Mannheim. Eines Tages wachte ich ohne Wecker auf, nachdem ich neun Stunden geschlafen hatte, und stellte fest, dass ich keinen Kaffee wollte. Das war ein so befremdliches Gefühl, dass ich für einen Moment innehielt und in meinen Boxershorts in der Küche vor dem nicht arbeitenden Wasserkocher stand und ihn anstarrte. Mein Körper fühlte sich nicht schwer an. Ich war wach.
Lange Zeit hatte ich versucht, nach dem Rhythmus einer Maschine zu leben - endlos immer weiter, Tag und Nacht, bis schließlich die Batterie den Geist aufgab. Jetzt lebte ich nach dem Rhythmus der Sonne. Wenn der Himmel sich verdunkelte, kam ich allmählich zur Ruhe, und wenn die Sonne aufging, wachte ich ganz natürlich auf. Dadurch änderte sich etwas in meinem Verständnis für meinen Körper. Ich erkannte jetzt, dass er sich nach viel mehr Schlaf sehnte, als ich ihm normalerweise zugestand. Es war, als würden sich mein Körper und mein Geist entkrampfen und dann wieder aufladen.
Falsche Erkenntnisse aus Studium
Ich fragte mich, ob dies eine Rolle dabei spielte, dass ich nun klarer und über längere Zeiträume hinweg nachdenken konnte, als ich es seit Jahren getan hatte. Und ich beschloss, die besten wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Frage zu recherchieren, wie sich die mysteriösen langen Phasen ohne waches Bewusstsein, nach denen sich unser Körper sehnt und die wir ihm so oft verweigern, auf unsere Fähigkeit auswirken könnten, aufmerksam zu sein.
Charles Czeisler hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt nie für die Erforschung des Schlafs interessiert. In seinem Medizinstudium hatte man ihm beigebracht, dass der Mensch im Schlaf geistig „ausgeschaltet“ sei. So stellen sich viele von uns den Schlaf vor - als einen rein passiven Vorgang, eine Art geistige Todeszone, in der nichts Bedeutendes geschieht. Er arbeitete an etwas, das er für viel wichtiger hielt - es war eine wissenschaftliche Untersuchung zu der Frage, zu welcher Tageszeit bestimmte Hormone im menschlichen Körper ausgeschüttet werden. Dazu mussten die Menschen wach bleiben. Aber im Laufe der Tage und Nächte konnte Charles nicht umhin, etwas zu bemerken. Wenn Menschen wach gehalten werden, „ist eines der ersten Dinge, die nachlassen, die Fähigkeit, unsere Aufmerksamkeit zu fokussieren“, erklärte er mir.
INFO
- Johann Hari lebt und arbeitet als Journalist in Großbritannien. Amnesty International UK hat ihn bereits zweimal als Zeitungsjournalist des Jahres ausgezeichnet.
- Für sein Buch „Abgelenkt“, das diesen Oktober im riva Verlag erschienen ist, hat der Brite mit den weltweit führenden Fachleuten gesprochen und zwölf entscheidende Gründe entlarvt, die für den Verlust unserer Aufmerksamkeit verantwortlich sind.
„Ich war einfach fassungslos, wie sich die Leistung verschlechterte“, berichtete er. Je länger die Menschen wach blieben, desto mehr schien ihre Konzentrationsfähigkeit zu sinken. Wenn man 19 Stunden am Stück wach bleibt, wird man genauso kognitiv beeinträchtigt wie im betrunkenen Zustand.
Er fand heraus, dass die Teilnehmer seines Experiments, die eine ganze Nacht und den folgenden Tag wach geblieben waren, statt einer Viertelsekunde für die Reaktion auf eine Aufforderung vier, fünf oder sechs Sekunden benötigten.
„Die Menschen mit den schnellsten Reaktionszeiten sind diejenigen, die am meisten schlafen“, erläuterte mir auch Roxanne Prichard. Sie ist Professorin für Neurowissenschaften und Psychologie an der Universität von Minneapolis. Und je weniger sie schlafen, desto weniger sehen, desto langsamer reagieren sie.
„Wenn Sie schlecht schlafen, interpretiert Ihr Körper das als einen Notfall“, erklärte Roxanne. „Man kann sich selbst den Schlaf entziehen und trotzdem leben. Aber es hat seinen Preis.“ Der Preis bestehe darin, dass der Körper in den Funktionsbereich des sympathischen Nervensystems wechselt.
Der Körper denkt also: „Oh, du entziehst dir den Schlaf, es muss ein Notfall vorliegen, also werde ich all diese physiologischen Veränderungen vornehmen, um mich auf diesen Notfall vorzubereiten. Ich erhöhe deinen Blutdruck. Ich sorge dafür, dass du mehr Fast Food essen willst und dass du mehr Zucker für schnelle Energie brauchst. Ich erhöhe deine Herzfrequenz.“ ... Unser Körper nimmt all diese Veränderungen vor, um zu signalisieren: Ich bin bereit. Der Körper weiß ja nicht, warum er wach bleibt. Ihr Gehirn weiß nicht, dass Sie sich einem Schlafentzug unterziehen, weil Sie sich eine Fernsehserie ansehen. Er weiß nicht, warum Sie nicht schlafen. „Also reagiert er mit einer Art physiologischer Alarmglocke“, sagt Prichard.
In diesem körperlichen Notfall schränkt Ihr Gehirn nicht nur die unmittelbare kurzfristige Konzentrationsfähigkeit ein. Es schränkt auch die Ressourcen für andere, längerfristige Formen der Aufmerksamkeit ein. Wenn Sie heute Abend zu Bett gehen, beginnt Ihr Geist damit, das tagsüber Gelernte in Ihr Langzeitgedächtnis zu übertragen.
Westliche Gesellschaft leidet unter Schlafentzug
Jahrelang habe ich geglaubt, ich könnte mir alle Vorteile eines guten Schlafs durch technische Lösungen erschleichen. Das offensichtlichste Beispiel ist Koffein. Jahrelang habe ich gedacht: Okay, ich schlafe zu wenig, aber das mache ich mit Kaffee, Cola Zero und Red Bull wett. Aber Roxanne hat mir erklärt, was ich wirklich tue, wenn ich das alles trinke. Im Laufe des Tages bildet sich im Gehirn ein chemischer Stoff namens Adenosin, der dem Körper signalisiert, dass er schläfrig ist. Koffein blockiert den Rezeptor, der auf den steigenden Adenosinspiegel reagiert. „Ich vergleiche das mit einem Post-it-Zettel, den man über die Tankanzeige klebt. Man versorgt sich nicht mit mehr Energie, man merkt nur nicht, wie leer man ist. Wenn das Koffein nachlässt, ist man doppelt so erschöpft.“
Dr. Sandra Kooij ist eine der führenden Expertinnen für ADHS und sie sagte mir unverblümt, unsere westliche Gesellschaft sei „ein bisschen ADHS-artig“, weil wir alle unter Schlafentzug leiden. Wir sind alle in Eile, wir sind impulsiv, wir sind im Straßenverkehr leicht reizbar. Man sieht es überall um sich herum.“ Man glaubt, dass man klar denkt, aber das ist nicht der Fall. Man ist viel weniger klar, als man sein könnte.“ Sie fügte hinzu: „Wenn wir besser schlafen, werden viele Probleme vermindert, wie Stimmungsschwankungen, Fettleibigkeit, Konzentrationsprobleme.“
All dies führt zu einer letzten großen Frage zum Thema Schlaf: Wie können wir diese Krise lösen? Die Lösung dazu ist vielschichtig. Wie Charles Czeisler erklärt, müssen wir unsere Lichtexposition vor dem Schlafengehen radikal einschränken. Er ist der Meinung, dass man im Schlafzimmer überhaupt keine künstlichen Lichtquellen haben und mindestens zwei Stunden vor dem Schlafengehen das blaue Licht von Bildschirmen meiden sollte.
Wir müssen auch eine andere Beziehung zu unseren Handys entwickeln, sagten mir alle Schlafexperten. Wir stehen ständig unter Spannung, um zu überprüfen, ob etwas passiert ist. Roxanne Prichard sagt, dass man sein Handy über Nacht immer in einem anderen Raum aufladen sollte, wo man es weder sehen noch hören kann. Außerdem sollte man darauf achten, dass die Zimmertemperatur im Schlafzimmer stimmt - sie sollte kühl sein, fast kalt. Der Grund dafür ist, dass der Körperkern abkühlen muss, damit man einschlafen kann, und je schwieriger man ihm das macht, desto länger dauert das Einschlafen.
Dies sind hilfreiche Tipps. Aber jeder Experte, mit dem ich gesprochen habe, räumte ein, dass sie für die meisten Menschen nicht ausreichen. Nachdem ich einige der Dinge in Erfahrung gebracht hatte, die wir tun müssen, um uns besser konzentrieren zu können, wurde mir klar, dass wir in einem scheinbaren Paradoxon leben.
Viele der Dinge, die wir tun müssen, sind so offensichtlich, dass sie banal sind: langsamer werden, immer nur eine Sache auf einmal tun, mehr schlafen. Doch obwohl wir alle wissen, dass diese Dinge wahr sind, bewegen wir uns in der Realität in die entgegengesetzte Richtung: hin zu mehr Tempo, mehr Umschalten, weniger Schlaf. Wir leben in einer Kluft zwischen dem, was wir wissen, dem, was wir tun sollten, und dem, was wir glauben, tun zu können.
Die Schlüsselfrage lautet also: Was ist die Ursache für diese Kluft? Warum können wir nicht die offensichtlichen Dinge tun, die unsere Aufmerksamkeit verbessern würden? Welche Kräfte halten uns davon ab? Ich habe einen großen Teil meiner Reise damit verbracht, die Antworten darauf zu finden.
Jetzt sind Sie dran: Hören Sie einmal tief in sich hinein, vielleicht finden auch Sie wichtige Antworten. Und bis dahin: Schlafen Sie gut - und schlafen Sie mehr.
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