Kino

Brasiliens Kino meldet sich zurück: Mascaros Dystopie „Das tiefste Blau“ begeistert

Gabriel Mascaro schickt in seiner Dystopie „Das tiefste Blau“, einem Mix aus Abenteuerfilm und Polit-Allegorie, eine brasilianische Seniorin auf eine transformative Amazonas-Reise.

Von 
Gebhard Hölzl
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Denise Weinberg als Tereza in "Das tiefste Blau". © Guillermo Garza/Desvia

Als Filmland kommt einem Brasilien nicht als allererstes in den Sinn. Vielmehr der Zuckerhut mit seiner Christusstatue, die Copacabana, der Strand von Rio de Janeiro, oder der Bossa Nova – siehe „The Girl From Ipanema“ – mit seiner heiß-coolen Mischung aus Samba und Jazz. Dabei war der Staat zu Beginn der 1980er-Jahre noch der fünftgrößte Absatzmarkt für Filme aus aller Welt – noch vor England, Frankreich und der damaligen Bundesrepublik Deutschland.

Cineasten begeisterten sich Ende der 1950er, Anfang der 1960er, für das „Cinema Novo“ (= „Neues Kino“), eine von jungen Regisseuren getragene Bewegung, die – vergleichbar mit dem „Neuen Deutschen Film“ oder der französischen „Nouvelle Vague“ – in Opposition zum vorherrschenden Kommerzkino stand. Die Muss-Filme jener Tage waren für Filmfreaks „Vidas secas – Nach Eden ist es weit“ von Nelson Pereira dos Santos und „Gott und Teufel im Lande der Sonne“ von Glauber Rocha, als langlebiger Publikumshit entpuppte sich die brasilianisch-französische Produktion „Orfeu Negro“ (1959), in der Marcel Camus den Mythos von Orpheus und Eurydike in den Karneval von Rio verlegt.

Nach dem Militärputsch 1964 verschlechterten sich die Bedingungen für unabhängige Filmemacher, Rocha ging 1971 ins Exil nach Portugal. Filmisch ist das Land seitdem eher ins Mittelmaß versunken, Telenovelas sorgen für leere Lichtspielhäuser, namhafte Regisseure wie Fernando Meirelles („Die Stadt der Blinden“) oder Walter Salles („Für immer hier“) arbeiten bevorzugt im Ausland. So bleibt einem nur, brasilianische Hoffnungsträger auf Filmfestivals zu entdecken.

Rodrigo Santoro - brasilianischer Exportschlager

  • Heimische Serienfans kennen Rodrigo Santoro dank seines Parts des Paolo aus der dritten Staffel von J.J. Abrams’ „Lost“, dem internationalen Publikum wurde er 2001 durch seine Hauptrolle in Walter Salles’ Historiendrama „Hinter der Sonne“ bekannt.
  • Rodrigo Junqueira dos Reis Santoro kam 1975 in Petrópolis zur Welt, besuchte das Colégio Aplicação und studierte an der katholischen Universität Rio de Janeiro (PUC) Marketing.
  • Über das Straßentheater kam er zur Schauspielerei , war 1993 in der brasilianischen Seifenoper „Olho no Olho“ erstmals auf dem Bildschirm zu bewundern. 2003 wirkte er erstmals in einer US-amerikanischen Produktion mit, dem TV-Film „The Roman Spring of Mrs. Stone“, im selben Jahr war er im Kino in „3 Engel für Charlie – Volle Power“ sowie im Weihnachts-Dauerbrenner „Tatsächlich.... Liebe“ zu sehen.
  • Weitere sehenswerte Auftritte absolvierte der Mime in „300“, Stephen Soderberghs „Che“-Zweiteiler, „Ben Hur“, dem Western „Jane Got a Gun“ oder den Serien „Westworld“ beziehungsweise „Wolf Pack“.
  • Er ist zudem als Synchronsprecher tätig, war in Brasilien etwa als „Stuart Little“zu hören, und warb mit Nicole Kidman für das Kult-Parfüm Chanel N° 5.
  • Rodrigo Santoro ist seit 2016 mit Kollegin Mel Fronckowiak verheiratet . Das Paar hat zwei Kinder . geh

Auf der Berlinale beispielsweise, wo der 1983 in Recife geborene Regisseur und Drehbuchautor Gabriel Mascaro 2019 mit „Divino Amor“ in der Panorama-Reihe erstmals zu Gast war. Über 50 Preise hat er bereits gewonnen, über 30 für sein Drama „Neon Bull“, das 2016 von der „New York Times“ in die Top-10-Liste der besten Filme des Jahres aufgenommen wurde. Drei weitere Auszeichnungen sind im Frühjahr an der Spree für seinen Wettbewerbsbeitrag „Das tiefste Blau“ hinzugekommen: der Große Preis der Jury in Form eines Silbernen Bären, der Preis der ökumenischen Jury sowie der Leserpreis der „Berliner Morgenpost“. Ein eher seltener Konsens zwischen Publikum und Kritik.

Dystopische Satire mit Science-Fiction-Elementen

In eine kleine Industriestadt im Amazonasgebiet führt die Handlung. Hier lebt die 77-jährige Tereza (Denise Weinberg). Eines Tages erhält sie die offizielle Anweisung der Regierung, in eine entlegene Seniorenkolonie umzuziehen. Mittels eines an ihre Haustür genagelten Lorbeerkranzes wird ihr dies mitgeteilt, zudem als „lebendes Nationalerbe“ mit einer Plakette für „ihr Alter“ belohnt.

In der Abgeschiedenheit sollen die Alten ihre letzten Jahre „genießen“, damit die junge Generation sich voll und ganz auf Produktivität und Wirtschaftswachstum konzentrieren kann. Doch die rüstige Seniorin widersetzt sich. Sie flieht, begibt sich auf eine Reise, die sie über Nebenflüsse tief hinein in den Dschungel führt. Einen letzten Wunsch will sie sich erfüllen, bevor man ihr die Freiheit raubt …

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Eine Dystopie. Eine Satire mit Science-Fiction-Elementen – etwa gläserne elektronische Bibeln –, angesiedelt in der nahen Zukunft. Ein Flugzeug kreist zu Filmbeginn am Himmel, ein Werbebanner zieht es hinter sich her. „Unser Land fliegt in die Zukunft“, steht darauf zu lesen. Aufbruch wird suggeriert. Fortschritt. Moderne. Die Stoßrichtung ist klar. Ein politischer Diskurs. Wir hier oben, ihr da unten … Es geht um Kapitalismus, Ausgrenzung, Macht, Manipulation, Freiheitsraub. Um korrupte Eliten, die Ausschaltung jeglicher Opposition. Ganz klar. Ein wenig verklausuliertes Werk über die Machenschaften des Ex-Präsidenten, Fallschirmjägers und Donald-Trump-Spießgesellen Jair Messias Bolsonaro, der soeben zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt worden ist.

Weinberg besticht als renitente Rentnerin, die farbsatten Bilder fangen die Landschaft perfekt ein

Auf ihrem transformativen Trip lernt Tereza unterschiedlichste Menschen kennen, die ihr – im Gegensatz zu ihrer Tochter, die ihr Vormund ist – helfen, sich zu verstecken. Darunter als zentrale Figuren der Schmuggler Cadu (Rodrigo Santoro), der ihr den bewusstseinserweiternden blauen Schleim einer Schnecke – siehe Titel – näher bringt, und die etwa gleichaltrige Roberta (Miriam Socarrás), die sich ihre Freiheit erkauft hat und mit ihrem Hausboot über den Amazonas schippert.

Episodisch setzt sich der Plot zusammen, in dessen Zentrum Weinberg als renitente Rentnerin besticht. Schön anzusehen sind die farbsatten Bilder von Kameramann Guillermo Garza („Moskito-Küste“), der die urwüchsige Landschaft perfekt einfängt. Etwas schade nur, dass sich Mascaro nicht wirklich zwischen Abenteuer-Unterhaltung und Polit-Allegorie entscheiden mag.

Freier Autor Gebhard Hölzl, Print-/TV-Journalist, Autor und Filmemacher.

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