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Warum es eine "fünfte Jahreszeit" braucht

Eine tiefe Sehnsucht nach dem temporären Anderssein steckt schon immer in den Menschen. Mit dem Karnevals-Fest ist eine Möglichkeit entstanden, die Rolle zu wechseln. Wie sich die Bräuche mit der Zeit entwickelt haben

Von 
Hans-Günter Fischer
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Schon im Mittelalter verkleideten sich zum Karneval die Menschen – um böse Geister zu vertreiben. Heute machen sie es eher zum Spaß. © ddp/Panama Pictures

Es geschah am Rosenmontag. Ausgerechnet. Noch dazu in Düsseldorf, schon damals ein zentraler Ort des Karnevals. Am Rosenmontag 1854 also musste man den Komponisten Robert Schumann aus dem Fluss ziehen. Er war von einer Rheinbrücke gesprungen, in der Absicht, sich zu töten. Schon seit Tagen hatte er in seinem Kopf eine bedrohliche Musik vernommen, die ihn immer mehr bedrängte.

Schumann, Inbegriff eines sensiblen Künstlers der romantischen Epoche, litt mit einiger Wahrscheinlichkeit an Syphilis, im Spätstadium greift diese Infektionskrankheit auch das Gehirn an. Aber Faschingsmuffel, die es immer schon genauso zahlreich gab wie Faschingsfans, könnten sich fragen, ob der Zeitpunkt des erwähnten Vorfalls wirklich nur ein Zufall war. Ob dieser Wahnsinnstat nicht doch eine geheime Wahrheit innewohnte: Wenn schon, dann am Rosenmontag.

Die Faschingszeit unterlag festen Regeln und Abläufen

Dabei gab es damals große Anstrengungen, den Kontrollverlust zur Faschingszeit wenn nicht ganz auszuschalten, dann doch zu begrenzen. 1823 wurde etwa in der alten Hochburg Köln ein Komitee gegründet, das die möglichst ordentliche Durchführung der Festlichkeiten sicherstellen sollte. Umzüge und sogenannte Prunksitzungen mussten fortan nach gewissen Regeln und präzisen Ablaufplänen stattfinden. Frohsinn in Reih und Glied, nach einem semimilitärisch strengen Regiment. Das Rheinland war jetzt schließlich preußisch. Daher auch die vielen Uniformen, Orden und gekrönten Prinzen bei den Faschings-Lustbarkeiten - die das Preußentum freilich vor allem karikierten.

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Eine offizielle Kabinettsorder von 1834 dürfte ebenfalls für Hohn und Spott gesorgt haben: Die wollte nämlich ernsthaft „leichtsinniges Geldausgeben“ für die „Abhaltung von Trinkgelagen“ eindämmen. Gar „rohe Lust“ bekämpfen. Um so bei der „einfachen“ Bevölkerung gegen die Schwächung der Moral zu wirken. Selbstverständlich nur mit allerbesten Absichten. Paternalistisch-fürsorglich war er gewiss, der Staat der Preußen.

Kirche und Staat sahen die Notwendigkeit einer "fünften Jahreszeit"

Aber sogar er begriff am Schluss, dass die Ventilfunktion der Fastnacht - oder eben auch des Faschings oder Karnevals - mit einem Zähneknirschen hinzunehmen war. Die Kirche tat es ebenfalls, mit einer frühen Ausnahme: Der Reformator Martin Luther gab die große Spaßbremse, die von den Gläubigen erwartete, dass sie an jedem Tag des ganzen langen Jahres gottgefällig leben sollten. Das war undurchführbar. Später sahen Staat und Kirche ein, dass eine „fünfte Jahreszeit“ gebraucht wurde: damit die Untertanen wenigstens die Monate davor unter Kontrolle blieben und gut funktionierten.

Erste Faschingstraditionen gab es offenbar schon in der Steinzeit: Höhlenmalereien, bis zu 30 000 Jahre alt, zeigen Maskierte - sie benutzten Tierfelle und Hörner. Sehr viel später feierten die alten Römer ihre „Saturnalien“, trugen dabei Spottgedichte vor und ließen ihre Sklaven Herren sein. Natürlich nur für ein paar Stunden.

Auch die vielleicht erste Form der „Weiberfastnacht“, die im Ritterepos „Parzival“ Wolframs von Eschenbach (etwa 1210 verfasst) beschrieben ist, war keineswegs von echten emanzipatorischen Motiven angetrieben. Wie die meisten „Weiberfastnachts“-Späße, manchmal noch in allerjüngster Zeit. Die Narrenfreiheit hatte eben immer ihre Grenzen, waren die auch nicht in jedem Einzelfall so eng gesteckt wie in der DDR von Erich Honecker, wo Büttenreden in der Regel bei der Stasi einzureichen waren. Wo sie auf Systemkonformität geprüft wurden.

Der Tourismus hat den Karneval in Venedig wieder aufleben lassen

Und dennoch gab und gibt es diese tiefe Sehnsucht nach dem temporären Anderssein, dem Ausbrechen aus dem beengten Alltagsleben und der Aufhebung sozialer Schranken. In Venedig war das Maskentragen daher teilweise auch außerhalb der Karnevalssaison erlaubt, wie unser aller Dichter Goethe auf seiner Italienreise 1786 staunend registrierte. Was auch einigen verarmten Adligen von Nutzen war, beim Betteln an der Straßenecke. Oder Glücksspielern zum Schutz vor ihren Gläubigern.

Sie kamen massenweise, denn Venedig war im 18. Jahrhundert bereits eine Art Las Vegas. Die Kostüme hatten einen Chic wie sonst in keiner Stadt Europas, etwa die „baùtta“, die aus einem schwarzen Seiden- oder Samtumhang bestand. Samt einer Maske, die ein Dreispitz krönte. Idealtypisch ist dieses gute Stück auf zahlreichen Gemälden Pietro Longhis überliefert, vielgerühmt für seine Genreszenen aus Venedig.

Ein bekannter Venezianer jener Zeit war auch Signore Casanova. Und als Federico Fellini diesem Profi-Liebhaber, gespielt von Donald Sutherland (häufig mit einem Stöhnen wegen permanentem Leistungsdruck), 200 Jahre später ein recht zwiespältiges Kino-Denkmal setzte, eingerahmt von der forcierten Künstlichkeit einer im Filmstudio kreierten Masken- und Kulissenwelt, verschaffte das dem Karneval in dieser Stadt ein ziemlich rauschendes Comeback.

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Ein kommerziell erfolgreiches gewiss - er ist zum guten Teil eine Geschäftsidee von findigen Hotelbetreibern. Doch die Venezianer sind ja Fremdherrschaft gewohnt, ob durch Franzosen, Österreicher oder eben jetzt durch Unmengen von Karnevals-Touristen - die der Stadt kaum minder zusetzen als die im Sommer einlaufenden Kreuzfahrtschiffe.

Wer an Maskenspiel und Mummenschanz noch eine eher ursprüngliche Freude finden möchte, wird die schwäbisch-alemannische Version goutieren. Und wenn es der Zufall will, kann man am Bodensee, in Überlingen, bei der Mittagspause auf der Fahrt zum Skiurlaub am Arlberg, das „Karbatschenschnellen“, ein in großer Gruppe zelebriertes Peitschenknallen, in sich aufnehmen. Eine gewaltige, latent bedrohliche Geräuschmusik. An diesem Tag der „Überlinger Fasnet“ ist zu hören, wie der Winter ausgetrieben und vom Platz geprügelt wird.

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