Modernes Leben

Leben in der Wagenburg

Iwona Gilarska hat die 50-Quadratmeter-Wohnung gegen einen alten, umfunktionierten Bus eingetauscht. Mit ihrer Kleinfamilie wohnt sie im Berliner Wagendorf Pankgräfin – so glücklich wie nie.

Von 
Dirk Engelhardt
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Iwona Gilarska in ihrem neuen Zuhause. Ihr Mann hat den Bus zu einem Wohnmobil umgebaut. © Engelhardt

Rollheimer, Wägler, Wagendörfler: So nennt man Menschen, die in mobilen Heimen wohnen, aber nicht auf dem Campingplatz. In Berlin gibt es zur Zeit zehn Wagendörfer, damit könnte man Berlin auch als Hauptstadt der Wagendörfer bezeichnen. Es gibt große Wagendörfer wie das an der Wuhlheide oder jenes an der Pankgrafenstraße, kleine wie das am Kinderbauernhof Kreuzberg oder an der Schillingbrücke. Doch die Brachflächen, die es nach dem Ende der DDR in Ost-Berlin zuhauf gab, schwinden zusehends, und so wird auch die Zahl der Wagendörfer kleiner. Die Optik der Wagendörfer der 1990er Jahre sorgte bei vielen Berlinern für Abneigung gegen diese alternative Lebensweise: Wagendörfer machten so manches Mal den Eindruck einer wilden Müllkippe, in der einige abgewrackte Wohnmobile oder Hänger herumstanden. Neugierige, die sich zu weit vorwagten, wurden angepöbelt und auch schon mal mit Steinen beworfen. 1993 kam es zu einer spektakulären Polizeiaktion, als die Wagenburg am Engelbecken mit 900 Polizisten gestürmt und aufgelöst wurde.

Plausch am Lagerfeuer

Natürlich ist ein Leben im Wagendorf ein alternativer Lebensentwurf, und oft ist eine politische Einstellung dahinter. Doch Rollheimer lassen sich kaum über einen Kamm scheren. In der Pankgräfin nördlich des Stadtteils Karow gibt es einen Bewohner, der Angestellter im öffentlichen Dienst ist und jeden Morgen mit dem Auto zur Arbeit fährt, aber auch junge Frauen, die bewusst keinem mit Geld entlohnten Job nachgehen. Die gebürtige Polin Iwona Gilarska wohnt seit einem halben Jahr in der Pankgräfin. Da der Platz gut versteckt außerhalb der Stadt liegt, kommen zufällige Besucher selten vorbei. Es ist leise, am Vormittag wirkt der Platz fast verlassen. Wie auf einem Campingplatz hat jeder seine Parzelle, die manchmal mit kleinen Hecken getrennt sind. Am schwarzen Brett in der Platzmitte werden die Hinweise zur Organisation ausgehängt, man kann auf dem Platz für ein paar Euro pro Nacht auch als Gast übernachten.

„Durch ihn bin ich erst auf dieses Leben gekommen“, sagt Gilarska. Und dabei deutet sie mit einem breiten Grinsen auf ihren Mann, David Cassel, der genauso entspannt wie sie auf einer Bank vor ihrem mobilen Zuhause sitzt. Das ist ein alter, englischer Bus, den Cassel zu einem Wohnmobil umgebaut hat. Seit Anfang des Jahres wurde er nicht mehr bewegt. Gilarska, die mindestens zehn Jahre jünger aussieht als sie tatsächlich ist (nämlich 45), arbeitet als Choreografin, Tanzlehrerin und Tänzerin. Sie studierte im polnischen Posen Contemporary Dance. Im Dorf arbeitet sie unbezahlt, sie gibt Unterricht in Contact Improvisation. Sie wurde immer dazu erzogen, etwas zu geben, sagt Iwona. Die Wagendorfgemeinde ist genau richtig für diese Lebenshaltung. Kleine Dinge im Alltag, wie das Lächeln, wenn man einem vorbeigehenden Nachbarn Hallo sagt, oder ein Plausch abends am Lagerfeuer – dies mache die Faszination ihres „neuen“ Lebens aus. Neu deswegen, weil sie bis vor einem Jahr immer in „normalen“ Wohnungen aus Beton gewohnt hat. Die beiden wollten ursprünglich nur ein paar Tage bleiben, doch dann gefiel der Platz ihnen so gut, dass sie sich Berlin als Standort für einen längeren Lebensabschnitt vorstellen konnten .

Otto Normalwohner würde wahrscheinlich Schwierigkeiten damit haben, dass die sanitären Verhältnisse mit warmer Dusche, sauberem Klo mit Wasserspülung, Waschmaschine und Geschirrspülmaschine nicht wie auf einem normalen Campingplatz aussehen. Improvisation und Verzicht gehören für Wagendorfbewohner dazu. Und eben das Leben mit wenig oder gar keiner Kohle. Und dass das Thermometer komfortable 22 Grad im tiefen Winter in einem altersschwachen Bauwagen mit Kohleofen anzeigt, ist eher die Ausnahme als die Regel.

Für Gilarska überwiegen jedoch klar die Vorteile. Bevor es nach Berlin kamen, lebte das Paar in Vancouver. Dort hätten sie allein für ihre Mini-Wohnung mit 50 Quadratmetern mehr als 2000 Dollar Miete gezahlt. „Wir sind Wirtschaftsflüchtlinge“, benennt es Gilarska ironisch. In Berlin würden sie mit 80 Prozent weniger Geld auskommen, 500 Euro pro Monat würden hier ausreichen. Zur Zeit suche sie einen „echten“ Job, um Geld zu verdienen. Dabei würde ihr das Netzwerk von Leuten, die sie in der Pankgräfin kennengelernt hat, enorm helfen.

Insgesamt wohnen im Dorf rund 150 Menschen. Verglichen mit anderen Berliner Wagenburgen, ist die Infrastruktur hier lobenswert: Es gibt eine beheizte, braune Rundhütte aus Lehm für Konferenzen, einen Platz für Events, wo Gilarska auch ihre Tanzkurse anbietet, einen Lagerfeuerplatz, eine Bibliothek, eine Kleiderkammer, einen Fußballplatz, einen Heilegarten, einen Naturkindergarten, eine Selbsthilfewerkstatt und einen Bandprobenraum. Gilarskas Tochter, sechs Jahre alt, geht zur Schule in Karow, nur 15 Minuten mit dem Fahrrad entfernt. „Wenn ich meine Tochter anschaue und sehe, wie sie hier barfuß mit ihren Freunden herumtollt, schmilzt mir mein Herz“, bekennt sie. Sie fühlt sich dann an ihre eigene Kindheit auf dem Dorf erinnert.

Ihr Mann hat hinter dem Bus eine Open-Air-Werkstatt eingerichtet, von Beruf ist er Veranstaltungstechniker. Mit viel Elan bereitete er das große Sommerfest des Wagendorfs vor, das Mitte September gefeiert wurde. Im Gegensatz zu anderen Wagendorfbewohnern hat das Paar eine Dusche und eine eigene Toilette. Das Duschwasser wird mit Solarenergie aufgeheizt, die Toilette ist eine Trockentoilette. Im Winter sorgt ein Ofen, der mit Holzpellets gefüttert wird, für Wärme. Es gibt ein großes Bett für die Eltern, und ein kleines ausziehbares Bett für die Tochter. Mit einem Vorhang kann sie sich etwas Privatspäre schaffen. Im Gegensatz zu ihrem Mann hat Gilarska vorher nie in Mobilheimen gewohnt. Sie ist begeistert von dem Lebensstil. „Man lebt inmitten der Natur, und jeder kann hier seinen eigenen Lebenstraum verwirklichen“, sagt sie. Recycling Art ist überall im Wagendorf zu sehen, gegenüber produziert ein Bewohner Möbel aus alten Holzpaletten. Gilarska mag es, engen Kontakt mit der Natur zu haben, sie baut vor dem Wagen etwas Gemüse an. Manchmal besucht sie Freunde in der „Stadt“. Sie mag Berlin und den freien Geist, der immer noch in der Stadt herrscht. Und ist doch jedesmal froh, wenn sie ihr „Busland“ und die Stille jenseits der Stadtgrenze erreicht.

Freier Autor Freier Journalist aus Berlin, Bereiche Reise, Gastronomie und Lifestyle

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