Ganz praktisch. „Doktor, geben Sie mir eine Spritze!“ oder „Bitte töten Sie mich!“ Viele hundert Mal bin ich so sehr, sehr konkret gefragt worden, ein Leben aktiv zu beenden. Wir haben stets ehrlich und offen über Wunsch und Möglichkeiten gesprochen, jetzt Schluss zu machen oder auch jetzt das Weiterleben erträglich zu gestalten. Vielleicht hatte ich Glück. Bislang musste ich nicht töten, weil für einen meiner Palliativ-Patienten sonst das Leben unerträglich geworden wäre.
Nun ein wenig theoretischer: Jeder darf nach seiner Façon selig werden. In Fragen der Ausgestaltung des menschlichen Lebens, auch in der Gestaltung des Endes, sind die philosophisch-ethischen Grundlagen wichtiger als die medizinischen Gründe. Denn körperliches Leiden ist fast immer linderbar.
Ich stehe jeder Förderung der Selbsttötung sehr kritisch gegenüber
Ich stehe jeder Förderung der Selbsttötung sehr kritisch gegenüber. Andere meinen, jeder sei so frei, dass er auch die Freiheit besitze, aus beliebigen Gründen auf seine bevorzugte Art aus dem Leben zu scheiden. Unsere Demokratie muss es aushalten, dass beide Positionen friedlich nebeneinander bestehen.
Sieben Erklärungen
Wir müssen es als Minderheit aushalten, dass eine Mehrheit festlegt, welche Position von der Gesellschaft normativ als richtig angesehen wird, und sei diese Position gegen die eigene noch so konträr. Worauf ich meine persönliche Haltung gründe, möchte ich in sieben kurzen Erklärungen erläutern.
1. Das Framing: „Nur Pferden gibt man einen Gnadenschuss?“ Sterbehilfe war vor Jahren der Begriff für die Versorgung und Begleitung schwerstkranker Menschen mit leidlindernden Maßnahmen. Also die Hilfe beim Sterben. Nach und nach kam es hier zu einer Begriffsverschiebung hin zu Maßnahmen, die den Tod durch aktives Zutun beschleunigen. Diese Euphemisierung dieser Tötungshilfe, denn nichts anderes geschieht hier als „beim Töten zu helfen“, ist naturgemäß gut geeignet, um die Akzeptanz in der Bevölkerung zu erhöhen. Blickt man in die Medien, seien es erdachte Geschichten rund ums Thema, von Wolfgang Liebeneiners exzellent gemachten und im doppelten Sinne schwarz-weißen-Kinomelodram „Ich klage an“ (1941) über Michael Hanekes Film „Liebe“ (2012) bis Ferdinand von Schirachs hochgelobten und vom FilmFernsehFonds Bayern mit 100 000 Euro geförderten Drama „Gott“ (2020), wird überall schwarz-weiß gedacht. Die guten, modernen „Sterbehelfer“ gegen uns böse, ewiggestrige Bedenkenträger.
Der normale Bürger, der im Thema nicht sattelfest zuhause ist, kann nicht unterscheiden zwischen den verschiedenen Arten der sogenannten „Sterbehilfe“. Und er kann auch kaum entscheiden, wann die medizinischen Möglichkeiten tatsächlich versagen, eine ausreichende Leidenslinderung herbeizuführen oder wann es in der Praxis so ist, dass die Möglichkeiten zwar bestünden, aber nicht verfügbar sind, weil die Rahmenbedingungen, die personelle Verfügbarkeit und anderes schlicht unzureichend sind. Dies ist nicht erst, aber insbesondere seit Beginn der Corona-Pandemie gerade in Pflegeeinrichtungen zunehmend der Fall.
Ich selbst plädiere deshalb dafür, diese Formen von „Sterbehilfe“ entweder in Anführungszeichen zu setzen oder lieber gleich den, die Handlung technisch korrekt beschreibenden Begriff „Tötungshilfe“ zu nutzen.
Ein Patient, der nicht mehr leben will, hat erst die freie Wahl, wenn er sich sicher sein kann, dass sein Leiden gelindert werden könnte
2. Die Moral: Ganz praktisch: „Zuerst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“ Berthold Brecht stellte hier eine gewagte Aussage in den Raum. Was hat sie mit dem Thema Tötungshilfe zu tun? Schon der schnelle Blick in Wikipedia hilft uns da weiter, denn „über ethische Fragen nachdenken kann man erst, wenn der Magen voll ist.“, so ist dort zu lesen.
Ein leidender Patient, der nicht mehr leben will, hat erst die freie Wahl, wenn er sich sicher sein kann, dass sein Leiden gelindert werden könnte. Nur dann kann er seine Entscheidung fällen: Für oder gegen das Leben. Patienten, die sich aus Angst vor Leiden das Leben nehmen wollen, wollen nach der Linderung weiterleben.
3. Der Einzelfall: Der damalige Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe hat es in „Und wenn ich nicht mehr leben möchte?“ 2015 auf den Punkt gebracht: „Und was die sogenannte ‚aktive Sterbehilfe’ angeht, da sage ich ganz klar: Ich will keine Ausnahme vom strafrechtlichen Verbot der Tötung auf Verlangen! Kann ich mir in meiner Fantasie Fälle ausmalen, wo eine solche Straftat im Extremfall begangen wird und dies doch nicht mit Gefängnisstrafe geahndet werden sollte? Ja, das kann ich. Hier wäre der Anwalt gefordert, nicht der Gesetzgeber. Ein schweres ethisches Dilemma lässt sich nicht im Wege der Gesetzgebung vorab lösen – ohne fatale Folgen für die Wertschätzung des Lebens.“
In ganz wenigen, für mich nachvollziehbaren drohenden Dilemma-Situationen habe ich meinen Patienten anstelle der erbetenen Beihilfe zur Selbsttötung zugesagt, im Notfall selbst Hand anzulegen und sie zu töten. Gott sei Dank kam es nicht dazu. Durch diese letzte Exit-Strategie taten sich immer andere, neue Lösungswege auf.
4. Der Regelfall: „Hard cases make bad law!“ (Schlimme Fälle machen schlechte Gesetze!) ist eine Grundregel der britischen Rechtslehre. In der Diskussion zur Tötungshilfe werden furchtbare und immer schlimmere Fälle konstruiert oder dokumentiert, um zu belegen, dass wir – auch – in Deutschland doch endlich eine gut organisierte und geschäftsmäßige Tötungshilfe brauchen. Leiden zu lindern, ist fast immer möglich. Das kann jeder erfahrene Anästhesist bestätigen. Auch aus meiner Sicht ist es undenkbar, aus sehr seltenen, sehr tragischen Einzelfällen Regeln formulieren zu wollen. Es kann nur schlimmer werden.
Der Gastautor
- Dr. Thomas Sitte, Jahrgang 1958, beschäftigt sich schon seit Schulzeiten mit Palliativversorgung, wesentlich geprägt durch seine Zeit als Krankenpflegehelfer.
- Später arbeitete er als Palliativmediziner für Kinder und Erwachsene, er ist Aktivist und Lobbyist.
- Sitte kämpft laut eigenen Angaben dafür, nicht nur regional, sondern auch national und international eine angemessene Versorgung aufzubauen.
- Für seine Arbeit ist er vielfach ausgezeichnet worden.
5. Das Bundesverwaltungsgericht fällte 2017 ein Urteil, das in sich rechtsdogmatisch sehr gut schlüssig war, aber vollkommen an der Wirklichkeit vorbei ging. Jeder entscheidungsfähige Deutsche habe das Recht auf Natriumpentobarbital zur Selbsttötung, wenn er unheilbar krank ist und medizinisch nicht linderbar schwerst leidend keine andere zumutbare Möglichkeit zur Selbsttötung hat. Was für ein Unfug. Der Alltag zeigt, dass es dutzende Wege gibt, sich schmerzfrei das Leben zu nehmen.
6. Das Bundesverfassungsgericht kippte am Aschermittwoch 2020 das auch von mir mit großem Engagement geforderte Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung – und zwar so radikal, wie es kaum ein Beteiligter erwartet hatte. Der Selbsttötung werden in Deutschland kaum Grenzen gesetzt. Das Recht auf Lebensbeendigung wird höher angesiedelt als jenes auf den Schutz der Schwachen.
Das Recht auf Lebensbeendigung wird höher angesiedelt als jenes auf den Schutz der Schwachen
7. Die Glaskugel: Aktuell kann ein jeder tun und lassen, was er will. Trotzdem bin ich gegen die aktuellen Gesetzesvorschläge fürs „sozialverträgliche Frühableben“. Es wird immer Streitfälle geben. Ich erwarte, dass es nach und nach dazu kommen wird, dass der Paragraf 216 des Strafgesetzbuches (Tötung auf Verlangen) aufgeweicht und schließlich ersetzt werden wird. Einen ersten fundamentalen Schritt dazu ging der Bundesgerichtshof bereits im vergangenen Jahr.
Folgen wir den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, dann muss konsequent gedacht in Deutschland in absehbarer Zeit die Tötung auf Verlangen geregelt umgesetzt werden. Aus meiner Sicht ist dies ein furchtbarer Ausblick, über den sich sicherlich streiten ließe. Das ist nur mein persönlicher Blick in die Glaskugel. Wer hier schließlich Recht behält, wird uns die Zukunft zeigen.
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