Gastbeitrag

Andrea Römmele: Demokratie unter Druck braucht Visionen

Wie sieht die Welt von morgen aus? Die Politikwissenschaftlerin Andrea Römmele beschreibt die Megatrends, die unser Leben erfasst haben. Und zeigt, wie unsere Demokratie unter Druck bestehen kann. Ein Gastbeitrag

Von 
Andrea Römmele
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Bis 18.00 Uhr konnten Wählerinnen und Wähler ihr Kreuzchen machen. © Michael Reichel

Lawinen, die in Zeitlupe auf uns zurollen: So lassen sich Megatrends am besten beschreiben. Als Gesellschaft können wir ihnen nicht entkommen – politisch nicht, kulturell und ökonomisch nicht. Ihre Folgen können und müssen wir jedoch aktiv gestalten, sonst ist unsere Demokratie in großer Gefahr.

In meinem kürzlich erschienen Buch „Demokratie neu denken“ habe ich fünf zentrale Megatrends identifiziert: Digitalisierung und KI, Urbanisierung, Migration und Demographie, Klimawandel und Globalisierung. Es geht um die Frage, welche Auswirkungen jeder dieser Megatrends auf unsere Demokratie haben könnte. Wie sähe Deutschland, wie sähe unsere Gesellschaft aus, wenn wir nichts täten? Mit drei Szenarien blicke ich in meinem Buch in die Zukunft: Wie könnte Deutschland aussehen – im Jahr 2035, 2040 und 2045?

Wir stehen als Gesellschaft an verschiedenen Wende- oder Kipppunkten, getrieben durch Megatrends. Wie werden wir Zuwanderung gestalten (müssen)? Wie gehen wir mit einer alternden Gesellschaft um? Gelingt es uns, den Kampf gegen den Klimawandel sozial verträglich und vor allem schnell voranzubringen? Wie schaffen wir mehr Wohnraum in den Ballungsgebieten? Welche Konsequenzen hat die wachsende Kluft zwischen Stadt und Land? Wie stark wird die ökonomische Globalisierung voranschreiten, und können wir ihre sozialen Folgen hinreichend abfedern? Welche Rolle kann der Nationalstaat hier (noch) spielen? Kann das Vertrauen in unser politisches System, in unsere Demokratie wieder gestärkt werden, wenn die Grundlagen der Demokratie, die Debatte und der Diskurs auf Basis von Fakten, gefährdet sind durch soziale Medien und KI?

Die Mannheimer Politikwissenschaftlerin Andrea Römmele. © privat

Alle Trends haben eine rapide wachsende soziale Ungleichheit als Konsequenz, sollten wir nicht schnell gegensteuern und aktiv gestalten. Außerdem – und das ist eigentlich das Erschreckende – waren alle Trends vorhersehbar. Hier ist die Wissenschaft schon früh sehr klar gewesen.

Doch Lamentieren hilft nichts, wir müssen aktiv, engagiert und mutig nach vorne blicken: Um die Konsequenzen dieser (und anderer) Megatrends zu steuern, müssen wir umdenken. Wir brauchen kein neues, effektiveres politisches System – häufig werden ja der Föderalismus und das Verhältniswahlsystem als „Reformverhinderer“ angesehen. Das sind sie nicht. Unsere systemische Hardware funktioniert. Allerdings brauchen wir in unserer Software ein Update – und die folgenden fünf Punkte halte ich für zentral:

Neues Rollenverständnis bei Politikerinnen und Politikern

Abgeordnete, egal ob auf der Regierungs- oder Oppositionsbank, unterliegen zwangsläufig der Logik der Macht. Um politisch aktiv gestalten zu können, muss man gewählt werden, idealiter Teil einer Regierungskoalition sein. Die Frage ist allerdings, wie Abgeordnete ihr Mandat verstehen, welches Rollenverständnis sie haben.

In der Repräsentationsforschung wird zwischen Trustee und Delegate unterschieden. Trustees sind Politikerinnen und Politiker, die ihrem eigenen Verständnis und ihrer eigenen politischen Vision folgen. Sie gestalten aktiv. Delegates hingegen folgen den Präferenzen ihrer Wählerinnen und Wähler. Sie agieren eher reaktiv. In Krisenzeiten, in Zeiten von Überkomplexität und Unsicherheit, braucht es aber Visionen und Führung, es braucht ein Trustee-Verständnis von Repräsentation. Antworten auf gesellschaftliche Herausforderungen müssen grundlegender, vorausschauender und vor allem mutiger diskutiert und zügiger getroffen werden. Es geht darum, Probleme im Vorfeld mit der Unterstützung der Wissenschaft zu antizipieren und Szenarien für den Eintrittsfall zu durchdenken und parat zu haben. Es geht darum, hinter den Ball zu kommen: von der Gegenwarts- in die Zukunftsorientierung.

Die Kraft der Hoffnung: Positive Narrative verbreiten

Demokratie braucht positive Narrative. Gerade in Zeiten von multiplen Krisen und Herausforderungen braucht es eine positive Demokratieerzählung. Große gesellschaftliche Umbrüche haben sich solcher Erzählungen stets bedient: Die Französische Revolution kam ohne ihre berühmte Parole „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ nicht aus, Barack Obama faszinierte mit Zutrauen und den Hoffnungen „Yes we can“ und „Hope we can believe in“. Die Ampel-Regierung hat sich ein sehr vielversprechendes Narrativ gegeben, „Mehr Fortschritt wagen“ – in Anlehnung an das große und unvergessene Narrativ Willy Brandts, „Mehr Demokratie wagen“. Mit der Einladung zur Nachahmung.

Die Gastautorin Andrea Römmele

  • Andrea Römmele ist Professorin für Politische Kommunikation und Vizepräsidentin an der Hertie School in Berlin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Demokratie, Wahlen und politische Parteien.
  • Römmele, die am 22. März 1967 in Stuttgart geboren wurde, studierte an der Universität Heidelberg und der University of California in Berkeley und habilitierte sich an der FU Berlin.
  • Wichtige Stationen ihrer Karriere waren unter anderem das Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES), die Johns Hopkins University in Washington DC und das Wissenschaftszentrum Berlin.
  • 2024 ist sie Fellow im Thomas Mann House in Los Angeles. Ihr privater Lebensmittelpunkt ist Mannheim.
  • Gerade ist ihr Buch „Demokratie neu denken. Szenarien unserer Welt von morgen“ im Campus Verlag erschienen.

Es braucht aber zweifellos jemanden, der plausible Erfolgsaussichtsgeschichten federführend erzählt. Und zwar immer wieder. Es braucht die Melodie der Narrative, die Erfolgsaussichtsgeschichten, die in gesellschaftliche Resonanzräume hineingetragen und auch wieder positiv hinausgetragen werden. Nur so kann sich die volle Kraft einer Gesellschaft entfalten und Kreise ziehende Impulse geben.

Die Zivilgesellschaft als Impulsgeber

Zivilgesellschaft ist sowohl Ort gesellschaftspolitischer Meinungs- und Identitätsbildung als auch Transmissionsriemen zwischen gesellschaftlichen Interessen und Politik. Deutschland hat eine starke und engagierte Zivilgesellschaft. Gerade in den letzten Jahren haben wir das große zivilgesellschaftliche Engagement vieler Deutscher beobachten können, waren vielleicht sogar Teil davon. Die humanitäre Hilfe während des Flüchtlingssommers 2015 war überwältigend, das Land wuchs nahezu über sich hinaus – natürlich auch getragen vom Kanzlerinnenmantra: „Wir schaffen das.“ Es wirkte in die Zivilgesellschaft hinein und gab ihr zusätzlichen Rückenwind.

Städte: Experimentierfelder der Politik

Wir müssen zudem Formate installieren, um aus den vielfältigen Erfahrungen auf der Ebene der Länder und der Städte brauchbare Erkenntnisse abzuleiten und daraus nachhaltig zu lernen. Dies stelle ich mir als eine Art Policy Labor vor – vor allem in den Städten, in denen wir alle Megatrends kondensiert beobachten, werden Möglichkeitsräume beständig ausgelotet. Städte sind die Experimentierfelder für gelingende und versagende Politik. Wir brauchen einen methodischen Werkzeugkasten, der uns mit Kriterien ausrüstet, schon vor der Umsetzung einzelner politischer Maßnahmen, die Risiken für deren Versagen abzubauen und Voraussetzungen für deren Gelingen proaktiv schaffen.

Bürokratie 2.0: Digitale Revolution in der Verwaltung

Für effizientes Regierungshandeln ist eine gut aufgestellte Verwaltung notwendig. Die besten Gesetze sind nicht mehr als Schall und Rauch, wenn sie nicht hinreichend gut umgesetzt werden können. Die Corona-Pandemie und auch die Ahrtalkatastrophe haben uns einige erhebliche Defizite, aber auch die große Relevanz von Verwaltung vor Augen geführt.

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Digitalisierung ist für die Weiterentwicklung der Verwaltung unverzichtbar und muss ressortübergreifend gedacht werden. Es fehlt hier nicht an rahmen- und ideengebenden Dokumenten und Whitepapers, aber es hapert nach wie vor an der Umsetzung. Noch wird zu sehr in Silos gedacht – wobei erste ressortübergreifende Maßnahmen erkennbar sind.

Doch wird dies allein nicht ausreichen. Vor dem Hintergrund eines wachsenden Spardrucks in den öffentlichen Haushalten, dem anstehenden Ruhestand der Babyboomer in den nächsten Jahren sowie einer steigenden Erwartungshaltung der Bürgerinnen und Bürger an die Dienste der öffentlichen Verwaltung wird sich die Situation weiter zuspitzen.

Uns wird die große Fähigkeit zugeschrieben, mit Veränderungen und Krisen gut umgehen zu können. Diese Fähigkeiten sind jetzt besonders gefragt. Wir brauchen eine zupackende Haltung, in der wir uns selbst fragen: Was kann ich für unsere Demokratie tun? Was kann ich dazu beitragen, dass sie nicht untergeht, sondern dass wir vorankommen. Dann hat unsere Demokratie einen viel, viel längeren Atem als viele denken.

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