Debatte

Warum ist es so wichtig, dass wir uns erinnern?

Der Ewigkeitssonntag im November, auch Totensonntag genannt, ist dem Andenken an Verstorbene gewidmet. Und ein Anlass, uns auf die grundlegende Verletzlichkeit unseres menschlichen Lebens zu besinnen. Ein Gastbeitrag

Von 
Heike Springhart
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Woman is putting candle lantern at grave in cemetery. Grief and paying respect for dead person © Getty Images/iStockphoto

„Wer im Gedächtnis seiner Lieben lebt, ist nicht tot. Tot ist nur, wer vergessen wird.“ So heißt es oft in Traueranzeigen. Wenn der Tod ins Leben einbricht und Menschen aus dem Leben reißt, stellt sich die Frage: Was bleibt? Ist mit dem Tod alles aus?

Das Versprechen der Erinnerung und des Andenkens durch die, die bleiben, folgt den Spuren, die ein Mensch mit seinem Leben gelegt hat. Die Anekdoten und Anekdötchen, die mit einer kleinen Szene alles darüber sagen, wie der Mensch war, den ich schmerzlich vermisse. Hinter dem Versprechen der Erinnerung und des ehrenden Andenkens leuchtet der Wunsch hervor, dass mit dem Tod nicht alles vorbei ist.

Für unsere Gesellschaft als Ganzes und für das persönliche Leben sind Erinnerung und Erinnerungskultur wesentlich. Am Ende des Kirchenjahres werden in vielen christlichen Kirchen die Namen der Verstorbenen des letzten Jahres verlesen. Für mich ist der eindrücklichste Ort in der Gedenkstätte Yad Vashem in Israel die „Halle der Kinder“. Die abstrakte Zahl von 1,5 Millionen ermordeten Kindern wird greifbar und berührend dadurch, dass fortlaufend die Namen ermordeter Kinder, ihre Herkunftsländer und ihr Alter verlesen werden. Auch zum Gedenken an die Toten der Terroranschläge vom 11. September 2001 gehört das Verlesen der Namen der Gestorbenen. Auf den Grabsteinen unserer Friedhöfe sind die Namen zu lesen. Am Ende bleibt der Name. Mit ihm verbindet sich die ganze Fülle eines gelebten Lebens, die Identität, die Brüche und die Beziehungen.

Im Alten Testament heißt es: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst – ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein“ (Jesaja 43,1). Jeder Mensch ist beim Namen gerufen und gehört mit der ganz eigenen, individuellen Geschichte zu Gott. Am Ende bleibt der Name – auf dem Grabstein und bei Gott. Menschen werden auf einen bestimmten Namen getauft. Die Verstorbenen gehen in Gottes Gedächtnis ein. Dort ist das Leben aufgehoben.

In der Erinnerung wird die Einbettung in ein größeres Ganzes deutlich. Wir verdanken uns nicht nur uns selbst, wir sind nicht nur gefangen und bezogen auf das Hier und Heute, sondern leben eingespannt zwischen Gestern und Morgen.

Erinnerung ist kein statisches immer wieder Aufrufen. Sie ist ein lebendiger Prozess, verändert sich und hat auch ihre Grenzen. Manches verschiebt sich in der Erinnerung. Wenn aus dem ganz normalen Abschied nach dem Abendessen der letzte Abend vor dem Tod wird, dann werden Alltagsworte zu letzten Worten, Nachdenkliches zum Vermächtnis. Erinnerungen verblassen und manchmal erlöschen sie heilsam.

Wenn wir sterben, gehen wir von einer Hand Gottes in die andere über. Das Leben hier ist vorbei, aber die Geborgenheit bei Gott kommt nicht ans Ende. Sein barmherziger Blick auf uns bewahrt uns in unserer Unverwechselbarkeit. Die Verbindung der Lebenden zu den Toten und die Gemeinschaft der Lebenden mit den Toten hat Platz im christlichen Glauben.

Wenn in den evangelischen und katholischen Kirchen das Abendmahl gefeiert wird, singen die Gläubigen mit allen – denen, die leben und denen, die schon gestorben sind – das große „Heilig, Heilig, Heilig“. Darin kommt zum Ausdruck: Die Toten sind zwar aus der Gemeinschaft der hier und jetzt irdisch Lebenden gerissen, aber sie sind nicht aus der Gemeinschaft derer gerissen, die zu Gott gehören. Die Gemeinschaft der Heiligen endet nicht mit dem Tod.

Was aber bedeutet das für das Erinnern in den digitalen Welten? Von Gedenkseiten im Internet bis hin zu auf Dauer gestellten Profilen in den Sozialen Netzwerken. Da bleibt eine Person als Gegenüber lebendig und wird immer und immer wieder aufgerufen. Auch das Internet vergisst auf seine Weise nichts. Aber es verändert Erinnerung auch hin zur Konservierung. Der Abschied, der mit der konkreten Beerdigung gestaltet wird, wird erschwert durch die jährliche Meldung des Geburtstages eines Verstorbenen – so, als ob er noch lebte.

Als Menschen leben wir aus der Kraft der Erinnerung, gestalten Gedenken und ehren so auch unsere Verstorbenen und würdigen das, was sie für uns und für diese Welt waren. Aber wir erinnern in Endlichkeit – nicht unendlich.

Der Tod bleibt das radikale Ende des Lebens, für das es nicht einfach eine Fortsetzung gibt. Der christliche Glaube an die Auferstehung macht sich daran fest, dass Gott aus dem Nichts die Toten auferweckt. Im 15. Kapitel des Briefes an die Gemeinde in Korinth findet sich die Vorstellung des Apostels Paulus von der leiblichen Auferstehung der Toten. Da geht es nicht um Wiederbelebung oder um eine Rückkehr in die irdische Materialität, schon gar nicht um eine unendliche Fortsetzung des Lebens wie es hier war.

Leibliche Auferstehung bedeutet, dass Gott aus dem gestorbenen Leib einen neuen schaffen wird. Paulus beschreibt das mit dem Bild des Samens (1Kor 15,37): „Was du säst, ist ja nicht der Leib, der werden soll, sondern ein bloßes Korn, sei es von Weizen oder etwas anderem. Gott aber gibt ihm einen Leib, wie er will, einem jeden Samen seinen eigenen Leib.“

Die Auferstehungshoffnung zielt auf die Schöpfung eines gänzlich neuen Leibes. Mit dem Tod endet das irdische Leben ganz und gar. Aber der Tod hat nicht das letzte Wort, sondern Gott ruft in anderer Weise die Verstorbenen wieder in das Leben.

Mit dem Tod ist nicht alles vorbei. Die Gemeinschaft mit Gott und die Gemeinschaft mit denen, die den Verstorbenen geliebt haben, bleibt. In Gottes Gedächtnis ist unser Leben bewahrt mit allen seinen beglückenden und schmerzhaften Spuren, mit Gelingen und Scheitern, mit Abbrüchen und dem Vollendeten. Zugleich werden die Verstorbenen durch Gottes Nähe verwandelt.

Am Ende der Zeiten wird der Tod durch die Auferstehung überwunden sein. Am Ende kommt die Zeit, in der Leid, Geschrei und Schmerz ein Ende haben und in der Gott selbst alle Tränen abwischen wird und den Leib in einem schöpferischen Akt neu machen wird. Der, der die Welt ins Leben gerufen hat, wird auch aus dem Häufchen Asche, das wir in der Urne zu Grabe tragen, einen neuen Leib schaffen. Darin liegt Hoffnung und die Freiheit, dass es mit dem Tod auch ein Ende hat mit allen Nützlichkeitserwägungen.

Diese führt in jüngster Zeit zur Entwicklung sogenannter Reerdigungen, einem Verfahren, das den Verstorbenen in einer „natürlichen Transformation“ und einem beschleunigten Kompostierungsprozess zu Humus werden lässt mit der Hoffnung darauf, dass am Ende weiche, schöne Erde bleibt und neues Leben entsteht. Fast könnte man in Abwandlung des eingangs zitierten Satzes sagen: „Tot ist nur, wer nicht mehr nützt.“ Und doch gibt es ein Ende aller Nützlichkeitserwägungen. Die Lichtseite der schweren Abschiede ist die heilsame und gnädige Begrenzung des Lebens.

Das hat auch Folgen für das Leben hier und heute. Menschliches Leben ist wertvoll mit seiner Verletzlichkeit, mit Scheitern und Abbrüchen und jenseits aller Nützlichkeit. Dazu gehört auch der ehrliche Blick darauf, dass es Grenzen der Selbstwirksamkeit und der Autonomie gibt und geben darf. Ein Verstorbener muss nicht als Humus nach dem Tod nützlich sein.

Grenzen der Autonomie gibt es nicht, weil andere sie mir nehmen und sie beschneiden – dazu hat niemand jemals das Recht –, sondern weil es im menschlichen Leben Widerfahrnis und Unverfügbarkeit gibt und weil menschliches Leben verdanktes und geschenktes Leben ist. Wir schenken uns nicht selbst das Leben.

Der Blick auf das Ende des Lebens und der Horizont der Erinnerung, der weit über das menschliche Erinnerungsvermögen hinausgeht, verträgt keine vollmundigen Forderungen, sondern ruft nach Nachdenklichkeit. Am Übergang vom Leben zum Tod haben wir es mit einer Schwelle zu tun, die den Raum für Graubereiche eröffnet. Der Tod ist nicht das Scheitern des autonomen Menschen, sondern er ist Ausdruck der grundlegenden Verletzlichkeit menschlichen Lebens.

Niemand sollte diese Schwelle einsam überschreiten müssen. Deswegen setzen wir uns als Kirchen dafür ein, dass Menschen nicht durch die Hand eines anderen, sondern an der Hand einer anderen sterben können. Deswegen sind wir da, um Menschen bis zum letzten Atemzug zu begleiten und auch ihre Angehörigen. Die Erinnerung an die Verstorbenen hält den Blick auf die Würde des verletzlichen Lebens wach und bereichert das Leben derer, die erinnern um den weiten Horizont, der über das eigene Leben hinausreicht. In Gottes Händen sind alle geborgen – die Verstorbenen und die, die sich im Leben an sie erinnern.

Die Gastautorin

Prof. Dr. Heike Springhart ist seit 1. April 2022 die erste Frau im Amt der Bischöfin der evangelischen Landeskirche in Baden, gewählt wurde sie im Dezember 2021 von der Synode.

Zuvor war die habilitierte Theologin, die 1975 in Basel geboren wurde, Pfarrerin der evangelischen Johannesgemeinde in Pforzheim.

Von 2010 bis 2019 war sie Studienleiterin am Theologischen Studienhaus Heidelberg. Sie lehrte an den Universitäten Bochum, Heidelberg und Zürich. Bild: gülay keskin

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