- Mit Anfang Dreißig scheint ihr Leben in die richtige Richtung zu gehen. Trotzdem hängt eine dunkle Wolke über ihr und sie spürt, dass das mit dem Alkohol zu tun hat. Nach dem tausendsten Kater findet sie sich bei den Anonymen Alkoholikern wieder und sagt: „Hi, ich bin Mia - ich bin Alkoholikerin.“
- Mias Gatow lebt als Freie Autorin in Berlin und hat nun ihr Buch „Rausch und Klarheit“ (256 Seiten, erschienen im Goldmann Verlag) veröffentlicht. Darin verwebt die Autorin ihre eigene Abhängigkeitsgeschichte mit einer gesellschaftlichen Analyse des Trinkens.
Auf kollektiver Ebene läuft die Debatte nach exakt dem gleichen Muster ab. Sie wird genauso regelmäßig wiederholt. Sie folgt den gleichen Argumentationsketten und wird mit der gleichen Emotionalität geführt. Ich bin mittlerweile überzeugt: Die Deutschen sind alle miteinander psychisch abhängig von Alkohol. Denn im Kern der Debatte liegt der unauflösbare Grundkonflikt einer jeden psychischen Abhängigkeit: Wir wollen unbedingt trinken. Nur eben anders. Besser.
Das Für un Wider des Trinkens
Viele Trinker:innen kennen den Konflikt. Die eine Stimme sagt: Wir sollten jetzt wirklich mal ein bisschen weniger trinken. Mal detoxen. Mal vernünftig sein. Es ist so teuer. Und so ungesund. Es war auch wirklich schon wieder ganz schön viel in letzter Zeit. Die Kater werden schlimmer mit dem Alter. Diese depressive Verstimmung lichtet sich kaum noch. Wir beschließen, Sober October zu machen. Mal ne Pause. Wenn das klappt, dann heißt das: Wir haben kein Problem. Denn hätten wir eins, dann könnten wir ja nicht so lange verzichten.
Die andere Stimme wendet ein: Aber meine Güte, wir müssen ja nicht gleich radikal werden! Wir haben uns schließlich ein bisschen Spaß verdient! So jung kommen wir nicht mehr zusammen! Und es ist ja auch ein Kulturgut! Eine Tradition! Menschen haben sich ja schließlich immer schon berauscht! Und irgendein Laster braucht man ja auch! Und wo kämen wir denn da hin, wenn alles plötzlich von spaßfeindlichen Selbstoptimierern reguliert wird. Es kann ja nicht nur immer um Leistung gehen, es muss ja auch noch Raum für Genuss sein!
Letzten Endes läuft es immer auf einen Kompromiss hinaus: Okay, wir trinken. Aber kontrolliert. Dazu gibt es einen allseits bekannten, sozial akzeptierten Regelkatalog, mit dem wir unseren Konsum einzuhegen versuchen: Nicht morgens. Nicht alleine. Nicht jeden Tag. Nicht wirkungsorientiert.
Wir halten hartnäckig an der Idee fest, ein Glas Wein nach 17 Uhr in Gesellschaft, weil man etwas zu feiern hat, sei weniger schädlich als ein Glas Wein alleine um 14 Uhr, weil man traurig ist. Dabei ist es natürlich in beiden Fällen die exakt gleiche Substanz mit exakt den gleichen Effekten. Aber wenn es um Alkohol geht, neigen wir zum Aberglauben.
Wir sind überzeugt davon, dass nicht die Wirkweise der Droge, sondern wir selbst - unser Charakter, unsere Haltung, unsere Trinkgründe, unsere Umstände - irgendwie auf magische Weise die Folgen beeinflussen, die der Alkoholkonsum für uns hat. Wir denken, dass man nur abhängig wird, wenn man beim Trinken irgendwas falsch macht. Und solange wir es richtig machen, also „verantwortungsvoll genießen“, wie es auf den Werbeplakaten heißt, sind wir safe.
Wir wissen: Alkohol macht krank - kranker als die meisten anderen legalen und illegalen Drogen. Aber eben nicht uns. Wir wissen: Alkohol macht abhängig. Aber eben nicht uns. Alkoholiker sind immer die anderen.
Wo die Abhängigkeit beginnt
Eins der großen Missverständnisse über die Sucht ist die fiktive Grenze zwischen körperlicher und psychischer Abhängigkeit, und die Idee, dass nur körperliche Abhängigkeit ein Problem ist. Aber Abhängigkeit beginnt nicht erst da, wo man nicht mehr ohne Alkohol kann. Abhängigkeit beginnt da, wo man nicht mehr ohne Alkohol will.
Abhängigkeit beginnt, wenn man sich ein normales Leben ohne die Substanz nicht mehr vorstellen kann. Wenn man Angst hat, die Substanz loszulassen, weil man glaubt, das Leben wäre dann nicht vollständig. Wenn man anfängt, die Substanz mit abstrakten Konzepten in Verbindung zu bringen, die rein gar nichts mit ihr zu tun haben: Geselligkeit, Freundschaft, Spaß, Romantik, Rebellion, Tradition, Emanzipation, Kreativität, Weltgewandtheit, Gemeinschaft, Freiheit, Liebe. Als ich noch trank, glaubte ich, sehr viele dieser Dinge stünden mir ohne Alkohol nicht mehr zur Verfügung. Das Trinken war zu einer Identitätsfrage geworden.
Auch gesamtgesellschaftlich ist unsere Identität untrennbar mit dem Trinken verwoben. Als beispielsweise die Bundesregierung 2022 mal wieder diskutierte, das Alkoholmarketing beim professionellen Fussball einzuschränken, reagierten Lobby und Industrievertreter mit an Panik grenzender Besorgtheit: ganz so, als stünde ein Verbot des Fussballs selbst unmittelbar bevor.
Das ist der größte Triumph der Industrie: Sie hat es geschafft, die Substanz so eng mit unserem Grundbedürfnis nach Zugehörigkeit zu verknüpfen, dass wir überzeugt sind, in der Abstinenz verlieren wir viel mehr als den Drink. Diese Angst ist real. Ich kenne sie gut.
Ich bin seit sieben Jahren fertig mit dem Trinken und sitze mit einer Kirschsaftschorle auf Eis an der Seitenlinie, im kleinen Camp der Nüchternen, verfolge, wie die öffentliche Debatte immer gleichen Schleifen dreht. Ich sehe die Weinliebhaberinnen ihren Genuss verteidigen wie den heiligen Gral. Ich sehe die Alkohollobby Selbstverantwortung predigen. Ich schaue zu, wie die Konservativen ihr Trinken als Tradition verherrlichen und die Linken ihr Trinken als Rebellion romantisieren. Ich schaue zu, wie Ärztinnen und Therapeuten das Trinken verharmlosen, weil sie es selbst so gerne machen.
Immer wieder kommen Fremde auf mich zu, wenn sie mitkriegen, dass ich nicht trinke und wollen Absolution: Sie wollen wissen, wie viel ich getrunken habe. Sie wollen die unsichtbare Linie finden, die sie nicht überschreiten dürfen. Die Linie in die Gefahrenzone. Diese geheimnisvolle Linie habe auch ich früher unermüdlich gesucht.
Aber ich muss sie enttäuschen. Die magische Linie gibt es nicht. Es gibt nicht zwei Sorten Alkohol und es gibt nicht zwei Sorten Trinkerin. Egal, zu welcher Uhrzeit, zu welcher Gelegenheit, in wessen Gesellschaft oder aus welchem Grund du auch immer trinkst: Es gibt keine Sicherheitszone. Es gibt keine Sonderregeln. Für niemanden.
Ich selbst habe mich nach tausend gebrochenen Trinkregeln und einer Million Katern irgendwann einfach sehr gelangweilt. Von mir selbst, von meinem eigenen Bullshit und von dem immer gleichen dummen Spiel, in dem es immer weniger zu gewinnen gab. Ich wollte mich nicht mehr wiederholen. Und so habe ich das Undenkbare getan: Ich habe aufgehört zu spielen. Komplett und für immer. Und Überraschung: Ich habe dabei überhaupt nichts verloren.
Was ich gewonnen habe, ist Selbstvertrauen, Resilienz, Souveränität. Unabhängigkeit eben. Und Optimismus, was unsere kollektive Alkoholabhängigkeit betrifft. Wenn nämlich die einzelne Trinkerin es schafft, sich vom Drink freizumachen, dann können wir das als Gesellschaft auch.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/meinung/debatte_artikel,-debatte-sind-die-deutschen-psychisch-von-alkohol-abhaengig-frau-gatow-_arid,2267435.html