Debatte

Haben wir in Deutschland ein Wertschätzungsproblem, Herr Korndörffer?

Viele Menschen in Führungspositionen müssen lernen, Emotionen zu zeigen und Nähe zuzulassen. Dann wäre es für sie leichter, andere für sich zu begeistern – sei es in einem Unternehmen oder in der Politik. Ein Gastbeitrag

Von 
Sven Korndörffer
Lesedauer: 
Wer seine Mitarbeiter oder Wähler für seine Ideen begeistern will, sollte Wertschätzung und Emotionen zeigen, sagt unser Gastautor Sven Korndörffer. © istock

Mannheim. Wenn Menschen etwas wirklich wichtig ist, dann ist es zwangsläufig an starke Emotionen geknüpft. Das gilt etwa für Entwicklungsthemen mit dem eigenen Vorgesetzten, für Gesellschaftsthemen wie Zuwanderung und für Zukunftsthemen in der Wirtschaft wie die Elektromobilität: Wenn uns etwas bewegt, wollen wir damit emotional bei anderen andocken – ganz besonders bei denen, die wir in der Verantwortung für solche diese Themen sehen.

Wenn wir spüren, dass diese Menschen unsere Hoffnungen, ganz besonders aber auch unsere Nöte, sehen und ernstnehmen, sind wir gern bereit, ihnen zu folgen – im Zweifel leider auch in die falsche Richtung. Deshalb ist es so wichtig, dass Führende mit guten Absichten das emotionale Spektrum ihrer Aufgabe zu bedienen wissen: ein Minister genauso wie ein Abteilungsleiter oder ein Jugendtrainer. Kurz: Führung muss man nicht nur messen können, sondern auch fühlen.

Deshalb ist in meinen Augen Priorität Nummer eins in der Führung vollkommen klar: Menschen in Führung haben die Pflicht, Wertschätzung zu zeigen, damit ihnen überhaupt jemand zuhört – geschweige denn in die Zukunft folgt. Das bedeutet, sie müssen empathisch, empfänglich, aufmerksam dafür sein, was die Menschen in ihrem Verantwortungsbereich bewegt, ob es nun 8 oder 80 Millionen sind. Wertschätzung bildet Vertrauen, Vertrauen begründet Führung, Führung erzeugt Stabilität, Stabilität ermöglicht Innovation, Innovation sichert Zukunft – und wird mit Wertschätzung für die Führung honoriert. Das ist die Wertschätzungskette der Führung. Wertschätzung ist das Glied, das die Kette schließt; alles in der Führung beginnt und endet mit ihr. Deshalb können wir uns Führende ohne Emotion und Empathie nicht leisten – besonders nicht in Zeiten wie diesen.

Der Gastautor

  • Sven H. Korndörffer blickt auf fast drei Jahrzehnte in der Bankenbranche zurück. Zuletzt war er Bereichsvorstand für die Konzernkommunikation bei der Commerzbank.
  • In seinen vorherigen beruflichen Stationen verantwortete er die Kommunikation bei der Aareal Bank Gruppe und war Leiter des Vorstandsstabs der Norddeutschen Landesbank.
  • Außerdem ist Korndörffer seit 2005 Vorsitzender des Vorstands der „Wertekommission – Initiative Werte Bewusste Führung in Deutschland.
  • Sein Buch „Die Wertschätzungskette – Warum wir uns Chefs ohne Empathie nicht leisten können“ ist im Econ Verlag erschienen.

 

Ein Grund für das beklagte Wertschätzungsvakuum seitens unserer Führenden – allen voran Manager und Politiker – ist in meinen Augen die seltsame künstliche Trennung zwischen Amt und Person, die wir in Deutschland fast selbstverständlich praktizieren. Für viele Bundespolitiker und DAX-CEOs ist es vollkommen selbstverständlich geworden, sich als Führungs-Androiden zu inszenieren. Unter keinen Umständen wollen sie als fühlende Wesen wahrgenommen werden. Und dann wundern wir uns, warum ausgerechnet Ego-Shooter wie Elon Musk oder Donald Trump so viel Resonanz bekommen: Wir überlassen die emotionale Versorgung der Menschen den Egomanen und Populisten.

Wird ein deutscher Manager oder Regierender in einen Skandal verwickelt, will keiner etwas gewusst haben, geschweige denn verantwortlich gewesen sein – während die sogenannten Charismatiker sogar ihre Niederlagen noch emotional auszuschlachten wissen.

Im Gegensatz zu früher gibt es heute zu viele Politiker, die sich allein auf den politischen Kontext ihrer Aufgabe berufen – und zu viele Vorgesetzte, die Wirtschaft für ein isoliertes Universum halten. Die Vertreter beider Gruppen haben verlernt, über den Tellerrand zu schauen. Das ist der Grund, warum Führung manchmal jeglicher Wertebasis zu entbehren scheint: Viele „Vollblut-Manager“ oder „Machtpolitiker“ betrachten ihren Job als Selbstzweck, der keiner größeren Sache oder dem Gemeinwohl dient, sondern isolierten Interessen, die womöglich auch noch ständig wechseln. Dieser Definitionsfehler ist es, der zum dramatischen Ansehensverlust von Führenden überhaupt geführt hat. Kurzsichtige politische Kampagnen satteln darauf auf und verschärfen diese Entwicklung noch. Die Autorität der Führung erodiert von innen und von außen. Die Profiteure dieser Entwicklung sind Opportunisten und Populisten, die dem Verlangen der Menschen nach spürbarer Führung nachkommen. Nur haben die ihr eigenes Verständnis davon, was Autorität bedeutet.

Wie wirkungsvoll Wertschätzung in der Führung sein kann, zeigen zum Beispiel die emotionalen Leuchttürme in der deutschen Unternehmenslandschaft. Es gibt Leitfiguren an der Spitze von Unternehmen, die Gefühle nicht nur zulassen, sondern zeigen und aktiv vorleben – und zwar durch Nähe.

Starke Führungsfiguren haben keine Angst vor ihren eigenen Emotionen. Schon gar nicht befürchten sie, dass ihre Gefühle ihnen als Schwäche ausgelegt werden könnten. Sie bauen im Gegenteil ganz bewusst auf ihre emotionale Ausstrahlung – weil sie wissen, dass nur Emotionen Menschen mitreißen können.

Mehr zum Thema

Debatte

Warum hat die Regierung bei der Regelung der Sterbehilfe versagt, Herr Hartung?

Veröffentlicht
Von
Roland Hartung
Mehr erfahren
MM-Debatte

Woher kommt die Waffen-Affinität vieler Amerikaner, Herr Landwehr?

Veröffentlicht
Von
Arthur Landwehr
Mehr erfahren
Debatte

Sollten Handys in der Schule verbotenwerden, Frau Glöckle?

Veröffentlicht
Von
Stephanie Glöckle
Mehr erfahren

Ein Beispiel für eine solche Kultur erlebte ich bei einer Veranstaltung der Wertekommission in Hamburg. Dort kam ich vor Beginn der Veranstaltung mit einem Techniker der Otto Group ins Gespräch, in deren Räumlichkeiten das Forum stattfand. Nach einigen Minuten Gespräch war ich restlos begeistert: Der junge Mann konnte mir im Detail und mit ansteckendem Enthusiasmus erläutern, wo die Otto Group ihre Zukunft sieht, welche Maßnahmen die Führung auf diesem Weg ergriffen hatte und welchen Beitrag die einzelnen Unternehmensteile dazu leisteten. Er war dabei so überzeugend, dass ich mich später bei meinem Vortrag auf ihn bezog: „Bisher standen zwei Menschen an diesem Abend synonym für Otto: der Vorstandsvorsitzende Alexander Birken und Thomas Voigt, Group Vice President Corporate Communication. Heute möchte ich noch jemandem zurufen: Du bist Otto. Sein Beispiel beweist, dass die Führung hier wirklich funktioniert.“

Wenn Führende erkennen, wie wichtig es ist, sich den Menschen zu erklären und sie emotional mitzunehmen, steigert das die Bindung und den Leistungswillen mehr als jedes mikroskopische Lohnplus. Der emotionale Anteil von Führung ist unermesslich. Im Alltag aber beschränkt sie sich meist auf das Messbare: Benchmarks, Prozesse, Meeting-Protokolle.

Es braucht nur eines, damit Führung fühlbar wird und die Menschen mit positiven, motivierenden Emotionen erfüllt: Nähe. Nähe ist nichts anderes als empfundene Wertschätzung für den Anderen.

So einfach wäre es, wenn es in Wahrheit nicht so schwierig wäre. Denn nichts, aber auch gar nichts in der Führung braucht mehr Mut als Nähe. An die Frage nach dem „Was“ schließt sich immer die Frage nach dem „Wie“ an: Wie viel Nähe braucht die Führung, und wie nahe ist zu nah? Es ist diese Frage, die dazu führt, dass viele Führende lieber abstumpfen als Gefühle zuzulassen. Emotionale Führung ist wirkungsvoller – aber auch anspruchsvoller. Distanz ist einfach, Nähe ist schwer.

Wir müssen in Deutschland endlich wieder verstehen, dass Führung sich nicht in der fehlerfreien Ausübung eines Verwaltungsakts erschöpft. Führung heißt auch dafür sorgen, dass Menschen emotional andocken können – und damit verhindern, dass sie ihre Loyalität dem Falschen schenken. Wertschätzung sorgt nicht nur dafür, dass Führung tatsächlich funktioniert und ihren Auftrag erfüllen kann. Sie weist Menschen den Weg zu ihrem Platz in der Welt, stiftet also Identität.

Solange unsere Führenden – in welchem Gesellschaftsbereich auch immer – das nicht zur Umsetzung bringen, können wir uns in Deutschland die Köpfe über die drängenden Fragen unserer Zeit heiß diskutieren, wie wir wollen; wir werden nie über Patchwork-Policys hinauskommen. Commitment entsteht nur auf der Basis von gegenseitiger Wertschätzung: zeigen, dass man verstanden hat und sich verantwortlich fühlt. Die deutsche Führungslücke lässt sich nur mit Wertschätzung schließen. Freiwillige vor!

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen