Mit dem am 6. November 2015 verabschiedeten Gesetz zum Verbot geschäftsmäßiger Förderung der Selbsttötung hat der Bundestag die kontrovers geführte Debatte in den Mittelpunkt der öffentlichen Auseinandersetzung gerückt: Darf ein Mensch selbstbestimmt und bei klarem Verstand seinem Leben ein Ende setzen und hierzu Hilfe Dritter in Anspruch nehmen? Diese Frage rührt an ethische, moralische und religiöse Überzeugungen, die in einer demokratischen Gesellschaft selbstverständlich individuell beantwortet werden. Es geht um die unverletzliche Autonomie des Menschen, sein Leben im Rahmen der Verfassung nach seinen eigenen Vorstellungen zu führen, wobei er sich engere Grenzen setzen kann, andere Vorstellungen aber tolerieren muss.
Der Staat hat die Verpflichtung, die Voraussetzungen zu schaffen, dass die Bürgerinnen und Bürger ihr Leben in Sicherheit verbringen können, wozu selbstverständlich auch schützende, aber nicht bevormundende Präventionsmaßnahmen gehören. Für dieses Spannungsfeld gibt es keine Rezepte. Der Kontingenz des Lebens sind wir alle ausgesetzt.
"Darf ein Mensch seinem Leben ein Ende setzen und hierzu Hilfe Dritter in Anspruch nehmen?"
Am Freitag, 6. November 2015, kam der Bundestag zu einer Plenarsitzung im Reichstag zusammen. Zentraler Punkt war die Verabschiedung eines Gesetzentwurfs zum assistierten Suizid. Zur Entscheidung lagen interfraktionell vier Entwürfe vor, die vom Verbot jeglicher Beihilfe zu einem Suizid bis zur Erlaubnis der Suizidhilfe auch durch nicht medizinisches Personal und Vereine ging.
Die meisten Unterstützer fand der Antrag von Abgeordneten der CDU, SPD, Grünen und Linken eingebracht worden war und folgende Änderung des Strafgesetzbuches in Paragraf 217 vorsah: „Wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“
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Die Antragsteller wollten dem „falschen Anschein von Normalität“ durch Suizidhilfe entgegentreten. Es dürfe niemand an seinem Lebensende die Furcht haben müssen, anderen zur Last zu fallen und sich deshalb genötigt fühlen, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. Es müsse verhindert werden, dass Sterbehilfe zu einer normalen Dienstleistung werde. Wolle jemand sein Leben beenden, gäbe es keine staatliche Pflicht, dafür einen rechtlichen Rahmen zu schaffen. Die Antragsteller konzedierten allerdings, dass eine passive Sterbehilfe erlaubt und ein Behandlungsabbruch möglich sei, was sowohl durch Unterlassen, als auch durch aktives Tun geschehen könne.
Dieser Antrag wurde nach eingehender Debatte vom Bundestag mit 360 Stimmen angenommen, bei 233 Gegenstimmen und neun Enthaltungen. In Kraft getreten ist das Gesetz am 9. Dezember 2015. Sofort danach wurde von 18 Personen und Organisationen Verfassungsbeschwerde eingelegt. Das Gericht kam zu folgendem Urteil: Das Gesetz verletze die Beschwerdeführer in ihren aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht abzuleitenden Recht auf selbstbestimmtes Sterben.
"Dieser existenziellen Frage wird in der Diskussion ausgewichen - aber sie erfordert eine Antwort"
Ein Kernsatz des Urteils lautet: Die Würde des Menschen ist folglich nicht Grenze der Selbstbestimmung der Person, sondern ihr Grund. Diese Würde komme dadurch zum Ausdruck, dass er seine Existenz nach eigenen selbstgesetzten Maßstäben bestimmen könne. Paragraf 217 mache es unmöglich, geschäftsmäßig Suizidhilfe in Anspruch zu nehmen.
Das Gericht führt aber wörtlich aus: „Dem Einzelnen muss die Freiheit verbleiben, auf die Erhaltung des Lebens zielende Angebote auszuschlagen und ein seinem Verständnis von Sinnhaftigkeit seiner eigenen Existenz entspringende Entscheidung, das eigene Leben mit Hilfe bereitstehender Dritter zu beenden, umzusetzen.“
Am 6. Juli 2023 kam der Bundestag für eine Entscheidung zusammen, um ein Sterbehilfegesetz zu beschließen. Zwei fraktionsübergreifende Entwürfe standen zur Abstimmung. Ein Entwurf sah über den neuen Paragrafen 217 hohe Hürden für das Recht auf selbstbestimmtes Sterben vor. Der andere Entwurf nahm die Sterbehilfe aus dem Strafrecht und setzte auf ein breites Beratungsgesetz. Beide Entwürfe wollten das Betäubungsmittelgesetz novellieren, beide Entwürfe scheiterten. Sie hatten Beratungsstrukturen vorgesehen, wo Zweifel angebracht sind, ob unser Gesundheitssystem dies leisten könnte.
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Der Gesetzgeber kann sich nämlich mit solchen Gesetzen einen schlanken Fuß machen und Maßnahmen beschließen, die möglicherweise in der Realität nicht oder nur teilweise umsetzbar sind – siehe Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz.
Eine staatlich vorzuschaltende Suizidprävention muss aber mit den vorhandenen Strukturen zurechtkommen, sollte jederzeit und niederschwellig zugänglich sein, fachlich überall verfügbar und nach meiner Meinung vor allem die Möglichkeiten der Sozialverbände nutzen.
Da beide Entwürfe scheiterten, sind aber auch durch das Urteil des Verfassungsgerichts notwendige Änderungen an anderen Gesetzen unterblieben, dies gilt vor allem für das Betäubungsmittelgesetz.
Was tun, wenn schwerkranke Menschen wünschen, zu sterben? Dieser existenziellen Frage wird in der öffentlichen Diskussion nach Möglichkeit ausgewichen – aber sie erfordert eine Antwort der Gesellschaft.
Die Patientenverfügung ist Ausdruck des verfassungsrechtlich verbürgten Selbstbestimmungsrechts eines Menschen. Die von einer Person im Voraus festgelegten Weisungen für einen eintretenden Krankheitsfall sind für das medizinische Personal bindend. Dies gilt für den Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen und für den Behandlungsabbruch, der sowohl durch aktives Tun – Abschalten des Beatmungsgeräts und Beendigung der künstlichen Ernährung – als auch durch Unterlassen weiterer medizinischer Maßnahmen geschehen kann. Mir scheint diese gesetzliche Regelung in einem merkwürdigen Widerspruch zu der so erbittert geführten Diskussion über die Beratungspflichten eines möglichen Suizidenten zu stehen.
"Warum scheitert der Gesetzgeber bei der Regelung dieses wichtigen Sachverhaltes?"
Die ungeklärte Rechtslage wurde durch eine Entscheidung des BGH vom 28. Juni 2022 weiter zugespitzt. Der Fall: Ein Mann litt an Problemen seiner Wirbelsäule und an Diabetes. Sein sich verschlechternder Zustand zwang ihn zur Einnahme stärkerer Schmerzmittel. Seine Frau pflegt ihn zu Hause. Im Jahr 2019 verschlimmerte sich sein Zustand zur Unerträglichkeit. Nach der damals geltenden Rechtslage gab es keine fachliche Begleitung zu einem Suizid. Er bat seine Frau, ihm alle verfügbaren Schmerzmittel zu geben und eine Überdosis Insulin zu spitzen, weil er es selbst nicht mehr konnte. Seine Frau tat es und ihr Mann verstarb. Sie wurde in zwei Instanzen wegen Tötung auf Verlangen verurteilt. Der BGH hob die Urteile auf und sprach die Frau frei. Er entschied, dass der Sterbewillige seine Tatherrschaft auch dann behalte, wenn er sich in fremde Hände begebe, aber ihm die Freiheit verbleibe, sich den todbringenden Anwendungen zu entziehen. Das sei hier der Fall gewesen. Die Auswirkungen dieser Entscheidungen auf die Vorschrift der Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen ist nicht absehbar.
Als würde die bisher geschilderte Rechtsunsicherheit nicht schon an die Grenze der Erträglichkeit gehen, hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts mit seinem Urteil vom 7. November 2023 diese Lage weiter verschärft. Dort klagten sieben schwerkranke Menschen um die Herausgabe von Natrium-Pentobarbital, weil die zuständige Bundesbehörde in Bonn diese Freigabe verweigert hatte. In 3. Instanz blieben nur noch zwei Männer übrig, die anderen waren bereits verstorben, zwei durch Suizid. Das Gericht kam zur Auffassung, dass die Anwendung von Natrium-Pentobarbital sehr einfach, in geringen Mengen und in der Wirkung tödlich sei, so dass davon Gefahren für Leben und Gesundheit der Bevölkerung ausgingen und auch Missbrauch möglich sei, was die Nichteröffnung des Zugangs zu diesem Mittel rechtfertige.
Dem Suizidenten sei zumutbar, sich andere Mittel verschreiben zu lassen, die das gewünschte Ergebnis erbringen, wenn dies allerdings nur durch Einnahme größerer Mengen und mit ärztlicher Hilfe geschehen könne.
Man kommt an dem Sarkasmus nicht vorbei, dass der Zugang zu einem tödlichen Mittel zu einem Mengenproblem geworden ist: Kleine wirksame Mengen sind rechtswidrig, größere Mengen rechtmäßig.
Aus dem Bundestag hört man, dass man wahrscheinlich in dieser Wahlperiode dieses Thema nicht mehr anfassen wolle. Ich sehe darin ein legislatorisches Staatsversagen.
Wie steht es mit dem ersten Satz unseres Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Dieser unantastbaren Würde entspringt seine Autonomie. Sie zu schützen, sie zu respektieren, ihr helfend, aber nicht bevormundend, zur Seite zu stehen und die dieser Würde entspringenden Entscheidungen eines Menschen zu akzeptieren, ist Pflicht des Staates. Warum scheitert der Gesetzgeber bei der Regelung dieses wichtigen Sachverhaltes? Lassen Sie mich schließen mit dem Anruf von Rainer Maria Rilke: O Herr, gib jedem seinen eignen Tod. Das Sterben, das aus jenem Leben geht, darin er Liebe hatte, Sinn und Not.
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