Debatte

Wie konnte die Hamas so mächtig werden, Herr Croitoru?

Die Terrororganisation entstand bereits in den 60er Jahren in Gaza. Die Gefahr, die von ihr ausgeht, wurde zunächst unterschätzt. Ein Gastbeitrag

Von 
Joseph Croitoru
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Palästinensische Flüchtlinge schwenken Fahnen und tragen Bilder des Führers der Hamas-Gruppe, Haniya (Mitte), und des hochrangigen Führers al-Arouri im Flüchtlingslager Burj al-Brajneh, um gegen die Ermordung Haniyas zu protestieren. © Marwan Naamani/dpa

Seit fast einem Jahr führt die israelische Armee im Gazastreifen Krieg gegen die palästinensische Islamisten-Organisation Hamas und die mit ihr verbündeten Milizen. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu erklärte unmittelbar nach dem verheerenden Terroranschlag vom 7. Oktober die „Vernichtung“ der Hamas zum obersten Ziel der Militäroperation.

Erreicht ist es aber noch lange nicht. Ihre Miliz, die Qassam-Brigaden, verfügt anscheinend noch über rund 20 000 Kämpfer, die aus dem weit verzweigten Tunnelsystem heraus erbitterten Widerstand leisten und gelegentlich auch Raketen auf Israel abschießen. Etliche von ihnen stammen aus eigener Produktion, so auch die effektiven Panzerfäuste, die nach dem Hamas-Gründer Scheich Ahmad Jassin benannt sind.

Als Mitte der sechziger Jahre der junge palästinensische Lehrer Ahmad Jassin eine Moschee im Flüchtlingslager Schati in Gaza eröffnet, ist er dort kaum bekannt. Im noch ägyptisch besetzten Gazastreifen führt er eine kleine palästinensische Anhängergemeinschaft der ägyptischen Muslimbruderschaft an. Sie war 1928 von dem ägyptischen Lehrer Hassan al-Banna gegründet worden und hat die Re-Islamisierung der ägyptischen Gesellschaft zum Ziel. Über ihr Moscheenetz unterstützt sie die ärmere Bevölkerung mit kostenlosen Angeboten, die neben Koranunterricht auch medizinische Versorgung und Sportaktivitäten umfassen. Dieses System will Ahmad Jassin in den von Elend und Armut gezeichneten palästinensischen Flüchtlingslagern im Gazastreifen etablieren.

Der Gastautor

  • Der 1960 in Haifa geborene deutsche Historiker, Journalist und Autor Joseph Croitoru schreibt seit 1992 für die deutschsprachige Presse und den Rundfunk, unter anderem über den Nahostkonflikt, jüdische und islamische Geschichte sowie religiösen Fundamentalismus.
  • 2024 erschien bei C.H. Beck sein Buch „Die Hamas. Herrschaft über Gaza, Krieg gegen Israel“.
  • Croitoru erhielt 2021 den Friedenspreis der Geschwister Korn und Gerstenmann-Stiftung.

Die Chance dazu bekommt er, als Israel 1967 im Sechstagekrieg auch den Küstenstreifen besetzt. Dort trifft die Besatzungsarmee auf harten bewaffneten Widerstand säkularer palästinensischer Kampforganisationen, gegen die sie brutal vorgeht. Die Aktivitäten von Jassin und seinen Anhängern werden hingegen geduldet, weil von ihnen keine direkte Gefahr ausgeht. Auch wollen die Israelis die Islamisten als Gegenkraft zu den militanten Säkularen installieren.

So kann Ahmad Jassin seine Moschee zu einem „Islamischen Zentrum“ ausbauen, das bald über Zweigstellen in den anderen Flüchtlingslagern in Gaza verfügt. Obwohl er und seine Aktivisten ihre fundamentalistische Auslegung des Islam auch mit Gewalt in der Öffentlichkeit durchzusetzen beginnen, lassen die israelischen Besatzer sie gewähren. Doch nun geraten auch sie ins Visier der Islamisten, von deren Anschlagsplänen die Armee jedoch rechtzeitig Wind bekommt. Im Juni 1984 entdeckt sie in Jassins Haus ein Waffendepot, woraufhin er und seine Mitstreiter von einem israelischen Militärgericht wegen „terroristischer Aktivitäten“ zu langen Freiheitsstrafen verurteilt werden.

Oslo-Friedensabkommen ebnet Weg zur Gründung der palästinensischen Autonomiebehörde

Schon im Jahr darauf kommt Jassin aber bei einem Gefangenenaustausch frei. Als im Dezember 1987 die Intifada, die erste Volkserhebung der Palästinenser gegen die Besatzung, in Gaza ausbricht und auch auf die übrigen Palästinensergebiete übergreift, nutzen Jassins Muslimbrüder die Gunst der Stunde, um ihrer Bewegung auch einen nationalistischen Anstrich zu verleihen. Sie gründen „Die Islamische Widerstandsbewegung“, deren arabisches Akronym Hamas „Eifer“ bedeutet.

In klarer Konfrontation mit den säkularen Militanten aus den Reihen der „Palästinensischen Befreiungsorganisation“ (PLO) beansprucht die Hamas die Führung des Aufstands für sich. Anders als ihnen schwebt den Islamisten kein demokratischer palästinensischer Staat vor, sondern ein palästinensisch-islamischer, dessen Gründung die Abschaffung des „zionistischen Wesens“ (Israel) voraussetzt. Formuliert wird dies mit Dschihad-Parolen in der Gründungscharta der Hamas, die sie im August 1988 veröffentlicht. Die säkulare PLO wie auch Israel, das bis dahin jeglichen Dialog mit den Palästinensern ablehnt, erkennen die neue Gefahr. Nach einem Regierungswechsel in Israel kommt es unter Ministerpräsident Itzhak Rabin schnell zu einer Einigung mit PLO-Chef Jassir Arafat. Das 1993 beschlossene Oslo-Friedensabkommen ebnet den Weg zur Gründung der palästinensischen Autonomiebehörde. Sie übernimmt nach und nach Gebiete, aus denen sich Israel zurückzieht.

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Den Friedensprozess versucht die Hamas mit Selbstmordattentaten gegen israelische Zivilisten zu torpedieren, die in Israel ein Trauma auslösen und einen Rechtsruck bewirken. Im November 1995 wird Ministerpräsident Rabin von einem israelischen Rechtsextremisten ermordet. Rabins Arbeitspartei verliert 1996 die anschließende Wahl an die rechtsgerichtete Likud-Partei. Ihr Chef Benjamin Netanjahu lässt als Ministerpräsident nichts unversucht, um den Friedensprozess zu verzögern und wird 1999 abgewählt. Der kurzlebigen Regierung seines Amtsnachfolgers Ehud Barak von der Arbeitspartei gelingt eine erneute Einigung mit Jassir Arafat nicht. In den Palästinensergebieten wächst die Frustration über die israelische Politik, die den weiteren Ausbau der dortigen israelischen Siedlungen zulässt. Mit einem demonstrativen Besuch des Moscheenareals auf dem Tempelberg in Jerusalem gießt Likud-Chef Ariel Scharon im September 2000 gezielt Öl ins Feuer. Junge PLO-Aktivisten rufen daraufhin zu einem neuen Aufstand auf – die Al-Aqsa-Intifada bricht aus.

Hamas rüstet mit Hilfe Irans militärisch auf

Die Qassam-Brigaden der Hamas und ihre Verbündeten lassen erneut ihre Selbstmordattentäter nach Israel ausschwärmen. Ariel Scharon, den sein Tempelberg-Besuch ins Amt des Ministerpräsidenten mit katapultiert hat, schlägt mit aller Härte zurück. Er lässt Hamas-Kader töten, darunter 2004 auch den Hamas-Gründer Ahmad Jassin. Als Scharon aber im Sommer 2005 – ehe er im Januar 2006 infolge eines Schlaganfalls ins Koma fällt –, den Abzug Israels aus dem militärisch kaum noch haltbaren Gazastreifen veranlasst, feiert die Hamas den Rückzug als ihren eigenen Triumph. In den palästinensischen Parlamentswahlen 2006 gelingt ihr ein Erdrutschsieg. Mit der PLO verständigt sie sich zwar auf eine Einheitsregierung, aber Konflikte um die Machtverteilung eskalieren im Sommer 2007 in bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen den beiden Organisationen. Die Hamas reißt im Gazastreifen gewaltsam die Macht an sich, es kommt zur Spaltung und zur Bildung zweier miteinander verfeindeter palästinensischer Regierungen in Ramallah und in Gaza. Fortan beschießt die Hamas Israel regelmäßig mit Raketen, worauf die israelische Armee mit massiven Vergeltungsschlägen und der Abriegelung des Gazastreifens antwortet.

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Die Koordinaten dieses Konflikts ändern sich auch nach Benjamin Netanjahus erneuter Wahl zum Ministerpräsidenten im Jahr 2009 kaum. Als die Hamas beginnt, auch aus ihren Tunneln heraus israelische Stellungen zu überfallen, meint Israel mit dem Bau einer auch tief in den Boden reichenden High-Tech-Sperranlage die neue Gefahr zu bannen.

Unterdessen rüstet die Hamas mit militärischer Hilfe des Iran und finanzieller Unterstützung aus Katar immer weiter auf. Und als ihre Kämpfer und die mit ihnen verbündeten Milizen ab 2020 offen Militärübungen veranstalten, bei denen Angriffe auf israelische Stellungen simuliert werden, nimmt man das in Israel nicht ernst. Am 7. Oktober 2023 sind die Israelis deshalb auf einen flächendeckenden Bodenangriff gegen zehn Militärbasen und rund 30 Ortschaften im Grenzgebiet nicht vorbereitet. Mehr als 1170 Israelis, darunter rund 800 Zivilisten, werden getötet, 250 Geiseln nach Gaza verschleppt.

Bei dem erklärten Vernichtungskrieg gegen die Hamas nimmt die israelische Armee nur wenig Rücksicht auf die Zivilbevölkerung, mehr als 40 000 Menschen, darunter 27 000 Kinder und Frauen, sind inzwischen getötet worden. Die zivile Infrastruktur ihrer Herrschaft, die zahlreichen Behörden sowie hunderte Moscheen und Schulen, sind zwar zerstört, die Hamas gibt sich dennoch nicht geschlagen. Die jüngst erfolgte gezielte Tötung ihres politischen Führers Ismail Haniya in Teheran hat sie nur noch radikalisiert. Sein offizieller Nachfolger Yhaya Sinwar gilt als Hauptdrahtzieher des Terrorüberfalls vom 7. Oktober und als besonders enger Verbündeter des Iran. Teherans mit Sorge erwarteter Vergeltungsschlag gegen Israel könnte die gesamte Region entflammen.

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