Darf der Staat seine Bürger erziehen, Herr Ullmann?

Ob Pandemie oder Klimawandel – Krisen bieten uns die Chance auf Veränderung: Sie zwingen uns, Probleme, um die wir längst wissen, zu lösen. Doch damit das gelingt, müssen alle an einem Strang ziehen. Welche Rolle spielt in diesen Zeiten die Erziehung? Ein Gastbeitrag

Von 
Roland Ullmann
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Eine Demonstrantin protestiert vor dem Reichstagsgebäude gegen eine Impfpflicht. © Kay Nietfeld/dpa

Machen wir uns nichts vor. Wir befinden uns im Krisenmodus. Mehrfachkrisen – Corona-Pandemie, Klimawandel, Energieknappheit – entfalten ihre potenzielle Sprengkraft: kommunal, national, international. Sie stellen uns als Gesamtgesellschaft, aber auch als Einzelbürgerin und -bürger auf die Probe.

Das hat unter anderem dazu geführt, dass Verantwortliche aus Politik und Wissenschaft auf erziehungsmotivierende Kommunikationsformen zurückgreifen, um die Bevölkerung für mitverantwortliches Handeln zu gewinnen. Erzieherische Handlungsimpulse im Kontext der Pandemiebekämpfung oder Energiekrise sind beispielsweise: AHA-Regeln (A steht für Abstand halten, H für Hygiene, A für Alltag mit Maske) beachten, Kontakte reduzieren, sich impfen lassen. Oder: Heizungstemperaturen senken, sparsame Duschköpfe verwenden, mehr Bus und Bahn nutzen.

Das Verhalten jedes einzelnen Bürgers ist entscheidend für den Erfolg der politisch eingeleiteten Maßnahmen

Solche erzieherischen Imperative lösen bei vielen Bürgerinnen und Bürgern Skepsis, Widerwillen und Widerspruch aus. Zu Recht, werden Sie vielleicht sagen. Doch aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive (Klinge/Nohl/Schäffer, 2022) ist das „edukatorische Staatshandeln“ nachvollziehbar, wenn nicht sogar notwendig für eine gesund funktionierende Gesellschaft. Denn in Krisenzeiten, die das gesellschaftliche Gesamtgefüge existenziell bedrohen, ist das Verhalten jeder einzelnen Bürgerin und jedes einzelnen Bürgers entscheidend für den Erfolg aller politisch eingeleiteten (und vernünftigen) Maßnahmen.

Politische und wissenschaftliche Entscheidungsträger sind zur Bekämpfung von Krisenlagen darauf angewiesen, dass die Bevölkerung an einem Strang zieht und zusammenhält. Daraus leitet sich die staatspolitische Aufgabe ab, möglichst allen Bürgerinnen und Bürgern ihre Verantwortung transparent begreiflich zu machen. Was in letzter Konsequenz die „Erziehungs-Zumutung“ für jede und jeden von uns impliziert: einem gemeinsamen Handlungsplan folgen zu müssen, der häufig nur wenig individuelle Spielräume zulässt, damit alle von lebenserhaltenden Lösungswegen profitieren können.

Die dahinterstehende Geisteshaltung hat der Erziehungswissenschaftler Binder wie folgt zusammengefasst: Der „freiheitlich-demokratische Staat“ als Beschützer der Gesellschaft sieht sich – unter den Bedingungen eines Ausnahmezustandes – übergangsweise gezwungen, „die Bürger zu erziehen, die er braucht“ (2014). Entsprechend proklamieren politisch Verantwortliche zu ausgewiesenen Krisen eine verhaltenssteuernde Erziehungsstrategie als Handlungs-Richtschnur für alle.

Um Krisen zu überwinden, bedarf es auch der Erziehung zum Umgang mit Krisen

Die Erziehungsmaxime zur Pandemiebekämpfung lautet: Nehmt das Virus ernst, helft dem Staat, die Ausbreitung des Virus durch mitverantwortliches Handeln zu verlangsamen. Die Erziehungsmaxime zum Energiesparen lautet: Nehmt die Gasknappheit als Gemeinschaftsaufgabe ernst, helft dem Staat, damit er klug mit den Gasreserven zum Wohle der Bevölkerung umgehen kann.

Offensichtlich spielt das „Erzieherische“ im Umgang mit Krisen eine wichtige Rolle. Zwei Fragen, die uns alle betreffen, sind: Was kann Erziehung vorsorglich wie akut zur Krisenbewältigung beisteuern? Wann ist jede und jeder Einzelne von uns bereit – jenseits von Sanktionsandrohungen – erzieherische Zumutungen mitzutragen und das eigene Alltagshandeln danach auszurichten? Hierzu drei Annäherungsversuche.

Annäherung eins – „die Realsituation ist der beste Lehrmeister“: Im Rahmen eines Skikurses haben Sportstudierende noch Probleme beim Buckelpistenfahren. Der präventiven Aufforderung des Skilehrers, die dynamische Beug-Dreh-Streckbewegung mit den Beinen doch schon mal unter erleichterten Bedingungen an kleinen Buckeln gezielt zu üben, kommen die jungen Erwachsenen nur halbherzig nach. Deshalb fährt der verantwortliche Skilehrer, nach Absprache, mit der Gruppe in ein bewusst ausgewähltes steiles Buckelpistengelände mit Gegenhang ein. Die Essenz: Das Frust-Erlebnis ist keine Überraschung, ebenso wenig das Ergebnis der erzieherischen Maßnahme. Die Sportstudierenden sind aufgrund ihrer krisenhaften Sturzerfahrungen in der Ernstsituation „Buckelpistenhang“ wie ausgewechselt. Sie machen sich die Zielübungen zu einer situativ-flexiblen Ausgleichsbewegung zu eigen und entwickeln im Umgang mit diversen Buckelprofilen ein nachhaltiges (Lern-)Verhalten. Sachinformationen und Lernaufgaben des Skilehrers werden kritisch, aber wohlwollend angenommen. Die aus erzieherischen Gründen herbeigeführte kontrollierte Sturzgefahr hat bei ihnen einen Motivationseffekt ausgelöst.

Der Gastautor



Roland Ullmann ist Diplom-Pädagoge und hat eine Skilehrer-Lizenz. Der promovierte Erziehungswissenschaftler war 25 Jahre an der Pädagogischen Hochschule für die Heidelberger Sportlehrerausbildung mit verantwortlich.

Sportunterricht ist ein hoch konfliktäres Handlungsfeld, das durch körper- und bewegungsbezogene Krisenerfahrungen direkt erziehungswirksam ist. Damit einhergehende Anforderungen an die Lehrer-Schüler-Beziehung hat Roland Ullmann in Veröffentlichungen zum mehrperspektivischen Klettern, zur Empathie-Erziehung im Sportunterricht und zu Erziehungsansprüchen im Sportschullandheim in Fachzeitschriften thematisiert.

Annäherung zwei – „Krise als erziehungsrelevante Erfahrung“: Wenn wir ehrlich sind, wissen wir es: Krisen deuten sich an, fallen nicht vom Himmel. Nur will man sie oftmals, trotz Warnungen, nicht wahrhaben geschweige denn ernstnehmen. Das gilt im Kleinen (Skitechnikdefizite, Beziehungsprobleme) wie im Großen (Zoonosen – von Tier zu Mensch und von Mensch zu Tier übertragbare Infektionskrankheiten, Flutkatastrophen, Hitzewellen, Digitaldefizite, Gasabhängigkeit von Putin).

Bei aller Unterschiedlichkeit der Krisen, charakterisiert alle eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit: Sie wirken wie ein „Brennglas“, das in neuer Schärfe bereits erkannte Missstände neu sichtbar macht und dringlich anmahnt, diese endlich zu beseitigen. Und sie wirken wie ein „Katalysator“, der die Durchsetzung längst fälliger Veränderungen enorm beschleunigt, die man ohnehin schon lange für notwendig erachtet hat. Auf den Punkt gebracht: Aus Krisen kann und muss man etwas lernen. Doch um Krisen zu überwinden, sie für Fortschritt und Weiterentwicklung zu nutzen, bedarf es auch der Erziehung zum Umgang mit Krisen – Krisen bedeuten somit also (auch) eine erzieherische Aufgabe.

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Annäherung drei – „Erziehung als natürlicher Lern- und Veränderungsprozess“: Erziehung heutzutage ist nicht mehr nur auf Kinder und Jugendliche fokussiert, sondern schließt Menschen jeder Altersklasse ein. Dahinter steht die Annahme, dass der Mensch sein Leben lang neue Dinge lernt respektive lernen kann, wenn er nur will – also ebenso im Erwachsenenalter. Das gilt im Kleinen, wie im Großen. Lernen Erwachsene im Umgang mit realen Krisensituationen etwas Neues, kann das mit nachhaltigen Verhaltensänderungen einhergehen, was einem natürlichen Erziehungsprozess gleichkommt. Erwachsene lassen sich im Umgang mit Krisen dann auf erzieherische Lernzumutungen freiwillig ein, wenn: a) die Verantwortlichen zur Krisenbewältigung überzeugende, nachvollziehbare und praktikable Argumente parat haben; b) sich die Verantwortlichen selbst mit den erzieherischen Zumutungen identifizieren und sie befolgen; c) fehlerhafte Einschätzungen zugestanden und von allen Akteuren kritisiert und korrigiert werden dürfen, um gemeinsam bessere Lösungswege finden zu können.

Auf den Punkt gebracht: Erziehung hat nichts mit Bevormundung oder Zwang zum Gehorsam zu tun, sondern will dazu beitragen, eine lebenswerte Welt für die Gegenwart zu ermöglichen und für die Zukunft vorzubereiten durch selbstverantwortliches, sozialverantwortliches und reflektiertes Handeln.

Wir sollten lernen, im Krisenmodus mit andersdenkenden Menschen im Gespräch zu bleiben

Abschließend fünf grundlegende Handlungswegweiser in Thesenform aus dem Umfeld der praktischen Ethikforschung zur Krisenabwehr. Auf nationaler wie internationaler, staatlicher wie privater Ebene sollten wir uns gegenseitig helfen und lernen:

– im Krisenmodus mit andersdenkenden Menschen im Gespräch zu bleiben. Die konstruktive Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Standpunkten erweitert das Spektrum an krisenrelevanten Lösungsprozessen und verhindert die Bildung von Echokammern sowie populistischen Vereinfachungen (These 1);

– im Sinne des kritischen Denkens in regelmäßigen Abständen den Wahrheitsgehalt von Informationen zu prüfen, an denen sich das eigene Krisenhandeln und das von anderen Menschen ausrichtet. Fake News können so weniger Verunsicherung anrichten (These 2);

– auf Vorrat kriseneindämmende Handlungsoptionen anzulegen. Das vermeidet im Umgang mit krisenbedingten Risiken unnötigen Handlungsdruck beziehungsweise erweitert den Spielraum für akutes Krisenhandeln. Vorkehrungen zur Krisenabwehr könnten rechtzeitig getroffen, ein schnelles kreatives Umdenken im Krisenmanagement wäre möglich (These 3);

– zu prüfen, welche staatlich vorhandenen Kooperationsformen wir zugleich zur Kriseneindämmung gewinnbringend nutzen können (These 4);

– Krisenmissmanagement auf privater wie staatlicher Ebene offen anzusprechen. Persönliche Gespräche oder Plattformen der sozialen Medien bieten sich für sachlich-konstruktive Kritik an (These 5).

Entsprechend einer erfolgreichen Krisenabwehrstrategie (Hedging-Prinzip) ist es keine Panikmache, sondern kluges Krisenmanagement, auf der Basis solider Forschungsergebnisse Notfall-Pläne vorbeugend zu konzipieren und einzelne Maßnahmen im Sinne einer erzieherischen Ernstfallsituation verhaltenswirksam zu trainieren. Erziehung kann in Krisen dazu beisteuern, neue Seiten an sich selbst und bei anderen zu entdecken.

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