Es ist einer dieser schönen, sonnigen Samstage im ländlichen Osten Virginias. Im dunstigen Hintergrund die Blue Ridge Mountains, die ihrem Namen alle Ehre machen. Der Parkplatz vor der riesigen Messehalle des Orts füllt sich schnell, viele Pickup Trucks und SUVs. Am Eingang bilden sich Schlangen, manche sind weit zur „Gun Show“ gefahren, die an diesem Wochenende hier Station macht.
Waffen jeder Art – vom Messer über Pistolen und Jagdgewehre bis zu halb automatischen, militärischen Maschinenpistolen nachempfundene Sturmgewehre und Munition – umfasst das Angebot. Aber auch Zielscheiben, Jagdwesten oder T-Shirts mit Slogans gegen Waffenverbote kann man hier kaufen. Die Stimmung ähnelt der von Caravan-Ausstellungen oder Sammlerbörsen für Modelleisenbahnen anderswo. Man fasst an, was man sich niemals leisten kann, freut sich, mit anderen fachsimpeln zu können.
Der Gastautor
- Arthur Landwehr, geboren 1958, war von 1999 bis 2006 und von 2018 bis 2022 ARD-Hörfunk-Korrespondent in Washington, D.C.
- Von 2006 bis 2018 war er Hörfunk- Chefredakteur des Südwestrundfunks. Während seiner USA-Aufenthalte hat er die gesellschaftliche Entwicklung der USA in den Amtszeiten von Clinton, Bush, Trump und Biden intensiv journalistisch begleitet.
- Er ist Autor des Buchs „Die zerrissenen Staaten von Amerika. Alte Mythen und neue Werte – ein Land kämpft um seine Identität“
Viele kaufen bei den fahrenden Händlern, die Woche für Woche woanders im Land die tiefe Sehnsucht vieler Amerikaner nach einer eigenen Waffe befriedigen. Sie entscheiden sich vielleicht für einen neuen Revolver, Ersatz für das altgewordene Sportgewehr, oder einfach nur eine besonders schön gestaltete Pistole, auf die man stolz sein kann.
„Dass ich hier und jetzt eine Waffe kaufen kann, das ist Teil unserer amerikanischen Freiheit. Diese Pistolen und Gewehre stehen für das, wer wir sind“, sagt Allen, der extra aus dem Süden des Bundesstaates hergefahren ist. „Das ist ein ganz typischer Satz, den wir immer wieder von Waffenbesitzern hören“, so Juliana Horowitz vom Pew Research Center in Washington, DC. Sie hat die Beziehung der Amerikaner zu Waffen untersucht und unterstreicht, dass Pistole oder Gewehr für viele weitaus mehr bedeuten als ein Gegenstand: „Die Waffe definiert die Menschen, sie ist für etwa die Hälfte der Befragten ein Teil ihrer Identität, wie sie sich selbst definieren“.
"Dass ich hier und jetzt eine Waffe kaufen kann, das ist Teil unserer amerikanischen Freiheit"
Man sollte besser kontrollieren, wer eine Waffe kaufen darf, sagt eine knappe Mehrheit der Amerikaner, aber eine Mehrheit verteidigt eben auch Waffenbesitz als verfassungsmäßiges Grundrecht, ihnen das Gewehr zu nehmen, hieße, ein Stück Seele aus dem Leib zu reißen. Eine Waffe zu besitzen, verbindet Menschen emotional mit der Geschichte ihrer Nation, macht sie zum aktiven Teil des großen Freiheitsexperiments Amerika.
Dazu passt ein Satz der Theologin Karen Swallow Prior aus North Carolina: „Für mich als Christin bedeutet eine Waffe zu tragen, meine Verantwortung für Gottes Schöpfung wahrzunehmen“. Diese Haltung ist unter christlichen Gemeinden umstritten, von denen die meisten am Pazifismus-Gebot festhalten, aber evangelikale Protestanten gehören zu den entschiedensten Gegnern jeder Einschränkung von Waffenbesitz.
Das Thema ist hoch politisch und keine Kandidatin, kein Kandidat für ein politisches Amt in den USA kommt darum herum, sich in diesem Teil des Kulturkampfes um die traditionellen Werte Amerikas zu positionieren. Dies trotz Dutzender Amokläufe, trotz mehr als 40 000 Tote durch Schusswaffen jedes Jahr.
"In einem Land, das ohne staatliche Ordnung besiedelt wurde, konnte nur überleben, wer ein Gewehr hatte"
Etwa 30 Prozent der erwachsenen Amerikaner besitzen mindestens eine Schusswaffe. Insgesamt sind es über 400 Millionen, die sich in Nachtischschubladen, Handtaschen oder weggeschlossen in Waffenschränken befinden – bei 320 Millionen Einwohnern insgesamt. In den 2000er Jahren ging die Zahl der Pistolen und Gewehre leicht zurück, während der Pandemie 2020 und 2021 schoss ihr Verkauf dann wieder in die Höhe. Insgesamt 40 Millionen von ihnen gingen damals über die Ladentheke, Amerika bewaffnete sich für den möglichen Kampf ums Überleben.
Als Europäer ist man schnell bei der Hand, Amerikaner für ihre vielen privaten Waffen zu verurteilen, es für verrückt zu erklären, dass sie Waffenbesitz als Freiheitsrecht betrachten. Genauso aber schütteln andere verständnislos den Kopf, wenn in Deutschland ein Tempolimit auf Autobahnen als Einschränkung bürgerlicher Freiheit bekämpft wird.
Was also macht diese emotionale amerikanische Beziehung zu Gewehren und Pistolen aus? Sie hat eine lange Geschichte und ist unmittelbar mit dem Gründungsmythos verknüpft. In einem Land, das ohne staatliche Ordnung besiedelt wurde, konnte nur überleben, wer ein Gewehr hatte, um zu jagen oder sich zu verteidigen.
"Nur wer bewaffnet ist, kann sich notfalls gegen den Staat wehren, so die feste Überzeugung"
Die europäische Tradition des staatlichen Gewaltmonopols verlor auf der anderen Seite des Atlantiks seine Bedeutung, denn wo kein Staat regeln kann, muss das Individuum das Vakuum füllen. Nur weil sie Waffen hatten, konnten George Washington und die Kämpfer für die Unabhängigkeit den Freiheitskrieg gegen England gewinnen.
Mit Planwagentrecks zogen die Siedler im 19. Jahrhundert nach Westen, ließen sich nieder, wo sie ein passendes Stück Land fanden, bauten Siedlungen und kleine Städte. Überall an dieser Linie zwischen sich ausdehnender Zivilisation und Wildnis stand im Mittelpunkt, für sich selbst sorgen zu müssen und zu können. Die Erweiterung des Landes nach Westen bedeutete immer auch die Verdrängung der Ureinwohner, was dem Mythos der Verteidigung von eigener Freiheit und Lebensraum keinen Abbruch tat.
Hollywood hat diese Zeit später im erfolgreichsten Genre seiner Geschichte ethisch überhöht, der Western schuf vom Publikum verinnerlichte Regeln im Umgang mit Gut und Böse. Der Cowboy als Mann der Ehre entstand, immer auf der richtigen Seite und im Kampf gegen die Bedroher der Ordnung. Der Sheriff als Repräsentant des Staates ist allein hilflos, braucht das Kollektiv der Waffenbesitzer, die bereit sind, sich an seine Seite zu stellen. Die Frontier verlangt andere Mittel, Recht und Ordnung zu erhalten. Auch hier haben Hollywood und andere Erzähler der Mythen des Wilden Westens nachgeholfen.
Gewalt ist als Mittel der Konfliktlösung legitim, wenn sie Regeln folgt, etwa denen des Pistolenduells, die einmal jedes Kind kannte und nachspielte. „Viele Menschen in den USA tragen noch das Bewusstsein eines Siedlers in sich, schwören auf Eigenverantwortung, Unabhängigkeit und Freiheit“, so der Waffenhistoriker und -jurist Stephen Halbrook. Diese Überzeugung, in einer Traditionslinie mit den Siedlern zu stehen, die DNA aus deren Mission in sich zu tragen, macht für sie die tiefe Verankerung im wahren Amerika aus.
An dieser Stelle tritt, wie so oft, der Gegensatz von Stadt und Land in den Mittelpunkt. Der Ruf nach mehr Kontrolle für Waffenbesitz, Restriktionen beim Verkauf, kommt vor allem aus den Städten, den urbanen Milieus der Küsten mit ihren funktionierenden Strukturen. „Amerika ist noch immer ein Land, in dem der Einzelne für sich selbst sorgt, nur die in den Städten denken, dass Fleisch aus dem Supermarkt kommt. Wenn es drauf ankommt, sind sie hilflos“ ist eine weit verbreitete Haltung auf der Gegenseite, auf dem Land.
Wenn man die Städte verlässt, sieht man auf Anhieb, was sie meinen, wenn die Abstände zwischen den Häusern immer größer werden, Nachbarn nicht mehr sichtbar sind und Mobilfunkempfang unmöglich ist. „Wenn Sekunden zählen, ist die Polizei Minuten entfernt“, sagen sie auf dem Land und bestehen darauf, sich im Notfall verteidigen zu können.
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Bleiben diejenigen, deren emotionale Beziehung zu Schusswaffen mit Religion verknüpft ist. Sie sehen sich in der Nachfolge der Siedler, die ihre europäischen Heimatländer wegen ihres Glaubens verlassen mussten. Sie flohen nach Amerika, um Tod und Folter zu entkommen und die „leuchtende Stadt auf dem Berg“ zu errichten, wollten die neue Heimat zur Basis ihres religiösen Lebens machen. Eines aber schworen sie sich: Nie wieder werde eine Regierung sie wegen ihres Glaubens verfolgen.
Deshalb tun sie alles dafür, dass der Staat kein Recht bekommt, den Waffenbesitz zu regulieren. Nur wer bewaffnet ist, kann sich gegen den Staat wehren, so die feste Überzeugung. Fast ein Drittel der Amerikaner halten es für legitim, eine Regierung mit Waffengewalt zu bekämpfen, wenn sie die Demokratie und die Freiheit des Individuums bedroht.
Bis in die Popkultur hinein spielt die Identität von Besiedlung des neuen Kontinents, Waffen und Religion eine Rolle. „God and Guns“ heißt ein erfolgreiches Album der Südstaaten-Rockband Lynyrd Skynyrd; im Titelsong texten sie: „Gott und Schusswaffen halten uns stark. Sie sind die Basis, auf der unser Land gegründet wurde.“ Mit dem Vater oder Großvater zum ersten Mal ein Gewehr zu schießen, gehört für viele Kinder zum Erwachsenwerden, wird zum Initiationsritus, der sie zu echten Amerikanern macht.
Ab da stehen sie in der Tradition von 500 Jahren Aufbau und verbinden sich mit Generationen mutiger Frauen und Männer, die für die Freiheit gekämpft und die USA zum mächtigsten Land der Erde gemacht haben.
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